E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-446-24689-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikwissenschaft Allgemein Einzelne Komponisten und Musiker
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikwissenschaft Allgemein Musiktheorie, Musikästhetik, Kompositionslehre
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Geschichte der Musik Geschichte der Musik: Romantik (ca. 1830-1900)
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Geschichte der Musik Geschichte der Musik: Klassische Musik des 20./21. Jahrhunderts
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Wahrnehmung und Stille
Für Klaus Reichert »Wie erkennt man, was man nicht kennt?«, fragt Morton Feldman. So kann nur fragen, wer sich auf die Wahrnehmung des Ohres konzentriert und entdeckt, dass die Sinne uns verschiedene Geschichten über die Welt erzählen. Denn die Wahrnehmung des Auges suggeriert uns eine feste räumliche Welt, die scheinbar offen vor uns liegt. Das Hören dagegen verweist uns auf das Medium der Zeit. Es erlebt immer eine sich verändernde Welt; diese fließt von der Vergangenheit in die Zukunft, die uns verborgen ist. Wir müssen das Hören verstehen, um besser zu verstehen, was Musik ist. Man kann auch umgekehrt sagen: Durch Musik verstehen wir die Wahrnehmungsform des Hörens besser. Die aufprallende Wahrnehmung springt, als ein von uns oder unserer Umwelt produziertes aktuelles Ereignis, in unser Wachbewusstsein und hinterlässt gleichzeitig eine Spur im Gedächtnis. Da das Gedächtnis geneigt ist, diese Spur immer fortzusetzen und zu verlängern, bildet sich eine endlose Gedächtniskette, welche die sich in die offene Zukunft hinein ereignenden Geschehnisse wie ein Speicher des Vergangenen bewahrt. Wir müssen also den Zeitmodus der Zukunft dem unablässig sich ereignenden Lebensprozess zuordnen, und den Zeitmodus der Vergangenheit dem sich bildenden Gedächtnis. Stellen wir uns beide Prozesse räumlich vor, also eine nach rechts laufende Zeitachse für die Zukunft und eine nach links laufende für die Vergangenheit. Um sich der gegenläufigen Struktur der Zeit bewusst werden zu können, müsste die eine Achsenbewegung mit der andern in Kontakt sein, sich an ihr brechen. Wo ist aber der »Ort«, an dem das geschieht? Es müsste der Zeitmodus der Gegenwart sein, aber wie soll er zustande kommen? Beide Achsen fliehen ja unaufhaltsam auseinander, wie soll es möglich sein, auch nur einen einzigen festen Punkt mit ihrer Hilfe zu bestimmen? Mit anderen Worten: wo und wie bildet sich ein Gegenwarts-Bewusstsein, das uns ja erst befähigen würde, zwischen Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden? Hier sei ein Koan eingeschaltet, das in Ernst Schwarz’ Übersetzung des BI-YÄN-LU die Nummer 43 und den Titel »Dung-schans Ausweg aus Kälte und Hitze« trägt: »Ein Mönch fragte Dung-schan: Wenn Hitze und Kälte kommen, wie kann man ihnen entgehen? Dung-schan erwiderte: Wie wäre es damit, einen Ort aufzusuchen, wo es weder Hitze noch Kälte gibt? Wo aber findet sich so ein Ort, fragte der Mönch. Dort, wo Du in der Kälte erfrierst und in der Hitze vor Hitze umkommst, sagte der Meister.« Ordnen wir nun den Terminus »Hitze« dieses Koans dem in die Zukunft stürzenden Strom des heißen sich bildenden Lebens zu, und den Terminus »Kälte« der als Vergangenheit sich ablagernden erkaltenden Spur des Gedächtnisses, so gibt das Koan einen erstaunlichen Hinweis: der Ort, an dem man mit Hitze und Kälte auskömmlich leben kann, ist ein »Nicht-Ort«, ein Ort, an dem sowohl Zukunft wie Vergangenheit, sowohl sich neu bildendes wie sterbend sich ablagerndes Leben verschwinden. Hier ist der Ort des nichtgerichteten Bewusstseins, das das Zen erschließt; der Bereich des intentionslosen Hörens, das wir von John Cage lernen können; hier liegt der Raum mit dem Schaukelstuhl, den wir von Samuel Beckett kennen: der Schaukelstuhl pendelt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Zeitmodus der Gegenwart bildet sich unter den extremen Bedingungen eines mit Wille und Bewusstsein geschaffenen und mit Energie aufrecht erhaltenen »Zeitkreises« (unser Ausdruck »Konzentration« deutet auf einen solchen Kreis hin), innerhalb dessen sowohl die Gedächtnisschau auf das Gewordene wie der erwartende Blick des Bewusstseins auf das Kommende vollständig zum Stillstand gelangt sind; dass dieser Stillstand nicht nur metaphorisch, sondern auf nur durch die Erfahrung zu erkundende »existentielle« Weise etwas mit Sterben, Absterben zu tun hat, bringt der Wortlaut des Koans deutlich zum Ausdruck. Dieses »Sterben« erzeugt das reine Bewusstsein, das weder von der Erwartung des in die Zukunft treibenden Lebens noch von der Reflexion des bereits vergangenen gefärbt ist. Es verweilt in der Dauer des puren Gegenwärtigen und empfindet die Ruhe des »nunc stans« ohne ichbezogene Gefühle und Gedanken. Das Bewusstsein der Gegenwart, als die Mitte unseres Geistes, bildet sich also unter paradoxen, gegenstrebigen Verhaltensweisen. Gegenwart ist keineswegs ein Nichts an Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern vielmehr eine begrenzte Dauer, die wir durch einen Gewaltakt der unaufhörlich besinnungslos dahinströmenden Lebenszeit und ihrem ebenso besinnungslos in die Tiefe stürzenden Gedächtnis abringen. Um ein Ereignis, einen Ton oder eine Gestalt zu identifizieren, in ihrer Individualität zu erfassen, müssen wir sie in der Zeit dieser begrenzten Dauer festhalten – bevor wir sie, diesmal bewusst, wieder in den Strudel von Leben und Absterben entlassen. Voraussetzung dafür aber ist erst einmal, diesen Bereich der Dauer in uns zu bilden und zu stabilisieren. Wir verstehen plötzlich neu das Interesse aller Kulturen für Orte und Zeiten der Stille, der Abgeschiedenheit, der Sammlung. Hier wird die Grundlage dessen geschaffen, was für den Menschen »Wahrnehmung« und das Verhältnis zur eigenen Zeit bedeuten. Ein solcher geistiger Bezirk, in dem sich nicht die Individualität des Künstlers mit ihren Ideen und Gefühlen abdrückt, sondern die Zeit, der Raum, das Hier, das Jetzt, ist das Herzstück jeder Kunst. Die Kunst entstünde gerade dort, wo das Individuelle überwunden wird und das Anonyme beginnt, hat Fritz Wotruba formuliert. Etwas weniger rigoros gesagt: Erfassung und Darstellung der unendlich vielfältigen Differenzen der Phänomene sind überhaupt erst möglich auf Grund jenes scheinbaren »Nichts«, das im Zentrum des Bewusstseins festgehalten wird. Dieses Zentrum wird heute oft als »spirituell« bezeichnet – und mittels dieses Wortes schnell konventionell vereinnahmt oder schlichtweg verkitscht. Das darf nicht den Blick dafür trüben, dass es im Bereich der modernen Kunst von Anfang an, und heute wieder neu, ein besonderes Interesse für jenes Zentrum der Wahrnehmung gab und gibt, und für die seltsame Erfahrung, dass der Künstler gezwungen ist, seine Mittel zu reduzieren, wenn er sich diesem Zentrum nähern will. Treibt er diese Reduktion, unter den Bedingungen seiner eigenen unverwechselbaren Individualität, bis zu einem kritischen Punkt, so kann es passieren, dass er den Bereich dessen berührt, was das Wort »spirituell« in früheren Epochen meinte. Der Architekt Peter Zumthor schreibt: »Das Entscheidende ist schon, dass die ästhetische Erfahrung in der Nähe der spirituellen Erfahrung angesiedelt ist. Je mehr die Kirche als öffentlicher Ort an Bedeutung verloren hat, desto mehr hat das Museum an Bedeutung gewonnen. Das Museum ist heute einer der ganz wenigen Orte, an denen man noch spirituelle Erfahrungen machen kann.« Setzen wir an die Stelle des Wortes »Museum« das Wort »Konzertsaal« oder einen anderen künstlerischen Ort, so lässt sich Zumthors Bemerkung auf die gesamte moderne Kunst übertragen – wobei zu ergänzen ist, dass diese Gelegenheiten einer spirituellen Erfahrung angesichts der herrschenden Vorstellung von Kunst als ein intellektuelles Entertainment eher selten sind. Wie dem auch sei, der Künstler der Moderne kann mitten in seinem Metier jenes Zentrum des Geistes, wo die Gegenwart als Zeitmodus entspringt, neu entdecken, und seine daran orientierten Realisierungen können die Fundamente neuer künstlerischer Formen ausbilden, die eine sich immer mehr als »global« empfindende Menschheit ansprechen wollen. Öffnen sich hier neue Wege des Denkens, so könnte man versuchen, analog zu den drei Modi der Zeit drei verschiedene Aspekte der Wahrnehmung zu beschreiben – was im Folgenden wenigstens skizzenhaft versucht sei. Die erste Art des Wahrnehmens konzentriert sich auf die analytische Erfassung und Beschreibung aller strukturellen Eigenschaften eines definierten Feldes (bzw. eines ausgeformten Kunstwerks): Der Denkende steht dem von ihm ins Auge gefassten Phänomen wie ein Schmetterlingsforscher gegenüber, der das ehemals lebendige Wesen als Objekt seiner wissenschaftlichen Neugier aufspießt, katalogisiert und in seine sargartigen Aufbewahrungsorte ablegt. Die Wahrnehmung dieses Forschers wird auf die Erkennung charakteristischer Merkmale des gefangenen Exemplars, auf Farbe, Größe, Gestalt, auf die Bestimmung seiner Art, deren Platz in der Evolution usw. fokussiert sein. Auf ganz andere Aspekte bezieht sich eine zweite Art der Wahrnehmung, die man im Gegensatz zur eben gezeigten wissenschaftlichen als »poetische« bezeichnen müsste. Poiein heißt ja »schaffen«; so handelt es sich hier um ein genuin schöpferisches Denken, das die begegnenden Phänomene – seien es Schmetterlinge, Sinfonien oder Wortgebilde – nicht als perfekte Objekte betrachtet, sondern als lebendige Prozesse, und diese in subjektiver Aneignung quasi mit hervorbringt und verändert. Dies geschieht, indem es in den gleichen dynamischen Lebensstrom eintritt, in welchem das jeweilige Phänomen erscheint. Erst durch dieses Miterleben, die Voraussetzung jeder lebendigen Interpretation, wird auch ein tieferes Verstehen möglich, das die strukturellen Vorgänge als in einen Lebensprozess eingebettet erkennt. Die dritte Art der bewussten Wahrnehmung wird eins mit dem Phänomen, so wie ein guter Schauspieler eins mit seiner Rolle wird und wie ein konzentrierter musikalischer Interpret seinem Bewusstsein nicht erlaubt, auch nur um Haaresbreite abzuschweifen vom aktuell ablaufenden musikalischen Prozess. Es geht ihm weder...