E-Book, Deutsch, 240 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9436-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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März. Elgin hatte versprochen, mir im März zu schreiben. Ich zählte die Tage wie jemand unter Hausarrest. Es war bitterkalt, und die Wälder waren voller wilder weißer Narzissen. Ich versuchte Trost in den Blumen zu finden, im unbeirrbaren Knospen der Bäume. Das war neues Leben, ein wenig davon würde doch wohl auf mich abfärben? Die Bar, auch bekannt unter dem Namen »A Touch of Southern Comfort«, veranstaltete ein Frühlingsfest, um Kunden wiederanzulocken, deren überzogene Konten sich noch nicht vom Weihnachtsfest erholt hatten. Wir Angestellten bekamen zu diesem Anlass lindgrüne Bodys verpasst und dazu einen einfachen Kranz aus künstlichen Krokussen um den Kopf. Die Getränke hatten alle ein Frühlingsthema: Märzhasenpunsch, Windhafercocktail, Blaumeise. Es spielte keine Rolle, was bestellt wurde, die Zutaten waren bis auf die alkoholische Grundlage die gleichen. Ich mixte billigen Brandy, japanischen Whisky, etwas, was sich Gin nannte, und hin und wieder einen Schuss lausigen Sherry mit Orangensaft, dünner Sahne, weißem Würfelzucker und verschiedenen Nahrungsmittelfarben. Das Ganze aufgefüllt mit Sodawasser, und für 5 Pfund das Paar (wir servierten sie nur paarweise im »Southern Comfort«) ein spottbilliges Angebot in der sogenannten Happy Hour. Die Betriebsleitung bestellte einen Märzpianisten und trug ihm auf, sich mit seiner eigenen Geschwindigkeit durch das Songbook von Simon und Garfunkel durchzuspielen. Aus irgendeinem Grund blieb er mit autistischer Zwanghaftigkeit an Bridge Over Troubled Water kleben, und jedes Mal, wenn ich um fünf zur Arbeit kam, segelte das Silver Girl auf den Worten einer bereits tränen- und cocktailseligen Gästeschar an mir vorüber. Zu den üppigen Akkorden und Herzschmerztremolos unserer Gäste hüpften wir Fühlingsgrünen von Tisch zu Tisch, lieferten kleine Fressrationen mit Pizza und in Krügen abgefüllten Seelentrost ab. Ich begann meine Mitmenschen zu verachten. Immer noch kein Wort von Elgin. Arbeite noch härter, mix noch mehr Cocktails, bleib lange auf, schlaf nicht, denk nicht. Ich hätte zu trinken anfangen können, hätte es etwas Geeignetes gegeben. »Ich würde gerne sehen, wo du wohnst.« Ich stand hinter der Bar und schüttelte grimmig ein paar Liter »Lethal Extra« im Mixbecher, als Gail Right mir klarmachte, dass sie die Absicht hatte, mit mir nach Hause zu kommen. Um zwei Uhr früh, nachdem wir den letzten unserer Nachtvögel aus seinem feuchtfröhlichen Nest gekippt hatten, schloss sie das Lokal ab und verstaute mein Fahrrad im Kofferraum ihres Wagens. Sie hatte eine Tammy-Wynette-Kassette im Rekorder. »Du bist sehr zurückhaltend«, sagte sie. »Ich mag das. Das erleb ich selten bei der Arbeit.« »Warum führst du diesen Laden?« »Mit irgendwas muss ich mir ja den Lebensunterhalt verdienen. Kann mich nicht gut auf den Märchenprinzen verlassen in meinem Alter.« Sie lachte. »Und mit meinen Neigungen.« Stand by your man, sagte Tammy, and show the world you love him. »Ich denke an ein Country-und-Western-Festival im Sommer, was hältst du davon?« Gail nahm die Kurven zu schnell. »Was werden wir anziehen müssen?« Sie lachte wieder, schriller diesmal. »Gefällt dir dein kleiner Body nicht? Ich finde, du siehst süß darin aus.« Sie dehnte das »Ü«, sodass es weniger nach Kompliment, sondern mehr nach einem gähnenden Abgrund klang. »Es ist sehr nett von dir, dass du mich heimbringst«, sagte ich, »kann ich dir vielleicht was anbieten?« »Oh ja«, sagte sie. »Ooh jaa.« Unter dem frostigen Himmel stiegen wir aus ihrem Wagen. Mit frostigen Fingern sperrte ich die Tür auf und bat sie frostigen Herzens hinein. »Hübsch und warm ist es hier«, sagte sie und kauerte sich vor dem Ofen zusammen. Sie hatte einen breiten Hintern. Er erinnerte mich an einen Freund, der auf seinen Shorts (GL)ASS. HANDLE WITH CARE stehen gehabt hatte. Sie wackelte damit und warf einen Figurenkrug um. »Macht nichts«, sagte ich. »Er war sowieso zu dick für den Kamin.« Sie machte es sich in dem zitternden Lehnstuhl bequem und akzeptierte den angebotenen Kakao mit einer anzüglichen Bemerkung über Casanova. Ich hatte das für ein esoterisches Faktum gehalten. »Es ist nicht wahr«, sagte ich. »Schokolade ist ein wunderbares Sedativum.« Was auch nicht wahr ist, aber ich dachte mir, Gail Right könnte vielleicht empfänglich sein für eine kleine Betonung des Geistes gegenüber der Materie. Ich gähnte nachdrücklich. »Anstrengender Tag«, sagte sie. »Anstrengender Tag. Lässt mich an andere Dinge denken. Dunkle, aufregende Dinge.« Ich dachte an Sirup. Wie mochte es wohl sein, in Gail Rights Morast zu versinken? Ich hatte einmal einen Freund, der hieß Carlo, ein dunkler, aufregender Kerl. Er verlangte von mir, dass ich mir alle Körperhaare abrasiere, und machte dasselbe bei sich. Er behauptete, das würde das Empfindungsvermögen steigern, doch ich kam mir vor wie ein Gefangener in einem Bienenstock. Ich wollte ihm eine Freude machen. Er roch nach Tannenzapfen und Portwein, sein langer Körper dampfte vor Leidenschaft. Es dauerte sechs Monate mit uns, dann lernte Carlo Robert kennen, der größer war, breitschultriger und dünner als ich. Sie tauschten ihre Rasierklingen aus, und ich wurde fortan geschnitten. »Wovon träumst du?«, fragte Gail. »Von einer alten Liebe.« »Du magst sie alt, was? Das ist gut. Übrigens, ich bin nicht so alt, wie ich ausschau, nicht wenn du zur Polsterung kommst.« Sie gab dem Lehnstuhl einen kräftigen Schlag, und eine Wolke Staub senkte sich über ihr zerflossenes Make-up. »Ich muss dir was sagen, Gail, es gibt jemand anderen.« »Es gibt immer jemand anderen.« Sie seufzte und starrte in die klumpige Brühe ihres Kakaos wie eine Wahrsagerin in Trance. »Groß, dunkel und hübsch?« »Groß, rothaarig und schön.« »Dann erzähl uns eine Gutenachtgeschichte«, sagte Gail. »Wie ist sie?« Louise, zweiflügeliges Mädchen, in Flammen geboren, 35. 34-22-36. 10 Jahre verheiratet. 5 Monate mit mir zusammen. Doktorat in Kunstgeschichte … hochintelligent. 1 Fehlgeburt (oder 2?), 0 Kinder. 2 Arme, 2 Beine, zu viele weiße T-Zellen. 97 Monate zu leben. »Nicht weinen«, sagte Gail, vor meinem Sessel kniend, ihre plumpe beringte Hand auf meiner dünnen kahlen. »Nicht weinen. Du hast das Richtige getan. Sie wäre gestorben, wie hättest du dir das verzeihen können? Du hast ihr eine Chance gegeben.« »Es ist unheilbar.« »Ihr Arzt sagt das aber nicht. Sie kann ihm doch vertrauen, oder?« Ich hatte Gail nicht alles erzählt. Sie berührte sehr sanft mein Gesicht. »Du wirst wieder glücklich sein. Wir könnten miteinander glücklich sein, meinst du nicht?« Sechs Uhr früh, und ich lag in meinem durchgesackten gemieteten Doppelbett, und neben mir lag wie ein Sack Gail Right. Sie roch nach Puder und Holzschwamm. Sie schnarchte laut, und es würde noch eine Weile dauern, bis sie aufwachte, also stand ich auf, borgte mir ihren Wagen und fuhr zur Telefonzelle. Wir hatten nichts miteinander gehabt. Ich hatte ihr mit der ganzen Begeisterung eines Gebrauchtsofahändlers ein wenig über ihr gut gepolstertes Fleisch gestreichelt. Sie hatte mir den Kopf getätschelt und war eingeschlafen, und das war gut so, denn mein Körper war etwa so empfindlich wie ein Taucheranzug. Ich steckte das Geld in den Schlitz, horchte auf das Läuten, und mein Atem füllte die kahle Telefonzelle mit Dampf. Mein Herz überschlug sich. Jemand hob ab, schläfrig, mürrisch. »HALLO? HALLO?« »Hallo, Elgin.« »Weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist?« »Früher Morgen nach einer weiteren schlaflosen Nacht.« »Was willst du?« »Unsere Vereinbarung. Wie geht es ihr?« »Louise ist in der Schweiz. Sie war ziemlich krank, aber jetzt geht es ihr viel besser. Wir haben gute Resultate erzielt. Sie wird nicht so bald nach England zurückkehren, wenn überhaupt. Du kannst sie nicht sehen.« »Ich will sie nicht sehen.« (LÜGNER LÜGNER) »Das ist gut, denn sie will dich ganz bestimmt nicht sehen.« Die Verbindung war unterbrochen. Für einen Augenblick hielt ich den Hörer noch in der Hand und starrte blöde in die Sprechmuschel. Louise war okay, das allein war wichtig. Ich stieg ins Auto und fuhr die menschenleeren Meilen heimwärts. Sonntag früh und keiner unterwegs. Vor den Fenstern in den oberen Stockwerken waren überall noch die Vorhänge zugezogen, die Häuser entlang der Straße schliefen noch. Ein Fuchs lief mir über den Weg, aus seinem Maul hing schlaff ein Huhn. Ich würde mich mit Gail befassen müssen. Zu Hause gab es nur zwei Geräusche: das metallische Ticken der Uhr und Gails Schnarchen. Ich schloss die Tür zum Treppenaufgang und blieb allein mit der Uhr. Am sehr frühen Morgen haben die Stunden eine andere Beschaffenheit, sie dehnen sich und sind voller Versprechen. Ich holte meine Bücher hervor und versuchte zu arbeiten. Russisch ist die einzige Sprache, in der ich gut bin, und das ist ein Vorteil, denn es gibt nicht allzu viele von uns, die sich um dieselben Aufträge reißen. Den Frankophilen geht es da schlechter, jeder will vor einem Pariser Café sitzen und die Neuausgabe von Proust übersetzen. Ich nicht. Ich hatte lange Zeit geglaubt, eine Tour de Force wäre ein Schulausflug. »Du Dummkopf«, sagte Louise und boxte mich...