Buch, Deutsch, 294 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 372 g
Diskurse der Differenz in der deutschen und französischen Soziologie um 1900
Buch, Deutsch, 294 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 372 g
ISBN: 978-3-593-39526-5
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Wissenschafts- und Universitätsgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziologie Allgemein Feminismus, Feministische Theorie
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Allgemeines Geschichte der Human- und Sozialwissenschaften
Weitere Infos & Material
Inhalt
Einleitung
Theresa Wobbe, Isabelle Berrebi-Hoffmann und Michel Lallement 7
I. Nationale Konfigurationen von Soziologie und Geschlecht
Gleichheit und Differenz bei Emile Durkheim - am Falle der Geschlechterbeziehungen
Isabelle Berrebi-Hoffmann 21
Max Weber - Eine Soziologie ohne Geschlecht?
Theresa Wobbe 47
Die Durkheim-Schule und die Frauenfrage
Michel Lallement 68
II. Semantische Kontexte - Strukturelle Homologien
Die kognitiven Prinzipien der neuen Wissenschaften vom Menschen und die Genese einer weiblichen Sonderanthropologie in Frankreich
Claudia Honegger 93
Maternité, Mutterschaft, Mütterlichkeit: Familienpolitische Codierungen im deutschen und französischen Kontext
Anne-Laure Garcia und Theresa Wobbe 114
Soziale Frage, Frauenfrage, Solidarisme: Soziale Codierungen diesseits und jenseits des Rheins an der Wende zum 20. Jahrhundert
Michel Lallement, Sabine Haas und Marcel Rebenack 142
Bürgerin - Citoyenne: Semantiken der Zugehörigkeit in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert
Alexander Knoth 158
III. Beobachten - Klassifizieren - Kategorisieren
Statistische Klassifikationsschemata: Zur Entstehung einer individuellen Berufsstatistik im 19. Jahrhundert
Raf Vanderstraeten 183
Gender Trouble: Frauen und die Herstellung der ›aktiven Bevölkerung‹ Italiens, 1861-1936
Silvana Patriarca 212
Statistische Klassifizierung und geschlechtliche Kategorisierung: Die Unterscheidung von Haushalt und Betrieb im Medium der deutschen Berufsstatistik um 1900
Theresa Wobbe, Annegret Kestler und Evelyn Kauffenstein 238
IV. Forschungsnotiz
Marianne Webers Essays ins Französische übersetzen: Eine Forschungsnotiz
Michèle Dupré und Gwenaëlle Perrier 267
Autorinnen und Autoren 289
Danksagung 293
Was die Deutungen der Geschlechterdifferenz anbelangt, so bewegte sich die Soziologie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einem spannenden Feld. Die Projekte jener Tage enthielten geschlechtliche Konnotationen, Implikationen und Kategorien, welche die soziologische Semantik der Differenzierung, Rationalisierung und Vergesellschaftung eingefärbt haben. Umgekehrt enthielten die soziologischen Beschreibungen der Moderne auch den Versuch, die soziale Dynamik zu entdecken, die den Geschlechterbeziehungen zugrunde liegt.
Deutlich wird das Bemühen um eine differenzierte Sichtweise, wenn etwa Georg Simmel den "Arbeiter" vom "Begriff des Arbeiters", die "Frau" vom "Begriff der Frau" (1908: 464ff.) unterschieden wissen will. Daher können die um 1900 inhaltlich, thematisch und methodisch verschiedenen Einzelstudien auch mit Blick auf das Geschlecht als "Wasserscheide zur alten Soziologie" (Rammstedt 1988b: 278) gelten, die einen besonderen Reflexionsstil des ›Sozialen‹ erkennen lassen (vgl. Kieserling 2005; Mucchielli 1998; Rammstedt 1988a: 9).
Auf welche Weise war die Soziologie diesseits und jenseits des Rheins an der viel zitierten Konstruktion des Geschlechts beteiligt? Das ist die Frage, der wir uns im vorliegenden Band widmen wollen. Dabei konzentrieren wir uns bei den Differenzmustern auf die Soziologie im deutschen und französischen Kontext, die um 1900 eine prominente Stellung einnimmt (vgl. Lepenies 1981; Wagner 1990). Der Neuanfang der Soziologie, der auch in Bezug auf das Geschlechterverhältnis fassbar wird, ist durch den sozialen Kontext und die kulturellen Besonderheiten von Nationalgesellschaften gerahmt.
In beiden Ländern ist die Etablierung des soziologischen Feldes in unterschiedliche Auffassungen vom Sozialen eingebettet, schließt an verschiedene wissenschaftliche und epistemische Tradierungen an, in denen die Geschlechterdifferenz wiederum präsent ist. In einer komparativen Perspektive werden daher die Genese, die Bedeutung und die Spuren der Studien untersucht, die die Geschlechterdifferenz als Reflexions- und Beschreibungsmittel für die sich unter den Augen der Soziologie vollziehenden gesellschaftlichen Umbrüche etablierten.
Wenn wir von der nationalen Prägung der Soziologie um 1900 ausgehen, sind einige Anmerkungen hilfreich. Die soziologischen Traditionen wurden oftmals als fixe nationale Größen und undurchlässige Blöcke arrangiert. Hierbei, so zeigt Johan Heilbron (2008), werden sie zwar oftmals als nationale Traditionen unterstellt, erstaunlicherweise aber als solche kaum systematisch untersucht (vgl. dazu Bielefeld 2003; Krech/Tyrell 1995). Diese Annahmen sind aber folgenreich, denn sie legen fest, wie und in welchem Rahmen die Geschlechterdifferenz verhandelt wird, und sie stellen die Weichen für ihre weitere Bearbeitung.
Wir gehen davon aus, dass die sozialen und kulturellen Einflussfaktoren soziologischer Forschung in Frankreich und Deutschland variieren. Insofern wird nach dem sozialen Umfeld gefragt, in das die soziologischen Unternehmungen um 1900 gehören und nach ihrem kulturellen Kontext, also der jeweiligen nationalen Filterung.
Kontexte vergleichen - Vergleich im Kontext. Im Unterschied zu Konzepten, die nationale Räume als feste kulturelle, politische, ökonomische Blöcke betrachten, wollen wir jedoch nicht nur die idiosynkratischen Charakteristika ausfindig machen, sondern unter dem Blickwinkel von Austausch - zum Beispiel in Form von Ansteckung, Mimese, Konflikt oder Kooperation - auch von verschiedenen Akteuren und Räumen geteilte Objekte untersuchen (vgl. für viele Werner/Zimmermann 2004). Dieser kann Ideen, technische Organisationen, gesellschaftliche Regelungen oder Kategorien betreffen. So bezeugen die weiblichen Allegorien der Nation Germania und Marianne die wechselseitige Bezugnahme auf geschlechtliche Codierungen. Denken wir hier nur an die Verwandlungen der Germania, die um 1848 offensichtliche Anleihen bei ihrer Schwester Marianne machte, um dann später in Angriffsstellung auf Frankreich gerichtet zu werden (vgl. Bruchhausen 2000). Die Beschäftigung mit ähnlichen Problemen, wie soziale Ordnungsbildung am Beispiel der Frauenfrage, oder mit Kategorien, so etwa die Berufstätigkeit in der Statistik, werden daher in dieser Perspektive zu einem bevorzugten Forschungsgegenstand.
So ist das Interesse an geschlechtlichen Differenzmustern (vgl. Tyrell 1986) in den Diskursen über die soziale Frage in diesem Kontext lehrreich. Verbunden mit neuen Formen sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe, mit der Industrialisierung, Urbanisierung und einer verstärkten Präsenz der Frauen im öffentlichen Leben schienen nationale Gesellschaften im 19. Jahrhundert ins Wanken zu geraten. In Frankreich waren die Aufmerksamkeit und Beunruhigung stärker mit dem Geburtenrückgang und der Besorgnis über die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft verwoben, während sie in Deutschland auf die Arbeiterfrage verwies, also auf die Furcht vor dem Konfliktpotential wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit.
Auf diese Unterschiede stützen sich sowohl die gegenseitige Faszination als auch die Repulsion der beiden Länder. Der starke (konfliktbeladene) Bezug aufeinander wird etwa in den langen Debatten über die Nachtarbeit von Frauen in Frankreich deutlich, die zum Gesetz vom 2. November 1892 führten. Einer der Gründe hierfür stand in einem engen Zusammenhang zu Deutschland: In einem kaum verhohlenen Revanchegeist handelte es sich darum, den Französinnen die besten Bedingungen zum Gebären gesunder Kinder - zur Produktion künftiger Soldaten für das Vaterland - zu schaffen. Umgekehrt wurde diesseits des Rheins die Einschränkung der industriellen Lohnarbeit von Frauen oftmals geradezu als kulturelle Mission ins Feld geführt. Im deutschen Attribut des Kulturellen schwang die Distanzierung von der französischen Zivilisation und deren Überschuss an Vernunft und Instrumentalität mit.
Der Gewinn unserer skizzierten Herangehensweise liegt darin, die Herkunft und Verankerung von Konzepten, hier in erster Linie das geschlechtliche Differenzmuster in und zwischen nationalen Rahmen zu kontextualisieren. Es geht darum, die nationale Binnensicht herauszuarbeiten und diese auf Erwartungshorizonte zu beziehen, die Nationalgesellschaften im 19. Jahrhundert miteinander teilten. So öffnet dieses Verfahren den Blick für die methodischen Herausforderungen des Vergleichs und die Problematik der interkulturellen Übersetzbarkeit (vgl. den Beitrag von Dupré/Perrier). Diese werden etwa an der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs Geschlecht und genre sowie sexe in den soziologischen Diskursen beider Länder offenbar, aber auch an Worten wie Mütterlichkeit, die im familien- und frauenpolitischen Kontext eine Übersetzung im semantischen Feld von Mutterschaft und maternité erfordern (vgl. den Beitrag von Garcia/Wobbe).
Beobachtung der Differenzen. Beim Neuanfang der Soziologie gehen wir nicht von einer einfachen Fortsetzung der um 1800 entstandenen Geschlechterkonzepte aus, sondern von einer Diskontinuität der soziologischen Deutungsversuche der Geschlechterdifferenz. Im späten 18. Jahrhundert ergründen Wissenschaftler die psycho-physiologische bzw. moralisch-physiologische Organisation des Menschen. Was sie dabei zutage fördern, sind vor allem die organischen Unterschiede, auf welchem die Differenz der Geschlechter ruht und die die konstitutionelle Schwäche der Frauen determinieren (vgl. Honegger 1991 und in diesem Band).
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist diese Wissensstruktur den Soziologen geläufig. Sie sind nunmehr stärker mit der Entdeckung der sozialen Kräfte beschäftigt, die dem Geschlechterverhältnis innewohnen. Hierbei verfangen sie sich jedoch ständig in verschiedenen Kräftefeldern: Simmel legt die subtilen Machtmechanismen zwischen Frauen und Männern offen, um dann wieder die Idee des substantiellen Geschlechterunterschieds zu bekräftigen (vgl. Simmel 1902). Durkheim lehrt uns, die sexuelle Differenzierung als einen Prototypen von Klassifikation (vgl. Durkheim 1987; Durkheim/Mauss 1987; Goffman 1994) schlechthin zu betrachten, um im nächsten Atemzug Beweise für die weibliche Schwäche aus der Mottenkiste der kolonialen Phrenologie zu ziehen (vgl. Lehmann 1994; Roth 1992). Diese nicht gelösten Probleme machen die Klassiker soziologisch erst zu Klassikern und werfen die Frage auf: Was sehen wir heute eigentlich anders?