E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten
Reihe: Die Metal-Reihe
Metal-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten
Reihe: Die Metal-Reihe
ISBN: 978-3-7349-3008-9
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
9
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durchfluteten die weitläufigen Wiesen und Felder Schleswig-Holsteins. Eine Farbenpracht in Hellorange und Grün verdrängte die vorangegangene Finsternis, zart und kraftvoll zugleich, umschmeichelte die niedrigen Häuser und Höfe. Eine malerische Grundstimmung, wie im Intro von Metallicas »Fade to Black«: Nachdem eine E-Gitarre einen Achtelnotenaufgang über zwei Takte gespielt hatte, stimmte die akustische Gitarre das neue viertaktige Akkordschema an, das zur Hälfte aus Dur-Akkorden bestand. Konterkariert wurde diese Harmonie von einer Vielzahl unterschiedlichster Schnarchgeräusche, die aus den Mobilbehausungen drangen, jedes seinem eigenen Rhythmus und seiner eigenen Intonation folgend. Leises Staccato. Ein Crescendo, von pianissimo zu forte-fortissimo. Ein Glissando. Diese Kakofonie aus musikalischen Artikulationsarten in Rhonchopathie-Instrumentierung wurde wiederum von Klängen untermalt, die aus Dutzenden Boomboxen schallten. Entweder waren sie in alkoholischer Beseeltheit vergessen worden abzudrehen, oder die Morgenoffensive des angebrochenen akustischen Gefechtstages war bereits mit vollem Karacho angerollt. Grollendes Grindcore-Gegrowle von Napalm Death und Technical Death Metal von Chuck Schuldiners Death mischten sich mit herzerfrischend-fröhlichen Träller-Nummern Marke Bon Jovi und Co. zu einem sonderbaren Gesamtkunstwerk. Je nachdem, in welche Richtung man den Kopf drehte, änderte sich jäh der Sound: »Ooh, she’s a little« – »Spirit Crusher!«. Ansonsten herrschte jedoch andächtige Stille. Nur wenn sich der Bewohner eines Zelts von einer Seite auf die andere wälzte, erzitterte zuweilen das Sommeriglu. Bei anderen Behausungen wurde die Plane des Eingangs einen Spalt aufgezippt, damit die frische Morgenluft das tun konnte, was sonst nur Duftbäume zu erreichen imstande waren – jegliche Bouquets gelebten Lasters der vorangegangenen Nacht zu verdrängen. In zwei Zelten, gelegen zwischen den Fahnen von Motörhead und Iron Maiden, schien jedoch keinerlei Leben vorhanden zu sein … Ein Knäuel aus Gedanken, in sich selbst verwoben und getränkt mit all den Alkoholika, deren Verzehr man in der Nacht zuvor noch als großartige Idee gepriesen hatte, begann sich langsam zu entwirren. Lars schmerzte nicht nur der Kopf, seine ganze linke Körperhälfte tat ihm weh. Wo war er? Er rang sich ab, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen, nur so lange, bis er verstand, wo er sich befand. Neben ihm lag eine Luftmatratze. Dahinter seine Sporttasche. Er sah an sich herab: Sein knallbuntes Hawaiihemd stand ihm immer noch genauso gut wie am Vortag. Hose und Boxershorts ruhten fein säuberlich zusammengefaltet auf dem Fußteil der Luftmatratze. Hatte er das getan? Sein Handy schlummerte fachgerecht an die Powerbank angeschlossen ebenfalls auf der Luftmatratze. Lars schloss die Augen wieder, versuchte, den Ärger, den er über sich selbst empfand, hinunterzuschlucken. Kein Wunder, dass ihm alles wehtat. Im Gegensatz zu seinem Hab und Gut hatte er die Nacht auf dem harten Zeltboden verbracht. Chapeau! Er setzte sich auf, frisierte sich mit den Fingern die schwarzen Haare zu einem Seitenscheitel, bemüht, der Kurzatmigkeit entgegenzuwirken. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die jedoch genauso gut nur wenige Sekunden gedauert haben konnte, sah er auf seine Uhr. Kurz vor halb acht. Vor seinem Zelt vernahm er Schlurfgeräusche, die kamen und gingen. Irgendwo wummerte aus einer Boombox oder Ähnlichem etwas, was Metal-Connaisseure vermutlich als saugeile Mucke abfeiern würden. Lars kam es im Augenblick jedoch so vor, als würde ein Wahnsinniger gänzlich sinnbefreit auf ein paar blecherne Mülltonnen eindreschen. Untermalt wurde das Gehämmer von gutturalen Lauten, die jemand von sich gab, dem man vermutlich den Kehlkopf amputiert hatte. Armer Kerl. Aber zumindest waren all das Anzeichen von Leben, urteilte Lars, und zu den Lebenden wollte er wieder zurückkehren – den ganzen Tag in einem überhitzten Zelt dahinzuvegetieren war vermutlich noch elendiger, als sich nun aufzuraffen. Wie ein Bär nach dem Winterschlaf kroch Lars auf allen vieren aus seinem Zelt. Nur dass der Bär vermutlich bes ser roch. Er streckte den Kopf an die frische Morgenluft und versuchte, sich zu orientieren. Er schwankte zu Mikes Auto, unter dessen Heck einige Wasserflaschen lagen, öffnete eine von ihnen und ließ sich das sprudelnde Nass erst in den Mund und dann übers Gesicht laufen. Das weckte zumindest einige Lebensgeister in ihm. Lars winkte einem erschöpft aussehenden Metalhead. Mit seinen staubigen Militärstiefeln, dem Munitionsgurt um die Hüfte und einem schmutzigen Badehandtuch als Umhang sah er aus wie Captain Metal, der gerade von einem erfolgreichen Kampf gegen alles »Untrue« zurückkehrte. Auch einer jener Begriffe, die Lars vom gestrigen Abend mitgenommen hatte. »Untrue« oder auch der »False Metal« galten als Antagonisten des wohlfeilen Musikgeschmacks. Ihnen entgegen standen »true« Bands und Fans, die sich leidenschaftlich der Stilrichtung Heavy Metal oder Power Metal hingaben. Gänzlich kompromisslos, quasi. Oder mit einem Augenzwinkern gesagt: so viele Klischees wie nur irgend möglich bedienend. Das konnte man zelebrieren, musste man jedoch nicht. »Entschuldige«, krächzte Lars, der sich aus seinen Gedanken löste, bevor der Metal-Warrior außer Rufweite gelatscht war. »Frage: Wo gibt’s hier Duschen?« Der andere, scheinbar ebenfalls noch nicht nüchtern, stieß ein Lachen hervor, deutete mit dem rechten Daumen auf seinen Rücken und schlurfte wortlos von dannen. Lars blickte ihm nach, las, was auf dem Badetuch gedruckt stand: »Duschen ist kein Heavy Metal«. Die Ironie entlockte ihm ein breites Grinsen. Offenbar gab es noch einiges für ihn zu lernen, dachte sich Lars, im Speziellen, was genau Metal war und was nicht. Denn in seiner Vorstellung bezog sich ein Musikstil eben auf die Musik per se und sonst auf nichts. Hier wurde die Semantik jedoch augenscheinlich erweitert. Ob Schlagerfans ebenfalls attestieren würden, dass Duschen nicht Schlager sei? Vermutlich nicht. Punk definitiv schon. Lars zwängte sich aus seinen Gedanken, versuchte zu entscheiden, was es als Nächstes zu tun galt. Er wandte sich Mikes Zelt zu, vor dessen Eingang zwei Paar Schuhe standen – Mikes dunkelbraune Wanderschuhe und ein Paar schwarze Damenstiefel, die so engmaschig geschnürt waren, dass sie auf der Seite einen Reißverschluss spendiert bekommen hatten. Vermutlich, weil sonst die stiefeltragende Dame eine weitere Stunde brauchen würde, um ausgehfertig zu sein. Lars runzelte die Stirn. Warum wunderte er sich über den Verschlussmechanismus der Stiefel und nicht darüber, dass diese vor Mikes Zelt geparkt waren? Der Groll, den er gestern Nacht ob Mikes unangekündigtem Verschwinden gehegt hatte, war jedoch ebenso nicht mehr vorhanden wie die Erinnerung an die Umstände selbst. Lars hockte sich hin, räusperte sich aufdringlich laut und fügte einige zischende »Mike! Mike!«-Rufe hinzu. Irgendetwas im Zelt bewegte sich daraufhin. Surrend wurde der Reißverschluss des Eingangs halb aufgezogen, Mike streckte seinen Kopf heraus. Er sah so zerknautscht aus, als hätte jemand mit Springerstiefeln auf seinem Gesicht Pogo getanzt. »Moin, Sonnenschein!«, flötete Lars, bemüht, seine Restalkoholisierung zu überspielen. »Halb acht durch. Wie wär’s mit ’nem Frühstück?« Er grinste dämlich. »Von mir aus auch zu dritt?« »Leck mich.« Mike griff hinter sich, warf einen Campingkocher, ein Feuerzeug und eine Dose mit Fertiggericht hinaus. »Mahlzeit und tschüss.« Der Zip wurde von innen wieder zugezogen, dann herrschte Schicht im Schacht. Lars nahm die Dose in die Hand, las das Etikett. »Weinbeuschel. Lunge und Herz vom Schwein«. Ihn schauderte. Er legte die Dose zu Mikes Schuhen und murmelte ein »Der spinnt doch«. Danach machte er sich auf Richtung Festivalgelände, in der Hoffnung, dass ein herzhaftes Frühstück das flaue Gefühl in seinem Magen tilgen und ein frisch gebrühter Kaffee die sich anbahnenden Kopfschmerzen im Keim ersticken würden. Langsam begann sich das Wackinger Village zu bevölkern. Die Strapazen der letzten Nacht standen allen Festivalteilnehmern ins Gesicht geschrieben – sei es wegen zu wenig Schlaf, zu viel Hochprozentigem, zu unbequemen Schlafstätten oder einer Melange aus allen dreien. Auf einer Bierzeltbank sitzend verputzte Lars die letzten Bissen Rührei mit Brötchen und spülte das Ganze mit den Resten des schwarzen Kaffees hinunter, den er sich in einem XXL-Becher gegönnt hatte. Auf der Hütte hinter ihm flatterte bezeichnenderweise ein Banner mit der Aufschrift »Katerfrühstück«. Die kühle Morgenluft tat Lars gut, sie roch nach Sommer und Sonne. Er genoss es, die vielen unterschiedlichen Typen an Fans zu beobachten, von denen jeder einzelne uniform und doch absolut individuell und mit viel Liebe zum Detail gekleidet war. Das Wichtigste in der Metalszene, so viel hatte er ebenfalls gestern Abend schon gelernt, war das Bandshirt, das man trug. Wie ein lachsfarbener Pulli von Lacoste einen elitären Status kommunizieren sollte oder eine »zufällig« hervorblitzende Unterhose von Hugo Boss ein dickes Portemonnaie, so vermittelte auch ein Bandshirt dem...