E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Wolffsohn Wir waren Glückskinder – trotz allem. Eine deutschjüdische Familiengeschichte
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-423-43884-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die berührende Familienbiografie des preisgekrönten Autors
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-423-43884-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Wolffsohn, geb. 1947 in Tel Aviv, stammt aus einer deutschjüdischen Familie, die 1939 nach Palästina floh und 1954 nach Deutschland zurückkehrte. Er war Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehruniversität München, veröffentlicht regelmäßig in nationalen und internationalen Medien und hat über 30 Bücher verfasst. 2017 wurde er als »Hochschullehrer des Jahres« ausgezeichnet, 2018 erhielt er den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis.
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Kapitel 1
Die Welt meiner Mutter:
Juden, Nazis, Katholiken
Die Rohrstock-Nonne als Judenfreundin
Vor fast einhundert Jahren ist meine Ima Thea geboren: im Jahr 1922, in Deutschland, in der wunderschönen Stadt Bamberg.
Thea Saalheimer und ihre Schwestern um 1930
Da, wo der herrliche Dom steht, in dem die damals meistens sehr frommen Bamberger mindestens jeden Sonntag beteten. Wenn sie nicht in der Kirche oder überhaupt nicht beteten, schimpfte der Pfarrer. Die Abwesenden und Nicht-Betenden hatten ein schlechtes Gewissen. Sie fragten sich ängstlich: »Stimmt es, was der Pfarrer sagt? Komme ich, wenn ich nicht bete, in die Hölle, zu den Teufeln, die mich packen, backen oder grillen?« Heute reden Pfarrer anders. Fast jeder weiß nämlich, dass keiner weiß, ob es eine Hölle oder den Teufel überhaupt gibt. Damals waren die meisten Bamberger sehr fromm, viel frommer als heute. Damals gingen fast alle katholischen Bamberger jeden Sonntag in die Kirche. Natürlich auch an Weihnachten – und das nicht nur an Heiligabend. Auch Ostern, Pfingsten und an den übrigen christlichen Festtagen waren Bambergs Kirchen rappelvoll. Nicht nur der Dom.
Einen Steinwurf vom Bamberger Dom entfernt, etwas unterhalb des Dombergs, ging meine Ima Thea zur Grundschule der Englischen Fräuleins. Die Englischen Fräuleins sind Nonnen, also unverheiratete katholische Frauen, die ihr Leben Gott widmen, nicht ihrer Familie. Sie leben im Kloster, beten viel und tun meistens viel Gutes.
Die Grundschule der Englischen Fräuleins in Bamberg. Heute heißt sie Maria-Ward-Schule.
Auch Schwester Martha Margarita, Theas Klassenlehrerin, war eine Nonne. Als Nonne war sie natürlich sehr, sehr fromm. Anders als viele andere strenge Katholiken glaubte sie aber nicht an den Vorwurf, den Christen lange gegen »die« Juden erhoben. Der Vorwurf besagte: »Die« Juden, also alle Juden, hätten den Gottessohn Jesus Christus getötet. Knapp zweitausend Jahre lang haben christliche Kirchen die Juden deshalb »Gottesmörder« genannt. Sie haben sie verfolgt und beschimpft.
Schwester Martha Margarita glaubte daran nicht und sie hatte auch nichts gegen jüdische Kinder. Sie mochte ihre Schüler, allerdings auf eine Art und Weise, die uns heute seltsam vorkommen würde. Sie war sehr, sehr streng. »Ruhe«, befahl sie (sie bat nicht), wenn ein Kind im Unterricht schwatzte. Thea war sehr geschwätzig. (Bitte nicht verraten: Auch ich war in der Schule ein Schwätzer.)
Wenn Thea nicht aufhörte zu reden, passierte Folgendes: Sie musste zu einer anderen Nonnen-Lehrerin in eine andere Klasse gehen. Zum Beispiel zu Schwester Benedicta. Sie klopfte an die Klassentür, »Herrrrrrein!«, befahl Schwester Benedicta und unterbrach den Unterricht, Thea machte einen Knicks. Früher machte jedes Mädchen bei der Begrüßung von Erwachsenen einen Knicks, heute lacht man darüber. Thea war aber nicht zum Lachen zumute. »Schwester Benedicta, ich war frech und habe im Unterricht geschwatzt. Schwester Martha Margarita muss mich deshalb bestrafen. Sie wird mir fünf Schläge auf die Hand geben, und dafür erbitte ich von Ihnen den Rohrstock.«
Heute ist Schlagen in der Schule verboten. Heute würde wohl jeder der Lehrerin eher sagen; »Bei Ihnen piept’s wohl.« Damals, noch vor Hitler und auch während seiner Zeit, war es nicht ungewöhnlich, dass Thea zu Schwester Benedicta sagte, ihre Lehrerin müsse sie bestrafen.
Ein Rohrstock ist ein kurzer Bambus-, also ein leichter Holzstock, mit dem man früher Kinder schlug. Thea bekam den Rohrstock von Schwester Benedicta, sagte artig »Danke«, ging zurück in ihre Klasse und übergab Schwester Martha Margarita den Rohrstock, die ihr fünf Tatzen verpasste. Thea musste dann den Rohrstock Schwester Benedicta zurückbringen und sich vor deren Schülern nochmals bedanken.
»Tatze«, wie die Tatze von Tieren, hieß diese Strafe. Bei den Jungen wurde der Rohrstock anders eingesetzt. Sie mussten ihre Hose bis zu den Knien runterziehen, sich bäuchlings aufs Lehrerpult legen, und dann machte ihr Popo Bekanntschaft mit der Härte des Rohrstocks.
Obwohl Schwester Martha Margarita so streng war und Judenkindern mit dem Rohrstock Tatzen verpasste, habe ich sie in der Überschrift als »Judenfreundin« bezeichnet. Warum?
Erstens hat Schwester Martha Margarita jüdischen ebenso wie nichtjüdischen Kindern Tatzen verpasst. Genau wie ihre nichtjüdischen Mitschüler bekam Thea die Schläge nicht, weil sie Jüdin war, sondern wenn sie den Unterricht gestört hatte. Bei den Nazis war das später ganz anders. Für die Nazis waren »die« Juden, also alle Juden, schuldig, egal, was sie taten und wie sie lebten, und zwar einfach deshalb, weil sie Juden waren. Man stelle sich umgekehrt vor: Ein deutsches Kind wäre schuldig, nur weil es zufällig in Deutschland geboren wurde!
Jetzt wird es noch komplizierter: Theas Schule war zwar sehr katholisch und streng, für die damalige Zeit aber zugleich auch sehr modern. An dieser Schule lernten nämlich Mädchen und Jungs zusammen. Das war damals nur in wenigen Schulen erlaubt. Meistens besuchten Jungs und Mädchen getrennte Schulen. Ungewöhnlich war an Ima Theas Schule außerdem Folgendes: Nicht nur Lehrerinnen, sondern auch die männlichen Lehrer durften die Mädchen unterrichten, und Lehrerinnen die Jungs.
Noch etwas für die damalige Zeit Neues gab es an Theas katholischer Schule: Auch evangelische Kinder durften auf diese katholische Schule. Vor hundert Jahren waren die meisten Menschen in Bamberg katholisch, und viele von ihnen fanden, dass evangelisch sein »richtig schlimm« war. Zwar mochten viele Katholiken damals auch keine Juden, sie trösteten sich aber, indem sie zu sich selbst sagten: »Auch unser Herr Jesus Christus war Jude.« Aber evangelisch, das fanden sie schlimm, denn die Evangelischen, so schimpften Bamberger Katholiken, »haben sich von unserer heiligen Katholischen Kirche getrennt, und das tut man nicht.«
Etwas Strafe gegen »die Evangelischen« müsse dennoch sein, meinten die Lehrer von Theas katholischer Grundschule. Deshalb beschlossen sie, dass evangelische Kinder nicht neben katholischen sitzen durften. Jüdische Kinder durften das, denn, so dachte Schwester Martha Margarita ebenso wie Theas Schuldirektorin: »Evangelisch ist schlimmer als jüdisch.«
Eine Freundschaft zwischen Juden und Katholiken?
Sie besuchten alle dieselbe Klasse, die Katholiken, Juden und Evangelischen. Zum Teil saßen sie sogar nebeneinander, doch wirklich zusammen waren sie nur von 8 Uhr früh bis 14 Uhr. Danach gingen sie getrennte Wege und blieben weitgehend unter sich. Luden sie sich zu Kindergeburtstagen ein? Ja, die Katholiken luden Katholiken ein, die Juden Juden, die Evangelischen Evangelische.
Thea fand das nicht nur blöd, sondern saublöd. Sie mochte Clara gerne, ihre Banknachbarin, die aus einer katholischen Familie stammte. Mit der verstand sie sich in der Schule bestens. In den Pausen standen sie meist zusammen, redeten oder blödelten. Nachmittags trafen sie sich aber nie. Bis zu Theas Geburtstag:
»Ich lade zu meinem Geburtstag die Clara ein«, verkündete Thea ein paar Tage vorher ihren Eltern. Gesagt, getan. Clara wurde zum Geburtstag eingeladen und sie kam. Sie war erkennbar gehemmt und eingeschüchtert und vieles schien ihr bei Saalheimers fremd, selbst die Sachen, die gar nicht so viel anders waren als bei ihr zu Hause. Der Kakao, zum Beispiel, schmeckte bei Theas jüdischer Familie genau wie bei den Katholiken. Kein Wunder, denn es war dieselbe Marke. Doch nein, meinte Clara plötzlich, er schmeckt anders. Irgendwie. Oma Gretls Kuchen schmeckte allerdings sogar besser als bei Claras Mutter, die ihre Kuchen meistens anbrennen ließ. Gretl konnte nämlich bayerische Spezialitäten backen und kochen, wie man sie sonst nur in den besten bayerischen Bäckereien und Gasthöfen bekam.
Zum Abendessen gab es eine regionale Spezialität: Fränkische Blauzipfel. Theas Lieblingsspeise, die auch Clara mochte. Dazu wurde Milch getrunken. Clara wunderte sich. »Blauzipfel sind doch aus Schweinefleisch.«
»Ja, und?«, fragte Thea.
»Ich dachte, Juden dürfen kein Schweinefleisch essen.«
»Wir sind Juden, die Schweinefleisch essen. Manche Juden essen es, andere tun es nicht. Jeder, wie er oder sie will.«
»Und was sagt euer Gott dazu?«
Clara wusste eine ganze Menge über das Judentum. Sie wusste zum Beispiel, dass Juden kein Schweinefleisch essen und dass sie nicht gleichzeitig Fleisch essen und Milch trinken dürfen. Egal, ob Schweinefleisch oder anderes Fleisch. Auf ihre Frage antwortete Thea: »Nur sehr fromme Juden essen kein Schweinefleisch. Die meisten tun es. Aber der liebe Gott ist ja kein Buchhalter, er führt darüber bestimmt keine Strichliste. Ihm ist wichtiger, dass wir anständige Menschen sind, egal ob mit oder ohne Schweinefleisch. Es ist ihm auch schnuppe, ob Fleisch und Milch zusammen verzehrt werden oder nicht.«
»Dann leben und essen und trinken die Juden ja wie wir Christen«, stellte Clara fest.
»Wir essen und leben und sind wie alle Menschen«, stellte Thea richtig. »Verschiedene Menschen haben verschiedene Gewohnheiten, verschiedene Juden haben verschiedene Gewohnheiten, und so ist es auch bei den Christen und überhaupt bei allen Menschen.«
Aber auch wenn Thea und ihre Familie eigentlich nicht anders lebten als Claras Familie – trotzdem, so bildete sich Clara ein, war es bei den Juden irgendwie anders. Irgendwie fühlte sie sich bei den Saalheimers fremd. Das...