Was uns das Christentum heute noch sagen kann
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-641-31493-4
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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ZWEIFEL »Im Zweifel für den Zweifel« – so dichtet Dirk von Lowtzow, Sänger der deutschen Indie-Rock-Band Tocotronic in dem gleichnamigen Lied (zu finden auf der 2010 erschienenen Platte »Schall & Wahn«) und preist darin eine Haltung, die sich aller falschen Eindeutigkeit verweigert. Anstatt die Dinge einfach hinzunehmen, Meinungen und Parolen abzunicken, bricht er eine Lanze für das Zaudern, den Zorn und »die Pubertät«, wie er singt. Er beschwört (in diesem und in anderen Liedern der Band) den Trotz, die Verweigerung und überhaupt das Dagegen-Sein. Das eigene Zweifeln zu bejahen, gewissermaßen zu umarmen, dem Zweifel den Vorzug gegenüber allen vordergründigen Gewissheiten zu geben: Das ist eine paradoxe, heroische – und darin auch ein wenig lächerliche Geste. Der Zweifel ist ja kein Zustand, in dem sich (gut) leben ließe. Wer schon einmal Bekanntschaft mit ihm gemacht hat, die und der weiß: Er nervt; er nagt an einem; man will ihn, wenn man ihn hat, wieder loswerden. Der Zweifel drängt auf seine Überwindung. »Für« den Zweifel zu sein – wie man etwa für eine Fußballmannschaft oder die soziale Marktwirtschaft sein kann – ist ein Widerspruch in sich selbst. Aber gerade das Spiel mit diesem Widerspruch verleiht dem Lied »Im Zweifel für den Zweifel« seinen Witz. Der Zweifel wird von Dirk von Lowtzow zum künstlerischen und politischen Programm erhoben, zur Bastion gegen eine falsche und flache »Vereindeutigung der Welt«.1 Im Rückblick hat das etwas Prophetisches. Zehn Jahre nach dem Erscheinen des Liedes breitete sich das Corona-Virus aus, und der Zweifel wurde zu einer tagespolitisch bedeutsamen Größe. Auf der einen Seite standen die Anzweifler des pandemischen Geschehens, deren Spektrum bis hin zu den handfesten Corona-Leugnerinnen reichte. Auf der anderen Seite konnte man beobachten, wie ein Pathos der Entschlossenheit und des politischen Durchgreifens Elemente des Zweifelns und Zögerns, die ja wesentlich zum demokratischen Gespräch dazugehören, ins Abseits drängten. Wer schnell und entschlossen handeln muss, kann keine Zauderer brauchen. Aber ohne die Stimmen der notorischen Zweiflerinnen und Zauderer – auch das zeigte sich – werden allzu schnell falsche Eindeutigkeiten beschworen. Im Wort Zweifel steckt die Zahl 2. Wer zweifelt, sitzt zwischen (mindestens) zwei Stühlen. Dabei hat der Zweifel durchaus unterschiedliche Gesichter. Da wäre einmal der skeptische Zweifel zu nennen, den schon die alten Griechen kannten. Die Skepsis ist eine philosophische Position, die nicht mit letzten Antworten rechnet. Versuchten andere Philosophen durch die Welt der Erscheinungen hindurch auf letzte Gründe zu stoßen, in denen sie das Fundament allen Wissens zu finden hofften, erklärten die Skeptiker dieses Vorhaben für ein aussichtsloses Unterfangen. Skeptiker verstehen die Wirklichkeit nach dem Zwiebelprinzip: Die Suche nach Erkenntnis führt nicht zu einem festen Kern, der sich unter der Oberfläche des Wissens verbirgt, sondern stellt sich als ein endloses Abheben von Schichten dar, das niemals auf festen Grund stößt. Das Gegenstück dazu ist der methodische Zweifel, der sich philosophiegeschichtlich mit dem Namen von René Descartes verbindet. Descartes erhebt den Zweifel zum philosophischen Programm – und hat damit der modernen, auf der Bildung von Hypothesen aufbauenden Wissenschaft den Weg geebnet. Alles Wissen, das nur einen Hauch von Unsicherheit aufweist, will er nicht als solches gelten lassen. Daher mustert er unterschiedliche Erkenntnisquellen durch (wie etwa die körperlichen Sinne oder unser bildliches Vorstellungsvermögen), um zu sehen, ob sie uns unumstößliche Gewissheit vermitteln können. Als Ergebnis dieser Durchmusterung stellt er fest: All unsere vermeintlichen Gewissheiten sind anzweifelbar – selbst die Gewissheit, wach zu sein und sich nicht im Zustand eines Dauerschlafs zu befinden. Nur eine einzige Gewissheit ist allem Zweifel enthoben: dass ich mental aktiv bin bzw. denke, wenn ich auf solche Weise zweifle. So kommt Descartes zu seinem berühmten Satz: Ich denke, also bin ich (cogito ergo sum). Als letzte, unbezweifelbare Gewissheit erweist sich das denkende Ich. Descartes lebte zur Zeit des 30-jährigen Kriegs, der im 17. Jahrhundert in Europa wütete und ganze Landstriche verwüstete. Sein Streben nach letzten Gewissheiten ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Zweihundert Jahre später greift der dänische Philosoph und Literat Sören Kierkegaard das Thema noch einmal anders auf. Ihn interessiert der Zweifel vor allem dann, wenn er sich nicht auf äußere Dinge, sondern auf das eigene Selbst bezieht. Dieser existenzielle Zweifel verdichtet sich im Phänomen der Verzweiflung. Kierkegaard kennt zwei Formen davon: den Versuch, verzweifelt man selbst sein zu wollen – und den Versuch, verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen. Im ersten Fall jagt man einem Leben hinterher, das nicht das eigene ist. Im zweiten versucht man, vor dem eigenen Schicksal zu entfliehen, und lebt es gerade auf solche Weise aus. Die Pathologien der Verzweiflung, die Kierkegaard in seinem 1849 erschienenen Buch »Die Krankheit zum Tode« beschreibt, haben viel Ähnlichkeit mit dem Krankheitsbild der Depression. Erst in jüngster Zeit haben sich klinische Psychologen intensiv mit dem Phänomen des Grübelns beschäftigt, das nicht nur mit depressiven Verstimmungen einhergeht, sondern diese auch begünstigen und verstärken kann. Auch und gerade aus religionspsychologischer Sicht ist das ein interessanter Befund, der Fragen aufwirft, etwa: Neigen religiöse Geister besonders zum Grübeln? Wo ist die Grenze zwischen Tiefsinnigkeit und einem ergebnislosen und darin dysfunktionalen Wälzen von Sinnfragen? Wie sähe ein vom Grübeln befreiter Glaube aus? Das Thema des Zweifels bildet auch den Ausgangspunkt des Buches »Einführung in das Christentum«, das Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., im Jahr 1968 veröffentlicht hat. (Er war damals 41 Jahre alt und damit nur zwei Jahre älter als Dirk von Lowtzow bei Erscheinen von »Schall & Wahn«.) Ratzinger interessiert sich für den Zweifel als eine Grundhaltung, die heutige Menschen gegenüber den Lehren der Kirche haben. Typisch für die gegenwärtige Situation sei dabei, dass nicht nur einzelne überlieferte Dogmen – wie die Annahme, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde – bezweifelt werden. Als zweifelhaft erscheint vielmehr bereits der Anspruch der christlichen Religion, überhaupt etwas von Bedeutung, etwas Relevantes für die heutige Lebenssituation auszusagen. Der moderne Mensch steht gleichsam mit einem großen Fragezeichen im Kopf vor der Welt des kirchlich überlieferten Glaubens – wenn er zu dieser überhaupt noch Berührungspunkte hat. Zweifel, das bedeutet hier in der Tat eine Ent-Zwei-ung: Die überlieferten Wahrheiten des christlichen Glaubens und das profane Wirklichkeitsverständnis fallen in zwei mehr oder weniger unabhängig voneinander existierende Bereiche auseinander. Infolge dieser Entfremdung ist der Zweifel zum Normalfall in Sachen Kirche und Christentum geworden. Für Menschen, deren Weltbild durch empirische Wissenschaft, Forschung und Technik geprägt ist, klingen die Worte der überlieferten Glaubenstradition so, als würden sie von weither, wie aus einer anderen Zeit hinüberwehen. Ob sie überhaupt noch etwas bedeuten können und wenn ja was, ist offen. Ratzinger ist nicht der einzige Theologe, der sich mit dem Zweifel als Grundhaltung des modernen Menschen gegenüber der Welt der Religion auseinandergesetzt hat. Das Nachdenken über das Verhältnis, ja, das Ineinander von Glaube und Zweifel gehört vielmehr zu den zentralen Themen der Theologie des 20. Jahrhunderts. Auf evangelischer Seite sticht hier besonders Paul Tillich hervor. Tillich, der sich selbst als ein Denker auf der Grenze zwischen Philosophie und Religion begriff, versteht das Wesen des Zweifels dabei als in sich zutiefst paradox. Denn der Ernst des Zweifels ist Ausdruck einer existenziellen Wahrhaftigkeit. Wer ernsthaft zweifelt, erweist der Wahrheit Ehre – und leistet damit, wenn Gott selbst als die absolute Wahrheit angesehen wird, letztlich einen Gottesdienst. Das geht für Tillich so weit, dass sich hinter dem Zweifel an Gott eine noch tiefere Form des Glaubens verbergen kann. Eng damit verbunden entwirft Tillich in Analogie zu Luthers Lehre von der Rechtfertigung des Sünders eine Lehre von der Rechtfertigung des Zweiflers. Rechtfertigungsglaube bei Luther bedeutet: sich von Gott angenommen und als gerecht angesehen zu wissen, gerade im Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeiten. Vorausgesetzt ist hier, dass sich der Mensch am Ende aller Tage vor Gott als seinem Richter verantworten muss. Seine Rechtfertigung kommt einem unverdienten Freispruch gleich, der sich allein der Barmherzigkeit seines göttlichen Richters verdankt. Paul Tillich knüpft an diesen Vorstellungskomplex an, verleiht ihm aber einen modernen Anstrich. Denn nicht mehr das Bewusstsein ethisch-religiöser Schuld, sondern Erfahrungen der Sinnlosigkeit und Leere stehen im Zentrum des modernen Lebensgefühls. Das erfordert dann aber auch, die christliche Heilsbotschaft entsprechend neu auszurichten. Die religiöse Schlüsselfrage unserer Zeit lautet eben nicht mehr: »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?«, sondern: Wie kann der Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Daseins existenziell überwunden werden? Tillichs Antwort lautet: Nur durch den Akt eines existenziellen Mutes, genauer: durch den Akt einer Selbstbejahung...