Zeller | Die Reise nach Samosch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Zeller Die Reise nach Samosch

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-86913-601-1
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



1941 lernt die 16-jährige Erika ihre große Liebe kennen: Der Krieg hat den sanften und feinsinnigen Literaturliebhaber Hellmut Anschütz nach Fürstenwalde verschlagen. Doch bald wird der verheiratete Hellmut nach Zamosc in Polen versetzt, wo er innerlich zerbricht. Ihre Liebe bleibt unerfüllt und eröffnet einen Reigen der verpassten Chancen in einer aus den Fugen geratenen Welt.
Hellmut verlässt Frau und Sohn, heiratet wenig später erneut und sorgt liebevoll für seinen Adoptivsohn Hans, an dem er seine Taten wieder gutmachen will. Hans wird ein begnadeter Zeichner, der leibliche Sohn Hellmuts sein Galerist. Keiner der Beteiligten ahnt etwas vom Zusammenhang ihrer Lebensgeschichten. Erst der dritten Generation gelingt es, die eigenen Sehnsüchte zu erfüllen, aus dem Reigen auszuscheren und den Teufelskreis der Schuld zu durchbrechen: Der junge Schriftsteller Sebastian Anschütz reist nach Polen und kommt an - zwar nicht in Zamosc, aber bei seiner großen Liebe.
Aus fünf Lebensläufen entwirft Michael Zeller eine epische Welt, die Schicksalswege seiner Figuren folgen dem roten Faden der jüngeren Geschichte.
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Aber es kommt im Leben immer anders, als man denkt. Dieser Spruch sollte mir noch oft zum Verhängnis werden. Das Weihnachtsfest war kaum vorüber, da meldete sich das Arbeitsamt und forderte mich auf hinzukommen. Nichts Gutes ahnend, nahm ich gleich meinen Vater mit, der gerade Urlaub hatte. Man wollte mich sofort als Stabshelferin irgendwo einsetzen. Mein Vater, von dem Wort »Nachrichtenhelferin« unangenehm berührt, lehnte das sofort ab und setzte sich mit dem Leiter des Arbeitsamtes in Verbindung. Ich trug meine Wünsche in bezug auf die Schule vor und mußte zu meinem großen Schrecken von der Aussichtslosigkeit dieses Beginnens hören. Durch die neuerlichen Maßnahmen und durch die Einschränkungen der Studien in den Hochschulen wurde es mir unmöglich gemacht, zumal es nicht einmal ein kriegswichtiges Studium sein sollte. Allerdings gab man mir die Genehmigung – nach genauer Prüfung natürlich – zur Truppenbetreuung auf Frontbühnen, auf denen ich mein Talent verwerten könnte. Daran hatte ich noch nie gedacht, und es wurde mir vor Freude beinahe unheimlich bei dieser Aussicht. Aber ich hatte meine Rechnung ohne den Wirt gemach. Wollte mein Vater mich als Stabshelferin nicht verpflichten lassen, so gab er die Einwilligung zur Frontbühne schon gar nicht. Ich hatte mich zu fügen, so schwer es mir fiel. Es war ein harter Schlag für mich, daß alle meine heißen Wünsche nicht erfüllt werden sollten, ich ließ aber niemand merken, wie grenzenlos enttäuscht ich war. Ich weinte in der Nacht viel. Warum ging bei mir immer alles schief? Nach und nach drang dann, zuerst zaghaft, dann immer klarer die Erkenntnis durch, daß ich nur an persönliche Vorteile dachte, dem kämpfenden Deutschland in den Rücken fallen wollte. Warum verzichteten so viele junge Mädchen auf ihre Wunschträume und konnten jetzt arbeiten, sei es im Reichsarbeitsdienst, in der Rüstung, in der Landwirtschaft, im öffentlichen Verkehr, und warum wollte ich es nicht? Ich schämte mich plötzlich. Es war mir alles so gar nicht ins Bewußtsein getreten auf Nabern, das so wenig von dem Krieg spürte, wo es an nichts mangelte. Nun sah ich das Leben in Berlin und in der Umgebung, sah, wie alle Menschen schafften und kämpften für eine freie Zukunft, für unser aller Wohl, und da sollte ich mich ausschließen? Viel zu lange hatte ich schon gezögert, aber es sollte anders werden. Schon in den nächsten Tagen, nachdem meine freiwillige Meldung zum RAD unbeantwortet geblieben war, setzte ich mich mit dem Betriebsleiter eines Rüstungsbetriebes in der zehn Kilometer entfernten Stadt Storkow in Verbindung und wurde sofort kaufmännische Angestellte in der Lohnbuchhaltung, in der gerade dringend eine Kraft benötigt wurde. – Die Würfel waren gefallen. Ein neuer Lebensabschnitt begann. Wieder hatte ich neue Menschen um mich, die nun meine Arbeitskameraden werden sollten. Herr Thomas, der Leiter des Werkes, mein neuer Chef also, war äußerst freundlich, schien aber doch reichlich nervös. Dann die Damen des Büros: Frau Briesemick, jung, freundlich, sehr still, sie war nur noch kurze Zeit im Betrieb. Sie wurde bald nach meiner Einstellung entlassen. Frl. Karin, jetzt Frau Meise, machte auf mich gleich von Anfang an einen seltsamen Eindruck, sehr herb, sehr verschlossen, auch nicht sehr eng befreundet mit ihren Kolleginnen. Frau Marker, in meinem Alter, recht natürlich, aber ohne viel Geist. Dann Frl. Berwig, sie war ein Jahr älter als ich, schlank und zierlich wie ich, aber brünett, dunkle Hautfarbe, quicklebendig und doch auch geistig hochstehend. Zu ihr fühlte ich mich sofort hingezogen. Heute ist Moni neben Isa, von der ich später schreiben werde, meine beste und einzige Freundin. – Am 19.1.43 hatte ich meine Arbeit in der Firma Schwenke begonnen. Vor der nüchternen Büroarbeit hatte ich eigentlich immer schon ein geheimes Grauen, sie wird mich auch niemals ganz ausfüllen können. Aber sie war neu für mich, hier spielte sich alles in Zahlen und auf dem Papier ab. Schreiben, rechnen, buchen und wieder schreiben, rechnen und buchen, Löhne, Gehälter usw. Man war immer hilfsbereit und freundlich zu mir; aber das »im Zimmer sitzen müssen« ist mir sehr sehr schwer gefallen. Wenn dann noch draußen das herrlichste Wetter war, glaubte ich manchmal, es nicht mehr aushalten zu können. Aber was kann ein Mensch alles ertragen, wenn er den guten Willen hat, und der war da. So ging es nun tagein, tagaus. Ganz in der Frühe wurde ich mit dem Betriebsauto von zu Hause abgeholt und abends wieder zurückgebracht. Die Sonnabende und Sonntage gehörten mir. Ich fand mich in die Büroarbeit hinein, und ich gebe mir noch heute Mühe, all das zu schaffen, was von mir verlangt wird. Dadurch helfe ich ein klein wenig mit an den großen Aufgaben, die der Krieg uns stellt. Bis zum siegreichen Ende werde ich auf meinem Platz aushalten, auch wenn es nicht immer ganz leicht werden sollte. – Ich tue ja alles für Deutschland, für unser geliebtes Vaterland, in heißem Glauben an unsern Führer! 21. März 1944 Neue Blätter müßte ich anfangen, denn eine Zeit will ich ihnen anvertrauen, die immer zu der schönsten, die ich je in Rauen verlebte, gehören wird. Rauen – immer wieder Rauen bringt mir die glücklichsten Stunden, es hat mir aber auch die schwersten Stunden meines jungen Lebens gebracht. Wo wohnte ich schon, in der Neumark, in der Grenzmark, im Kreis Königsberg und in vielen anderen Gegenden, und immer wieder kam ich zurück in dies kleine märkische Dorf, das meine Kindheitstage und meine erste große Liebe birgt, die wohl immer in mir weiterleben wird, tief im Herzen eingeschlossen, wie etwas, das vor der Welt verborgen bleiben muß, wenn es nicht an Zartheit, Innigkeit und Schönheit verlieren soll. – Es war viel geschehen in all den Jahren mit mir, ich war anders geworden, hatte anders denken gelernt, lebte ganz in der Gegenwart, und doch lassen sich Erinnerungen nicht bannen, sie überfallen mich, sie beschwören Vergangenes herauf. Aber es ist seltsam, daß alle Erinnerungen, die kommen, zwei Eigenschaften haben. Sie sind immer voll Stille, das ist das Stärkste an ihnen, und selbst dann, wenn sie es nicht in dem Maße in Wahrheit waren, wirken sie so. Sie sind lautlose Erinnerungen, die zu mir sprechen mit Blicken und Gebärden, wortlos und schweigend, und ihr Schweigen ist das Erschütternde, das mich zwingt, meinen Kopf zu fassen, um mich nicht vergehen zu lassen in dieser Auflösung und Lockung, in der mein Körper sich ausbreiten und sanft zerfließen möchte zu den stillen Mächten hinter den Dingen. Die Stille ist die Ursache dafür, daß die Bilder des »früher« nicht so sehr Wünsche erwecken als Trauer – eine fassungslose Schwermut. Es war – aber es kehrt nicht wieder. Es ist eine Welt, die für mich vorüber ist. Aber Erinnerung steigt einmal wieder auf, dann ist sie eine Erscheinung, ein rätselhafter Widerschein, der mich heimsucht, den ich fürchte und ohne Hoffnung liebe. Sie ist stark; – aber sie ist unerreichbar, und ich weiß, sie ist vergeblich. – Und selbst wenn sie alles wiedergäbe, diese Landschaft meiner Jugend, ich würde wenig mit ihr anzufangen wissen. Die zarten und geheimen Kräfte, die von ihr zu mir gingen, können nicht wiedererstehen. Ich würde in ihr sein und in ihr untergehen. Ich würde mich erinnern und sie lieben und bewegt sein von ihrem Anblick. Aber sie ist es doch nicht mehr und kann es nicht wieder sein. Ich würde nicht mehr mit ihr verbunden sein, wie ich es war. Nicht die Erkenntnis ihrer Schönheit und ihrer Stimmung hat mich angezogen, sondern das Gemeinsame, dieses Gleichfühlen einer Brüderschaft mit den Dingen meines Seins. Denn ich war irgendwie immer zärtlich an sie verloren und hingegeben, und das Kleinste mündete immer in den Weg der Unendlichkeit. Vielleicht war es nur das Vorrecht meiner Jugend, das mich eins machte mit dem Verlauf der Tage. – Aber es ist unwahr behaupten zu wollen, man könne ein Mal in seinem Leben nur lieben – von ganzem Herzen lieben. Gewiß, die erste junge Liebe, die man einem anderen Menschen gibt, ist unwiederbringlich und wohl die geheimnisvollste und unberührteste. Aber birgt nicht erst die alles verschenkende, mit anderer Hingabe erfüllte Liebe das Leben, das eigentliche Leben selbst? Ist sie nicht das Größte, was es gibt? Ist sie nicht tiefstes menschliches Vertrauen und Glauben? Du, Erwin, lehrtest sie mich, ich danke dir dafür. Du tratest in mein Leben, Erwin, so wie ich es nie vorher erfahren hatte, mir fallen Worte ein, die ich einmal hörte und die sich mir tief einprägten: Sie sind wie der Strom, die Männer, sie strömen gewaltig durch unser Leben, und es ist an uns Frauen, dies ungehemmte Fluten in seine Bahnen zu lenken, wenn wir und alles mit uns nicht von ihm vernichtet werden wollen, wie das Land zur Hochwasserzeit. Wir müssen den Damm aufrichten, um die Erde mit ihrer Frucht zu bewahren und im rechten Maß den Segen...


Michael Zeller, 1944 in Breslau geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wuppertal. Bis 1984 war er Universitätsdozent für Literatur. Er wurde für sein vielgestaltiges literarisches Werk mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2008 mit dem 'Von-der-Heydt-Kulturpreis der Stadt Wuppertal'.


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