Eine historische E-Only-Kurzgeschichte - (Prequel zu Fleury 3)
E-Book, Deutsch, 120 Seiten
ISBN: 978-3-641-18079-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Kapitel I Juli 1255 Balian hätte ihn mühelos töten können. Schon, wie der Angreifer das Schwert hielt. Den Arm zu weit ausgestreckt, die Klinge zu tief. Weder offensiv genug noch richtig verteidigungsbereit. Seine ganze Körperhaltung sagte: Ich will nicht kämpfen. Als er einen ungeschickten Sprung nach vorn machte, musste Balian nur zurückweichen, den Hieb parieren und mit seinem Schwert eine kreiselnde Bewegung ausführen, sodass sein Gegner gezwungen war, die Waffe fallen zu lassen. Hätte er seine Klinge nun schräg nach oben gezogen, wäre der Angreifer mit gespaltener Kehle ins feuchte Gras gesunken und verblutet. Niemand hätte ihn retten können. Und Balian würde wenig später am Galgen zappeln. Ganz davon abgesehen, dass Martin sein Freund war. Also verzichtete er auf den tödlichen Streich und versetzte seinem Gegner stattdessen mit der flachen Schwertseite einen Schlag auf den Oberarm. Als Martin aufheulte und die Hand auf die schmerzende Stelle presste, trat Balian ihm die Füße weg, sodass der junge Knochenhauer rückwärts in die Farne am Flussufer fiel und stöhnend liegen blieb. Ein Flößer, der alles gesehen hatte, lachte meckernd, während er sein Gefährt aus zusammengebundenen Baumstämmen zu den Anlegestegen am Viehmarkt stakte. Balian richtete die Schwertspitze auf Martins Adamsapfel. »Ich fürchte, du bist tot. Schon wieder.« »Ja, ja, schon kapiert«, murrte der Knochenhauer. »Nimm das Schwert weg, gottverdammt!« »Wenn du Gott lästerst, macht er ganz bestimmt keinen Kämpfer aus dir«, bemerkte Bénédicte, ein Steinmetzgeselle mit wuscheligem blonden Haar, der unter der Gerichtslinde saß und auf einem Halm kaute. Balian genoss den Sieg, doch er behielt seine Freude für sich. Es bereitete ihm kein Vergnügen, einen Verlierer zu demütigen. Er half Martin beim Aufstehen und reichte ihm seine Waffe. »Das war doch schon ganz gut«, log er. »War es nicht. Ich werde nie so gut sein wie du. Und wenn ich noch hundert Jahre übe.« »Nun ja, ich trainiere an den Waffen, seit ich sieben bin. Natürlich habe ich dir einiges voraus. Aber für einen Kerl, der gerade erst angefangen hat, bist du nicht schlecht. In ein paar Monaten kannst du es gewiss mit mir aufnehmen.« »Meinst du?«, fragte Martin zweifelnd. »Ganz bestimmt. Du darfst nur nicht aufgeben.« Sie setzten sich zu Bénédicte ins Gras und reichten den Schlauch mit dem Quellwasser herum. Obwohl früh am Morgen, war es bereits warm. Seit einigen Tagen lastete schwüle Hitze wie eine feuchte Decke über Varennes-Saint-Jacques und dem Moseltal. In den vergangenen Nächten hatten Balian, sein Bruder und die Hausbedienten im Warenkeller geschlafen, denn oben in den Wohnkammern war es kaum auszuhalten. Ganz zu schweigen von den Stechmücken, die einen unentwegt plagten. Balian spritzte sich das restliche Wasser ins Gesicht und genoss die kühlen Tropfen auf der Haut. »Ich bin verliebt«, verkündete Bénédicte. »Ach ja?« Balian grinste. »Wer ist diesmal die Glückliche?« »Ich weiß nicht, wie sie heißt. Die Rothaarige, die immer am Salztor herumsteht.« »Das ist Rebekka«, sagte Martin. »Du kennst sie?« Bénédicte beugte sich vor. »Kannst du mich ihr vorstellen?« »Sie ist Jüdin, du Dummkopf. Wenn man dich mit ihr sieht, stecken sie dich schneller in den Hungerturm, als du dein Ding einpacken kannst.« »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie keine Jüdin ist«, meinte Bénédicte. »Natürlich ist sie eine. Rebekka – so heißt keine Christin. Außerdem bist du gar nicht richtig in sie verliebt.« »Oh, das glaube ich schon«, widersprach Balian. »Zumindest liebt er Teile von ihr.« Mit den Händen deutete er zwei pralle Brüste an, und seine Freunde brachen in Gelächter aus. Raue Kampfspiele, freundschaftliche Neckereien, Gespräche über Mädchen, das war Balians Welt. Bei Martin und Bénédicte und den anderen Handwerksburschen fühlte er sich wohl. Michels Freunde hingegen, die jungen Patrizier und Kaufleute, die ihn belächelten und als lästiges Anhängsel seines Bruders betrachteten – sie konnten ihm gestohlen bleiben. Er federte hoch und zückte sein Schwert. Die Klinge beschrieb eine auf der Seite liegende Acht, als er sie durch die Luft pfeifen ließ. »Noch eine Runde?« »Ich hab genug für heute«, erklärte Martin verdrießlich und betastete seinen Arm, auf dem ein prächtiger Bluterguss erblühte. »Dann lasst uns schwimmen gehen. Einmal durch den Fluss und wieder zurück. Der Langsamste gibt den anderen einen aus.« Bénédicte schüttelte den Kopf. »Ich muss allmählich zurück.« »Ich auch«, sagte Martin. »Der Meister wartet gewiss schon auf mich.« Balian ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. In der Stadt warteten auch auf ihn Pflichten, die er gern noch eine Weile vor sich hergeschoben hätte. Doch er wollte keinen Ärger mit Michel – nicht schon wieder –, also folgte er Martin und Bénédicte lustlos über den Viehmarkt. Sie hatten Varennes im Morgengrauen verlassen, damit sie sich an den Waffen üben konnten, bevor es zu warm wurde. Inzwischen war die Sonne aufgegangen und schimmerte über den dunstigen Hügeln wie ein frisch geschlagener Silberpfennig. Auf den Feldern brachten Bauern das Heu ein und tränkten das Vieh. Ein Trupp Tagelöhner schlurfte mit geschulterten Schaufeln und Hacken die alte Römerstraße entlang. Die Männer würden den ganzen Tag Erdwälle für die neue Landwehr aufschütten, draußen bei der Richtstätte, wo es weit und breit keinen Schatten gab. Die armen Teufel taten Balian leid. Varennes war längst erwacht und summte vor Geschäftigkeit. »Verdammt«, murmelte Martin und ging schneller. »Der Meister wird mir die Ohren lang ziehen.« Bénédicte hingegen schlenderte gelassen über die Wiese und pfiff durch die Zähne, als er die Mädchen vor dem städtischen Hurenhaus erblickte. Die jungen Dirnen, eine schöner als die andere, holten gerade Wasser vom Brunnen, ließen dabei aufreizend die Hüften schwingen und füllten kichernd einen Waschzuber. Am Salztor herrschte das übliche Gedränge aus Händlern, die auf den Märkten ihre Waren verkaufen wollten und die prüfenden Blicke des Zöllners über sich ergehen lassen mussten. Balian und seine Freunde drängten sich an den Ochsenwagen, Handkarren und Bauersfrauen mit Huckelkörben vorbei, der Torwächter streifte sie mit einem gelangweilten Blick. »Ich warte hier auf Rebekka«, erklärte Bénédicte und blieb stehen. »Hast du mir nicht zugehört?«, fragte Martin aufgebracht, was dem Steinmetzgesellen ein Grinsen entlockte. »Ich will ja nur schauen. Mich an ihren Reizen erfreuen.« »Sprich sie bloß nicht an.« »Mach ich schon nicht. Wir sehen uns!« Balian verabschiedete sich von seinen Freunden und ging zum Domplatz, wo sich zu seiner Überraschung eine Menschenmenge eingefunden hatte. Dabei hatte der Markt noch gar nicht angefangen; Krämer und Kaufleute bestückten eben erst ihre Stände und wurden vom städtischen Aufseher ermahnt, die vorgeschriebenen Maße einzuhalten und den Marktfrieden zu achten. Irgendetwas war geschehen. So früh am Morgen? Balian blickte sich stirnrunzelnd um und entdeckte seinen Bruder. Michel stand mit vor der Brust verschränkten Armen neben dem Marktkreuz und plauderte mit zwei anderen Kaufleuten. Jeder, der des Weges kam, grüßte ihn freundlich. Er war eben ein angesehener Mann, sein Bruder. Von Balian hingegen nahm niemand Notiz, als er zu Michel schritt. »Was ist da los?«, fragte er mit Blick auf das Rathaus. »Wo hast du dich denn wieder herumgetrieben?«, fuhr sein älterer Bruder ihn an. »Ich habe dich gesucht!« »Was ist so wichtig, dass es nicht warten kann, bis die Sonne aufgegangen ist?« Michel gab keine Antwort. Er blickte an Balian herunter und entdeckte das Schwert an seinem Gürtel. »Du hast wieder mit Martin und dem anderen Kerl Ritter gespielt.« »Der andere Kerl heißt Bénédicte. Und wir haben nicht gespielt, wir haben an den Waffen geübt. Wie es die Pflicht eines jeden Bürgers ist, wenn du dich erinnerst.« Sein Bruder schnaubte verächtlich. »Was?«, fragte Balian gereizt. »Du willst dich vor der Arbeit drücken. Dafür ist dir jede Ausrede recht.« »Das ist keine Ausrede. Wenn Varennes angegriffen wird, müssen wir bereit sein.« »Varennes wurde seit zwanzig Jahren nicht mehr angegriffen.« »Das kann sich jederzeit ändern.« Balian merkte selbst, wie lahm das klang. Sie schwiegen. Michel hatte es wieder einmal geschafft, dass er ein schlechtes Gewissen bekam. Doch Balian sah nicht ein, zu Kreuze zu kriechen. Nach einer Weile fragte er: »Was machen die ganzen Leute hier?« »Eben kam eine Gesandtschaft von König Wilhelm. Sie sprechen gerade mit dem Rat.« Unwillkürlich reckte Balian den Kopf und spähte zum Rathaus, aber natürlich war dort nichts zu sehen, außer dass die Rundbogenfenster des großen Saales erleuchtet waren und Stadtknechte vor der Pforte Wache standen. »Was will der König?« »Anscheinend gibt es Krieg.« »Hab ich’s nicht gesagt?«, meinte Balian triumphierend. »Nicht hier – weit im Norden«, entgegnete Michel. »Es heißt, der König will die rebellischen Friesen unterwerfen und fordert Soldaten von...