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E-Book, Deutsch, 212 Seiten

Zeh Lisboa


2. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7481-0679-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 212 Seiten

ISBN: 978-3-7481-0679-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Geschichte eines Ehebruchs, einer Scheidung, des gemeinsamen Sorgerechts; ständig der Streit mit der Ex, ständig Schuldgefühle und Unterhaltssorgen, tägliche Busfahrten und Terminnot, regelmäßige Therapiesitzungen und sonst alles, was den Alltag ausmacht: Lexikonartikel, Beipackzettel, Reiseführerpassagen, Zeitungsschlagzeilen. Und in all dem, unausrottbar, der Traum von Lisboa, von Lissabon, der portugiesischen Traumstadt am Atlantik...

Klaus Zeh, Jahrgang 1965, ist Schriftsteller und Musiker. Er lebt in Reutlingen. Sein erster Roman "Taxi" erschien 2015. Es folgten die Gedichtbände "Die Leichtigkeit des Windes" und "An Ufern aus Jade". Sein zweiter Roman "Mozart oder der Fall des Harlekins" erschien im Frühjahr 2018. Es folgte im Herbst mit "Pontoon oder wann immer ich hier sein werde" ein weiterer Gedichtband. "Lisboa" ist sein neuester Roman.

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110 zu 160. Bluthochdruck. Schon als Halbwüchsiger war ihm der Ausdruck geläufig. In der fünften Klasse gab es in der Parallelklasse einen Tony, der derart hyperaktiv war, dass alle ihn „Hyper-Tony“ nannten. Nachdem die Lehrerin erklärte, was Hypertonie bedeutet, wahrscheinlich um sie davon abzubringen, nannte die Klasse ihn erst recht so. Er bekam den Namen auch nie wieder los. Hypertonie: (gr.), chronisch stark erhöhter Blutdruck aufgrund von Gefäß-, Nieren- u.a. Krankheiten oder nervösen Spannungszuständen. Beim Vater der Kinder sind es eindeutig nervöse Spannungszustände. Was sollte es auch anderes sein, wenn die Ex-Frau täglich anruft und Vorhaltungen ins Telefon geifert, was für ein gewissenloser Mistkerl er doch sei. Nicht ganz in diesem Wortlaut, aber die Quintessenz dürfte darauf hinauslaufen. Er war und ist dem nervlich nicht gewachsen. Misanthrop (gr.), Menschenfeind. Weit einfacher, ein Misanthrop zu sein, als das Gegenteil. Wer kann sich schon guten Gewissens als Philanthropen bezeichnen? Ich nicht. Nie gekonnt. Auch nie gewollt. Wo ist der Unterschied? Gibt es eine Trennlinie zwischen „nie gekonnt“ und „nie gewollt“? Wenn ja, ist sie zu finden? Und würde es uns weiterhelfen, fänden wir sie? Oder ist gerade dies das Stück Hoffnung in all dem Chaos und verbrecherischen Sumpf dort draußen – die Menschenliebe? Es war die Klassenlehrerin, die Hyper-Tony retten, zumindest vor ihnen schützen wollte. Alles, was der Vater noch von ihr weiß: Sie war blond, hübsch, trug im Sommer zu kurze Röcke und roten Lippenstift. In Mitarbeit hatte er bei ihr die beste Note seines ganzen Schülerlebens. Kunststück, wenn sie ihn anlächelte, schien die Sonne im Klassenzimmer, obwohl das Klassenzimmer Richtung Norden lag und fünf Jahre lang eher einer Bahnhofshalle als einem Klassenzimmer glich. Wenn im Unterricht plötzlich die Tür aufflog, weil einer von der Toilette kam, flatterten allen vom Windstoß die Hefte vom Tisch. Nein, das war gelogen. Nur nicht, dass er in sie verliebt gewesen ist. Die Antwort: RAPIMIL-CT 5 mg. Enthält den Wirkstoff Rapimil. Dieser gehört zur Wirkstoffklasse der ACE-Hemmer. (ACE Angiotensin Converting Enzyme / Angiotensinkonversionsenzym). Aussehen: Rosafarbene, kapselförmige, nicht überzogene, flache Tablette, Größe 7,7 x 3,3 mm, mit einer Bruchkerbe auf einer Seite und den Seitenwänden und mit einer Prägung „R3“. Den letzten Tag ohne sie, als sie noch nicht seinen Blutdruck senkte, rannte der Vater durchs Zimmer wie der Panther in Rilkes Gedicht. Zum Schluss, gegen Abend, fiel ihm die Teetasse aus den zitternden Händen, die mit dem Dreifarbenemblem, zerbrach am Wasserhahn in genau sieben Teile und er wollte mit dem Kopf gegen die Wand rennen vor Schwindel, Übelkeit und verlorener Lebensfreude. Nur die Gewissheit eines neuen Schmerzes hielt ihn davon ab. Er hatte einmal ein Kind vor sich sitzen, ein Mädchen, das ihm erzählte, sie würde sich ritzen, weil der Schmerz der Schnitte sie von ihrem anderen Schmerz ablenken würde. Er fragte, welcher andere Schmerz, und sie weinte die verbleibende Zeit. Von den 48 Nebenwirkungen fiel eine dem Vater direkt ins Auge und erschreckte ihn noch mehr als etwa Verringerung der Anzahl roter Blutkörperchen, weißer Blutkörperchen oder Blutplättchen oder ein zu niedriger Hämoglobinwert bei Blutuntersuchungen. Oder Haarausfall. Oder depressive Stimmungslage, Angst, ungewöhnliche Nervosität oder Unruhe. Oder Schwächegefühl. Nicht einmal eine mögliche Brustvergrößerung bei Männern. Letztlich haben sich ein paar der Nebenwirkungen eingefunden, aber nicht die am meisten gefürchtete. Er saß wie gelähmt vor dem Mädchen, das meinte, sie dürfe nicht darüber reden. Auch das erst beim x-ten Besuch. Zuvor war nie etwas gewesen, wie sie mit gesenktem Blick versicherte. „Du kannst nicht deinen Arsch retten und gleichzeitig dein Gesicht wahren.“ Das hatte der Freund einmal gesagt. Seither denkt der Vater immer wieder einmal an diesen Spruch. Er hat nicht gewollt, was vor sieben Jahren passierte. Aber er will sich auch nicht mit Sprüchen aus der Affäre ziehen, wie solche, die nichts zu sagen wissen als: Ich bin da so hineingeschlittert ... es ist einfach passiert ... ich konnte nichts dagegen tun ... Affäre (frz.), Angelegenheit, Vorfall. Der Vater hat die Türe hinter sich zugezogen. Oben am Fenster standen die weinenden Mädchen. Er spürte es wie einen Riss im Herzen, der bis heute nicht heilt. Fick deine Mutter! Du Hurensohn! Schwanzlutscher! Pisser! Wichser! Deine Mutter ist eine Hure! Er hört es nur im Vorbeigehen, zum siebten oder achten Mal schon heute. Er hat keine Lust mehr stehen zu bleiben, zu erklären, zu ermahnen, zu erläutern, zu beschwichtigen, zu besänftigen, zu bestrafen. Man muss nicht bestrafen, meint M., man muss nur lieben. Angeber, denkt er, gibt ihm dennoch recht und hofft, der Arbeitstag möge endlich zu Ende gehen. Weshalb begeht man Ehebruch? Aus Liebe zu sich selbst? Aus mangelnder Liebe zu dem Anderen? Aus Einsamkeit? Weil die Liebe der Kinder alleine nicht mehr genügt? Weil alleine die Liebe zu den Kindern nicht mehr genügt? Weil die Vorhaltungen und Verletzungen durch die Betrogene ihr Übermaß erreicht haben? Wegen des Mindestmaßes an Sex in der Ehe? Wegen des Abenteuers? Aus Langeweile? Aus purer Lebenslust? Wegen des Verlustes der Liebe? Wegen der Sehnsucht nach ihr? 5.40 / 6.00 / 6.14 / 6.34 / 6.54 / 7.14 / 7.34 / 7.54 / 8.14 / 8.34 / 8.54 / 9.14 / 9.34 / 9.54 / 10.14 / 10.34 /10.54 / 11.14 / 11.34 / 11.54 / 12.14 / 12.34 / 12.54 und immer so weiter, bis 18.23 / 18.43 / 19.03 / 19.23 / 19.47 / 20.17 / 20.47 / 21.17 / 21.47 / 22.17 / 22.47 / 23.17 Manchmal wählt er andere Buszeiten, versucht, nicht immer zur gleichen Zeit zu fahren, kämpft so gegen den Alltag an, gegen die Routine. So trifft er nicht immer dieselben Leute im Bus, nur manchmal, und fragt sich, ob seine Methode auch von anderen angewendet wird. Er steigt aus dem Bus aus, lässt sich durch die Stadt treiben oder hetzt eben zur Schule, wenn er die knappe Verbindung gewählt hat, kommt sich dann vor, als hätte ihn etwas unerhört Wichtiges aufgehalten, vielleicht ein Rendezvous. Oder müsste er zeitgemäß nicht „Date“ sagen? Oder er stellt sich vor, er wäre an einen Unfall gekommen und habe dem Opfer beim Überleben geholfen. Eine Geschichte: Manchmal, wenn ich Bus fahre, sehe wie die Welt an mir vorüber gleitet, fühle ich, kein Teil von ihr zu sein. Es ist nicht wie Unzugehörigkeit oder ein Verstoßensein, eher betrachte ich etwas Fremdes und fühle mich fremd. Es ist auch der schiere Unwille, dazu gehören zu wollen. Vielleicht ist es auch nur die Unfähigkeit zur Anpassung. Ich höre Gesprächsfetzen, Worte, und will es nicht, versuche wegzuhören. Ich fliehe, träume Tagträume, drehe die Musik auf meinen Kopfhörern lauter, wünsche mich an jeden anderen Ort der Welt. Nein, nicht jeden, das wäre gelogen. Aber an viele andere. Ich denke daran, wie es wäre, einfach sitzen zu bleiben. Ich stelle mir vor, der Bus wäre ein Greyhound mit etwa eintausend Kilometern vor sich, oder mehr. Ich habe den Fensterplatz und sehe, wie die Welt, in die ich nicht gehöre, sich viele Male ändert, wie sie alle paar Stunden ein neues Gesicht bekommt. Es ist mir egal, denn ich kenne keines von allen. Wenn ich Häuser sehe, die mir gefallen, stelle ich mir vor, wie ich gerade in eines von ihnen meinen Schlüssel stecke, die Wohnungstüre öffne, meine Tasche in die Ecke werfe. Begrüßt mich jemand oder nicht, wie will ich es? Vielleicht lebe ich alleine, hier kann ich es, macht es mir sogar Freude. Ich treffe Freunde, echte Freunde, gehe aus, lerne Frauen kennen. Ebenso kann ich ganze Nachmittage und Nächte lesen und niemanden und nichts vermissen. Ich bin zufrieden mit mir, ich bin ich und ich. Ich liebe es, während der Busfahrten müde zu werden, zu dösen, vielleicht für Augenblicke einzunicken, Tagtraum und Traum nicht mehr unterscheiden zu können, nicht einmal mehr zu spüren, wie Grenzen sich auflösen. Ich liebe die ätherische Existenz in diesem Niemandsland. Die Entgrenzung. Den Abgrund. Das Hinabgleiten. Der Bus quält sich durch einen ansteigenden, lichten Wald. Die Sonne fällt schräg und blendend durch die Laubbäume. Ich schließe die Augen, Licht und Schatten jagen sich und wechseln hinter meinen geschlossenen Lidern im Sekundentakt. Farbexplosionen, ganze Kaleidoskope. Ich warte auf die Vorboten eines Minutenschlafes. Die Fahrt geht über einen Pass. Berge, schneebedeckt, darüber ein wolkenloser Himmel, azurblau, eine Sonne...



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