E-Book, Deutsch, Band 10, 152 Seiten
Reihe: Wortlaut
Der FM4-Literaturwettbewerb. Die besten Texte
E-Book, Deutsch, Band 10, 152 Seiten
Reihe: Wortlaut
ISBN: 978-3-902373-85-4
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zita Bereuter, *1973 in Egg/Vorarlberg. Seit 2001 bei FM4, u. a. Leiterin des Literaturressorts, Organisatorin von Wortlaut und Betreiberin der FM4-Bücherei. Rezensiert für FM4 und Ö1
Autoren/Hrsg.
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[17]„etlichen (...) gehet, wann sie also under den andern im
gedreng auf dem wagen sitzen, die seel aus, ehe sein
die andern gewahr werden. KIRCHHOF mil. disc. 118“ Grimmsches Wörterbuch Das Bewerbungsverfahren läuft. Ich sitze auch nach Stunden noch mit geradem Rücken in dem Plastikschalenstuhl, der zwar ergonomisch gut entworfen, aber wohl für kleinere Leute gemacht ist. Die Beine habe ich, so weit wie es geht, angezogen. Die Füße sind unterhalb des Metallgestells übereinandergeschlagen. Haltung ist wichtig, denn ich darf auf keinen Fall den schmalen Durchgang zwischen den Sitzreihen durch meine Glieder einschränken. Immer wieder kommen verschieden große Gruppen von Mitarbeitern in einem undurchschaubaren, aber sinnvollen Rhythmus an uns vorbei. Sie tragen oft große, schwer aussehende Kartons mit aufwendigen Beschriftungen darauf. Manche tragen auch nur einen Brief, natürlich noch geschlossen und ganz ohne Beschriftung. Das will nichts heißen. Doch es wäre katastrophal, sie auf ihren Botengängen durch Dummheit oder unseriöses Verhalten zu behindern. Niemand kennt die noch vor ihnen liegenden Wege, doch allen ist die Wichtigkeit der betriebsinternen Kommunikation [18]bewusst. Jedenfalls kann ich mir nicht leisten, die empfohlene Körperhaltung im bewerbergerechten Plastik-schalenstuhl zu variieren. Denn ich stehe noch ganz am Anfang und weiß nichts. Mein Stuhlnachbar Max dagegen hat selbst einmal gesehen, wie ein Bewerber vor seinen Augen von der Personalabteilung eingestellt wurde. Die Bedeutung dieses Augenblicks ist ihm erst später klar geworden, damals war er ja noch ein Kind. Er hat mir schon oft erzählt, wie er dem Bewerber, der ja in diesem Augenblick auf unbegreifliche Weise schon ein Mitarbeiter war, hinterherrennen und gratulieren wollte. Leichtsinnig ist er auf die rote Linie, die den Wartebereich umgrenzt, zugelaufen, hätte sie, nicht auszudenken, einfach übertreten, wäre nicht seine Mutter, eine vo-rausschauende Frau, sofort bei ihm gewesen und hätte sie ihn nicht im Laufen noch vom Boden gehoben und zu den Warteplätzen zurückgetragen. Heute ist mein Mitbewerber Max ein vielgeprüfter Mann, der schon oft weiter war als ich, der schon unvorstellbare Prüfungen geschrieben, unglaubliche Gespräche geführt hat. Und der jetzt trotz allem im selben Wartebereich sitzt wie ich. Oft lachen wir beide darüber, lachen minutenlang. Er ist stark, sagt meine Mutter. Er kann noch lachen, aber er lacht lautlos. Sein langer, gebeugter Rücken zuckt heftig bei jedem Lacher und sein großer Kopf mit den schon lichten, wirren Locken geht dabei auf und ab, als würde er ni-cken, wie um sich selbst von der Komik seiner Situation zu überzeugen. [19]Heute ist ein guter Tag. Am frühen Morgen kam meine Mutter aus dem Fahrstuhl, ging vorsichtig in unseren Wartebereich und klopfte leise an meine Sitzschale, um mich zu wecken. Dann gab sie mir eilig ein kleines Päckchen, küsste mich auf die verschlafenen Augen und ging zurück zur Fahrstuhltür, um den Ab-wärtspfeil zu drücken. Es war Münzgeld, sorgfältig eingewickelt in Toilettenpapier, genug für zwei, drei Tage. Ich wartete bis Max erwacht war und dann gingen wir, als Erste von unserem Wartebereich, zu den in der Nacht frisch bestückten Snackautomaten. Die bis in die letzte Windung vollgepackten Spiralen glänzten in der gelben Automatenbeleuchtung. Im stillen, morgendlichen Gang hörte ich Max’ Magen laut grummeln und weil alles so verlockend aussah und die vielen Münzen schwer in meiner Hand lagen, gönnten wir uns zwei Packungen Haselnusswaffeln, eine Zwischendurchtüte Chips und zwei Päckchen Vanillemilch. Münze für Münze schob ich in den Schlitz, bis auf dem Bildschirm jene Summe erschien, die Max vorher berechnet hatte, alle Preise unseres reichhaltigen Frühstücks addiert. Dann tippte ich langsam die 26 ein, wobei Max und ich unwillkürlich „zwei, sechs“ laut mitsprachen, und die erste Packung Haselnusswaffeln wurde von der sich drehenden Spirale freigegeben und fiel polternd in den Spalt. Max hielt die schwere Klappe auf und ich griff hinein um die eckige Packung herauszuziehen, denn war man allein, klemmte man sich in der Klappe regelmäßig das Handgelenk ein. Bei unseren Sitzschalen [20]wieder angekommen, aßen wir langsam die Waffeln und tranken die Milch und waren bemüht, nicht zu laut mit den Tüten zu knistern und die krossen Waffeln nicht zu lautstark zu kauen, denn der ganze Wartebereich schien noch in tiefem Schlaf. Max schläft mittlerweile wieder. Das viele Schlafen hat er sich über die Jahre angewöhnt. Schlafen ist besser als warten, sagt er mir oft. Und wenn du aufgerufen wirst?, habe ich einmal gefragt. Bevor der Aufruf kommt, bin ich schon wach, irgendwann hat man das im Blut. Ich traue mich noch nicht zu schlafen während der Wartezeit. Auch die meisten der Mitbewerber in unserem Bereich sitzen aufrecht da, schauen ständig den Gang rauf und runter, als könne man einen wirklichen Aufruf durch Beobachtung der Betriebsvorgänge vorhersehen. Viele sind erst seit ein paar Wochen hier und die Euphorie, die eine Verlegung in einen neuen Wartebereich auslöst, wirkt noch nach. Dabei heißt eine Verlegung erstmal gar nichts. Es kann auch ein Zurückstufen statt eines Hochstufens bedeuten. Es soll ja schon Bewerber gegeben haben, die in einen der letzten Wartebereiche versetzt wurden, nur um dann abgelehnt zu werden. Eine Geschichte, um Kindern Angst zu machen. In den letzten Wartebereichen soll es keine Sitzschalen mehr geben, ja nicht einmal Teppichboden, stattdessen dient der Körper des Bewerbers als Sitz- und Schreibunterlage für Mitarbeiter. Wir alle lachen über diese Fantasien alberner Mitbewerber. Aber obwohl es niemand sagt, kann man es doch hören: [21]Es ist ein Lachen gegen die Angst. Denn wer weiß schon von diesen fernen Bereichen, wer könnte schon all die skurrilen Geschichten mit kühlen Fakten entkräften, egal wie unwahrscheinlich sie klingen mögen. Der Tag will wieder einmal nicht vergehen. Max schläft seelenruhig, meistens ist er innerhalb von 24 Stunden nur drei bis vier Stunden wach. Ich habe mich schon einmal bei ihm beschwert, dass ich mich ohne ihn langweile, aber er hat gelächelt und sagte, er könne keinesfalls länger wach bleiben, schon drei Stunden würden ihm wie eine Ewigkeit vorkommen. Ich sitze auf dem Teppichboden und fahre mit dem Finger die Spuren nach, die frühere Mitbewerber hier hinterlassen haben. Den Vormittag habe ich mit einem Bild verbracht, das dem Anschein nach ein Kind mithilfe von halb eingetrocknetem Kakao auf den Teppich gemalt hat. Es zeigt einen Mitarbeiter, der einen Haufen kleiner Bewerber von seiner übergroßen Hand purzeln lässt. Darunter steht in dicken Lettern, aus der weichen Füllung von blauen Hustenbonbons (Automatennummer 13) geformt: „Die große Ablehnung“. Das Bild mit dem grotesken Schriftzug befindet sich direkt unter meiner Sitzschale. Ich versuche, beides mithilfe von Cola (es ist ein teurer Tag) zu lösen und herauszureiben. Die blaue Hustenbonbonmasse klebt zwar fest in den Teppichfasern, doch löst sie sich langsam ab, wenn man nur genug Cola dazureibt. Aber die Kakaospuren bleiben. Ich werde weiter über „der großen Ablehnung“ sitzen müssen. Ich versuche, nicht weiter darüber nachzudenken. [22]Hey!, eine Mitbewerberin von der Sitzreihe gegenüber hat mich angestoßen. Ich schaue mich um. Gerade noch rechtzeitig sehe ich, wie eine Gruppe Mitarbeiter von den Automaten her auf uns zukommt. Sofort sitze ich wieder in meiner Sitzschale und ziehe die Beine an. Mit schnellen Schritten gehen sie zwischen den spitzen Knien der Bewerber hindurch. Die meisten tragen Unterlagen, doch einige, die beiden letzten, tragen gar nichts. Das habe ich noch nie gesehen. Wozu verlassen sie überhaupt ihr Büro? Was bedeutet das für uns? Und hat die eine Mitarbeiterin nicht leicht zu uns herabgeschielt? Wollen sie unser Warteverhalten überprüfen, ist da etwas zweifelhaft? Ist unser Warten verdächtig? Was sieht ein Mitarbeiter in der Sekunde des Vorbeigehens, alles könnte es sein und nichts, niemand weiß es. Vielleicht macht man sich auch gerade dadurch verdächtig, dass man vorbildlich kompakt in seinem Stuhl sitzt, als müsste man etwas verbergen. Meine Gedanken beginnen hektisch zu springen, ich überlege, Max zu wecken, der mich sicher beruhigen könnte, doch das wage ich nicht. Er ist ein alter Bewerber und hat kaum eine Hoffnung auf eine weitere Prüfung in seinem Leben, da sollte ich ihm wenigstens das qualvolle Warten ersparen. Aber was, wenn unser Verhalten während des Wartens einen Ausschlag für unsere Bewerbung gibt? Darüber darf ich mit niemandem reden, das ganze Leben in den Wartebereichen würde sofort zum Stillstand kommen. Alle würden in ihren Sitzschalen erstarren und das nur wegen dem Hirngespinst eines blauäugigen Jungbewerbers. [23]Aber was, wenn es stimmt? Wenn die Bewerbung nicht in Schritten erfolgt, sondern ein Prozess ist, wenn das Warten Teil einer ständigen Prüfungssituation ist? Ich versuche, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, lächle die Mitbewerberin, die mich gewarnt hat, dankbar an und nicke ihr zu. Plötzlich lacht sie und ich schaue mich erschrocken um, ob nicht noch ein Mitarbeiter in der Nähe ist, der sie hören könnte. Aber die Mitarbeiter sind schon unerklärlich weit entfernt, kaum sehe ich ihre wiegenden Schatten in der fernen Zuspitzung des Ganges. Sie lacht immer noch und ich sehe, wie jung sie ist. Oft sieht man Bewerberinnen während...