Mikas Weg in den Himmel und darüber hinaus
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7412-6766-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ricarda Wullenkord wurde 1987 in Castrop Rauxel geboren. Noch während ihrer Schullaufbahn lernte sie ihren Mann kennen, mit dem sie 2015 ihren ersten Sohn bekam, welcher an Krebs erkrankte und nur 5 Monate alt wurde. Dieses Erlebnis inspirierte sie dazu, Autorin zu werden und andere Eltern in der gleichen Situation zu begleiten. Momentan wohnt sie in Porta Westfalica und promoviert in Psychologie.
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Verarbeitung
Eine Freundin, die auch Psychologin ist, hat immer gesagt, dass sie, wenn sie es erklären musste, als Beispiel für den Begriff Trauma immer das Bild von Eltern nutzte, die ihr Kind verlieren. Es ist eines der schlimmsten, vielleicht das schlimmste Trauma, das man erleben kann. Wie verarbeitet man den Tod des eigenen Kindes? Wie soll man überleben? Wie verarbeitet man es, das eigene Kind beim Sterben begleitet zu haben? Der Tod ist eine Grenzerfahrung. Immer. Aber das gilt ganz besonders, wenn es ein Kind ist, das den letzten Weg gehen muss. Wir sind nicht dafür gemacht, das zu verstehen. Wie soll man es also aushalten und wie soll man weitermachen? Ich habe keine wirkliche Antwort darauf. Ich glaube es gibt auch keine. Wir müssen unseren Weg selbst finden, jede und jeder für sich. Trauer ist unglaublich individuell und was für den Einen gut ist, kann für den Anderen sehr falsch sein. Ich habe immer und immer wieder mit der Verarbeitung gekämpft und ich denke ich werde für immer damit kämpfen. Ich habe meine Gedanken dazu aufgeschrieben, Gedanken an unser Kind und Gedanken an das Leben ‚danach‘. All die Schritte auf dem Weg mit der Trauer und durch die Trauer hindurch. Das ist meine Verarbeitung und ich wünsche mir, sie kann jemandem eine Hilfe sein. Erbe
Was ist das Erbe eines Kindes? Was hinterlässt so ein kleiner Mensch an Dingen, wenn das Leben so schrecklich kurz war? Du hattest keine Zeit, um weltlichen Besitz anzusammeln, kleiner Schmetterling. Du hattest keine Zeit, um viele Menschen kennenzulernen, Freundschaften zu schließen und zu „leben“. Materiell hinterlässt du nichts als deine Kleider und ein paar Spielzeuge, ein Bett, einen Autositz und einige Kleinigkeiten. Zwei, vielleicht drei Kartons voll. Aber dein Erbe ist größer, so viel größer als das. Du hast mir viel hinterlassen. Du hast mir Geduld geschenkt. Die Geduld, sagen zu können: Das ist jetzt gerade so. Warten wir ab, es wird anders werden. Du hast mir Mitgefühl geschenkt, noch viel mehr als zuvor. Du hast meine Fähigkeit verstärkt für und mit anderen zu lachen und zu weinen und an ihren Leben teilzuhaben, mit meinem ganzen Herzen. Du hast mir Offenheit geschenkt und Mut, die Möglichkeit, der Welt zu sagen: Das bin ich, mit all meinen Fehlern und Macken. Du hast mir Verständnis dafür geschenkt, dass Menschen manchmal so sind wie sie sind und dass jeder seine Geschichte im Gepäck hat und sich deshalb so verhält, wie er sich verhält. All diese Dinge habe ich im Kleinen schon vorher besessen, aber sie haben sich zigfach verstärkt durch dich. Du hast mir noch mehr als zuvor Bewusstheit für den Moment geschenkt und für den Wert, den die schöne Zeit mit unseren Liebsten hat. Man muss den Augenblick genießen, wenn er da ist. Und du hast diese Dinge nicht nur uns, sondern durch deinen Kampf auch Anderen hinterlassen. Und du hast uns Menschen geschenkt, die durch dich und deine Geschichte für uns da sind. Ich schrieb über die Gemeinschaft, und mit ihr kommt etwas ganz wichtiges: Du hast mir den Wunsch geschenkt, etwas davon zurückzugeben. Du hast mir den Willen geschenkt, für andere Menschen da zu sein, wenn sie traurig sind, egal, ob ich durch Familien- oder Freundschaftsbande mit ihnen verknüpft bin oder nicht. Ich weiß, wie es ist, wenn „Fremde“ da sind und einen stützen und ich weiß, wie wichtig es ist, wenn jemand sagt: Ich nehme Anteil. Ich bin mit dir traurig. Ich bin für dich da, egal, woher wir uns kennen. Wenn jemand einfach eine liebe Nachricht hinterlässt, weil er berührt ist. Ich wünsche mir, dass dieses Erbe wie ein Schneeball ist, der eine Lawine auslöst, oder wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, der zu einem Tornado anwachsen kann. Ich wünsche mir, dass aus deiner Geschichte Gutes entsteht. Es hat schon begonnen. Und ich wünsche mir, dass es größer wird, wächst und gedeiht, bis das Licht, das dadurch entsteht, heller ist als die Sonne. Du hast ein riesiges Erbe hinterlassen, mein Schmetterling. Nicht materiell. Aber in meinem Herzen. Im Herzen deines Schmetterlingspapas. Im Herzen deiner Familie und deiner Freunde und im Herzen all derer, die dich auf deinem Weg ein Stück begleitet haben oder uns noch auf unserem Weg begleiten. Auch ein kleiner Mensch kann sehr große Fußstapfen hinterlassen. Ich danke dir dafür. Nichts mehr
Nachdem deine Beerdigung vorbei war, war ich sehr, sehr traurig. Irgendwie war jetzt alles zu Ende. Ich habe deinen Schmetterlingspapa angesehen und gesagt: „Jetzt gibt es nichts mehr, was ich noch für ihn tun kann.“ Und es steckt ein bisschen Wahrheit darin. Ich kann dich nie wieder in den Arm nehmen. Nie wieder streicheln. Ich kann dich nie wieder küssen, stillen, in den Schlaf wiegen. Ich kann dich nie wieder beschützen. Nie wieder trösten und zum Lachen bringen. Aber es ist auch sehr falsch. Dein Schmetterlingspapa hat es mir gesagt und er hat Recht. Ich kann noch ganz viel für dich tun. Ich kann von dir erzählen. Ich kann deine Bilder und Videos zeigen und dafür sorgen, dass du nicht vergessen wirst. Ich kann jeden Tag mit Liebe in meinem Herzen an dich denken. Ich kann dir von schönen Dingen erzählen, die ich erlebe, und auch wenn du nicht mehr hier bei mir bist, kann ich dir trotzdem noch sagen, dass ich dich liebe. Und es gibt noch viel mehr, was ich tun kann. Ich kann für andere Schmetterlingseltern da sein und ihren Schmerz mit ihnen teilen. Ich kann sagen: Ich verstehe dich. Es wird nie wieder gut, aber es wird einfacher werden. Ein kleines bisschen einfacher. Ich kann dafür sorgen, dass aus deinem Tod etwas Gutes wächst. Ich kann dafür sorgen, dass andere Familien, denen es schlecht geht, etwas haben, um sich zu freuen. Ich kann all das in deinem Namen tun und ihn so in die Welt tragen. Ich kann dafür sorgen, dass es auf diese Weise nicht umsonst war. Ich kann deine Geschichte erzählen, wie tapfer und stark und duldsam du warst. Wie schön und wie wunderbar. Und vielleicht kann ich ihre Sicht auf die Welt ein bisschen verändern. Und ich kann Dinge tun, von denen ich weiß, dass sie dir gefallen hätten. Und wer weiß, vielleicht siehst du mir manchmal dabei zu. Und vielleicht freust du dich darüber. Ich kann für dich nicht aufgeben. Ich kann weitermachen für dich, stark bleiben und kämpfen. Ich kann versuchen, wieder glücklich zu sein, ein kleines bisschen. Und wir können kleine Brüder und Schwestern bekommen für dich und ihnen von dir erzählen. Eigentlich gibt es noch ganz viel, was ich für dich tun kann. All das sind Dinge, die nie aufhören. Dein Leben ist vielleicht zu Ende, aber das Band, das uns verbunden hat, endet nie. Und so lange ich lebe, werde ich für dich Dinge tun, im Großen und im Kleinen. Manche Aufgaben hören nie auf. Und diese gehört ganz sicher dazu. Dunkeltage
Es gibt diese Dunkeltage. Die schlimmen. Wo jeder Atemzug, jeder Herzschlag und jeder Schritt deinen Namen mit sich trägt und wie ein Messer ist. Heute ist so ein Tag. Wo alle Gedanken dich in sich tragen und schmerzhaft, unglaublich schmerzhaft sind. Ich sehe deine Bilder und es tut weh. Ich schaue deine Videos an und es tut weh. Ich sehe nach draußen, sehe, dass es schön ist und sonnig, aber alles tut nur weh. Weil ich es nicht mit dir erleben kann. Weil ich dich nicht bei mir haben kann. Weil du einfach weg bist und in meinem Herz ein Loch ist, das deine Form hat und das nie mehr heilen wird. Der Schmerz ist mein düsterer Begleiter. Ich begrüße ihn morgens wie einen alten Bekannten. Ich verabschiede mich abends von ihm für die Nacht. Denn im Schlaf bin ich verschont, die Nacht ist gnädig. Im Schlaf ist alles in Ordnung. Da kann ich bei dir sein, und du bei mir. Ich habe gelesen, der Schmerz ist der Preis der Liebe. Und er ist hoch. Es sollte mich nicht wundern, denn je mehr man jemanden liebt, desto mehr schmerzt es, wenn er nicht bei einem ist. Dennoch bin ich manchmal erstaunt, wie viel Schmerz wir aushalten können, ohne einfach zu sterben. Und immer die große Frage: Warum? Warum durftest du nicht leben? Warum musstest du schon so früh gehen? Warum? Ich wollte doch so viel mit dir machen. Wir wollten dich doch für immer bei uns haben. Für immer lieben. Warum? Womit hast du, haben wir, das verdient? Und alle Warums bleiben offen stehen, weil es auf sie keine Antwort gibt. Das Leben ist nicht fair. Das steht nicht im Vertrag. Das Leben ist manchmal beschissen willkürlich und unfair. Mit solchen Tagen wie dem heutigen müssen wir zu leben lernen, dein Schmetterlingspapa und ich. Wir müssen den Schmerz begrüßen als den alten Bekannten, der er ist. Ihn zulassen. Weinen, schreien. Warum fragen. Mit dem Schicksal hadern. Vermissen. Alles hassen manchmal. Und dann weitermachen. Für uns und für dich. Den Tag irgendwie rumkriegen. Denn morgen ist ein neuer Tag. Wir sind auf dem Weg zu dir. Unaufhaltsam. Jeder Tag bringt uns dir wieder ein Stück näher. Es ist unsere Verantwortung, wie wir unseren Weg zu dir gestalten. Wir können lethargisch werden und warten, bis es so weit ist. Oder wir können unseren Rücken strecken, unseren Kopf aufrichten, und wieder aufstehen. Unser düsterer Begleiter wird uns immer mal wieder niederstrecken, erwartet...