Lehr- und Lernansätze für mehr Bildung
E-Book, Deutsch, 149 Seiten
ISBN: 978-3-17-043647-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2 Erziehender Unterricht mit Bildungsanspruch
Thomas Rucker 2.1 Schule pädagogisch denken
Die Rede von Schule kann in einem spezifischen Sinne als komplex bezeichnet werden. Schule wird aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben, ohne dass die Möglichkeit besteht, die Vielheit der Beschreibungen aufzulösen und Schule auf die allein ›richtige‹ Art und Weise in den Blick zu nehmen. Vielmehr kann festgehalten werden, dass die öffentliche Debatte über Schule selbst zu diesem Sachverhalt gehört: Schule ist in modernen Gesellschaften Thema einer öffentlichen Auseinandersetzung, die nicht stillgelegt werden kann (zum Begriff der Komplexität vgl. Rucker & Anhalt, 2017, S. 23?ff.). Dabei sind immer wieder auch Versuche zu verzeichnen, Schule pädagogisch in den Blick zu nehmen. Doch sollte dieser Umstand nicht zu der Annahme verleiten, dass in der Erziehungswissenschaft ein Konsens darüber ausgemacht werden könnte, wie Schule pädagogisch zu thematisieren bzw. woran überhaupt eine pädagogische Perspektive auf Schule erkennbar ist. In diesem Zusammenhang hat Ewald Terhart vorgeschlagen, dass eine pädagogische Perspektive auf Schule an der »Prämisse des zu achtenden und zu befördernden Eigenrechts« von Schüler*innen auf eine »eigenständige Durchdringung und Weiterführung von Lerngegenständen und Kultursachverhalten« ausgerichtet sei. Der »Erfolg von Schule« wäre entsprechend daran festzumachen, dass Schüler*innen sich »im Durchlauf durch die Schule von der Schule frei machen«, d.?h. sich von pädagogischer Sorge emanzipieren können (Terhart, 2017, S. 49; Hv. i.?O.). Schule in diesem Sinne pädagogisch zu bestimmen, verlangt u.?a. nach einer Allgemeinen Didaktik, in der eine Antwort auf die Frage offeriert wird, wie ein Unterricht bestimmt werden kann, der unter dem Anspruch steht, dass sich Schüler*innen ›im Durchlauf durch die Schule von der Schule frei machen‹ können. Die These, für die ich im Folgenden argumentieren werde, lautet, dass ein schulischer Unterricht, der dem besagten Anspruch Rechnung trägt, als erziehender Unterricht, genauer: als ein erziehender Unterricht mit Bildungsanspruch konzipiert werden sollte. Um diese These zu begründen, werde ich erziehenden Unterricht als einen die schulischen Fächer in spezifischer Hinsicht ›transzendierenden‹ Unterricht beschreiben. Ein solcher Unterricht verknüpft die Thematisierung fachlichen Wissens mit Fragen eines gelingenden Lebens und Zusammenlebens und zieht Heranwachsende darüber hinaus in eine Reflexion auf die Voraussetzungen hinein, auf denen ein spezifisches Wissen und spezifische Werturteile beruhen. 2.2. Der Anspruch der Bildung
Bildung – so die Ausgangsprämisse der folgenden Überlegungen – setzt damit an, dass Menschen an einer widerständigen Welt tätig sind und in diesem Zusammenhang Differenzerfahrungen erleiden. Bildung bedeutet nicht, entsprechende Differenzerfahrungen zu ignorieren. Vielmehr ist gemeint, dass Menschen die Widerständigkeit ›durcharbeiten‹, mit der sie sich konfrontiert sehen, und in diesem Durcharbeiten die eigene Position im Verhältnis zu sich selbst und zur Welt bestimmen. Der Entwurf eigener Positionen setzt Spielräume voraus, in denen sich Menschen zu sich selbst und zur Welt in ein Verhältnis setzen können. Diese Freiräume der eigenen Positionsbestimmung entstehen dadurch, dass Differenzerfahrungen Menschen gleichsam auf die eigenen Orientierungsmuster (Wissen, Können, Haltungen) zurückwerfen. So wenig von Bildung gesprochen werden kann, wenn Differenzerfahrungen ignoriert werden, so wenig wäre auch dann von Bildung zu sprechen, wenn Menschen vorgegebene Orientierungsmuster unbefragt übernehmen, um erlittene Irritationen zu beseitigen. Bildung bedeutet vielmehr, dass Menschen sich zu internen und externen Abhängigkeiten in ein Verhältnis setzen, eigene Urteile entwerfen und diesen im Handeln zu entsprechen suchen (vgl. Rucker, 2014, S. 61?ff., 149?ff.). Fasst man Bildung in diesem Sinne als einen Prozess der selbsttätigen Auseinandersetzung von Menschen mit einer widerständigen Welt, so ist Bildung weder als Anpassung an eine vorgegebene Ordnung noch als Widerstand gegenüber einer entsprechenden Ordnung sinnvoll beschreibbar. Unterricht als Ermöglichung von Bildung zu bestimmen bedeutet, Unterricht einem Anspruch zu unterstellen, dem diese Form des Miteinanderumgehens nicht notwendigerweise genügt (vgl. Rucker, 2020a, S. 54?ff.). Im Unterricht werden Schüler*innen grundsätzlich mit einem Wissen konfrontiert, das in einer Kultur als tradierungswürdig eingestuft wird, jedoch im alltäglichen Miteinanderumgehen von Menschen nicht vermittelt und angeeignet werden kann. Ein Unterricht, der Bildung zu initiieren und unterstützen sucht, kann nicht sinnvoll als Unterweisung bestimmt werden, d.?h. als eine Form des Miteinanderumgehens, in der die Geltungsansprüche, die mit einem bestimmten Wissen verknüpft sind, außer Frage stehen. Die Unterweisung ist darauf gerichtet, dass Schüler*innen sich ein (vermeintlich) zweifelsfrei feststehendes Wissen zu eigen machen, ohne sich zu diesem Wissen in ein Verhältnis zu setzen. Ein Unterricht unter Bildungsanspruch ist demgegenüber auf die Ermöglichung von sachlicher Einsicht gerichtet. Diese Ermöglichung schließt notwendigerweise mit ein, Schüler*innen in eine Prüfung von Geltungsansprüchen hineinzuziehen. Es geht in diesem Fall gerade nicht darum, dass Schüler*innen ein tradiertes Wissen in seinem Geltungsanspruch fraglos akzeptieren. Der Anspruch lautet vielmehr, dass Schüler*innen die Beschreibung eines Sachverhalts als gültig einsehen. Im Unterricht werden die Schüler*innen zur Vertiefung in und zur Besinnung auf bestimmte Inhalte veranlasst, um ihnen Einsicht in eine Sache zu ermöglichen, die in der Erwachsenengeneration als bedeutsam eingeschätzt wird. In der Auseinandersetzung mit einer Sache können Schüler*innen Erfahrungen des eigenen Nicht-Wissens machen. Das Durcharbeiten solcher Differenzerfahrungen ist nur vermittelt über ein Selber-Denken möglich – und erst wenn Schüler*innen sich der Aufgabe stellen, Differenzerfahrungen in diesem Sinne zu bearbeiten, besteht für sie auch die Möglichkeit, sachliche Einsicht zu gewinnen. Unterricht in diesem Sinne setzt damit an, dass Lehrer*innen eine Sache erst einmal fragwürdig machen, so dass Schüler*innen sich dazu angehalten sehen, sich mit einem Sachverhalt auseinanderzusetzen (1). Darüber hinaus regulieren Lehrer*innen die Vertiefung in und die Besinnung auf eine Sache – nicht, indem sie den Schüler*innen die richtigen Antworten vorgeben, sondern indem sie ihnen durch Frage- und Zeigeaktivitäten dabei helfen, die richtigen Antworten selbst zu entdecken, d.?h. Wissen in einem spezifischen Sinne selber denkend und urteilend ›hervorzubringen‹ (2). Schließlich kommt es aber auch darauf an, dass die Lehrer*innen nicht nur fragen und zeigen, sondern die Schüler*innen auch zu Antworten veranlassen, die daraufhin als der Ausgangspunkt für das weitere Miteinanderumgehen von Lehrer*innen und Schüler*innen fungieren, und die selbst wiederum Anlass für Differenzerfahrungen sein können (3). Entscheidend ist: Heranwachsende werden nicht in tradiertem Wissen unterwiesen, sondern in eine sachliche Auseinandersetzung verstrickt. Damit ist eine Durchsetzung von Geltungsansprüchen gleichsam ausgeschlossen, muss sich ein bestimmtes Wissen, das vermittelt und angeeignet werden soll, in der sachlichen Auseinandersetzung doch allererst darin bewähren, die Not des eigenen Nicht-Wissens zu wenden. Man könnte an dieser Stelle auch von einer Einladung an die Schüler*innen sprechen, tradiertes Wissen nicht unbefragt übernehmen zu müssen, sondern sich dieses so anzueignen, dass es als eine nicht sinnvoll bestreitbare Antwort auf eine Frage erkannt wird. 2.3 Erziehender Unterricht
Unterricht, der als Ermöglichung von Bildung begriffen wird, muss konsequenterweise als ein erziehender Unterricht konzipiert werden, in dem Schüler*innen sich nicht nur sachliche Einsichten aneignen, sondern auch die Möglichkeit erhalten, die Bedeutung des Gelernten für das eigene Leben im Umgang mit anderen zu erwägen (für die folgende Bestimmung des Grundgedankens eines erziehenden Unterrichts vgl. Rucker, 2021a, S. 34?ff.). Dies ist deshalb angezeigt, weil ein Unterricht mit Bildungsanspruch auf eine Freisetzung der Heranwachsenden für ein Handeln nach eigenem Urteil gerichtet ist, das Wissen, das im Unterricht vermittelt und angeeignet werden soll, als solches in seiner Bedeutung für die Lebensführung von Heranwachsenden jedoch indifferent ist. Soll es nicht dem Zufall überlassen bleiben, ob Schüler*innen angeeignetes Wissen auf die eigene Lebensführung beziehen, so folgt hieraus, dass die Frage nach der Bedeutung unterrichtlich vermittelten und angeeigneten Wissens selbst zum Thema des Unterrichts avancieren muss. Ein Unterricht mit...