Wie die Natur unsere Gesundheit verbessert
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-8270-8112-4
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Katherine Willis ist Professorin für Biodiversität im Fachbereich Biologie und Rektorin von St. Edmund Hall an der Universität Oxford. Darüber hinaus ist sie unabhängiges Mitglied im House of Lords. Zuvor war sie u. a. wissenschaftliche Direktorin der Royal Botanic Gardens, Kew, und Mitglied des Natural Capital Committee der britischen Regierung. Sie ist vielfach im Rundfunk aufgetreten und wurde 2015 von der Royal Society mit der Michael-Faraday-Medaille für Wissenschaftsvermittlung ausgezeichnet.
Weitere Infos & Material
1
Quelle: P. Dadvand et al. Doch woher kommt diese so deutliche Steigerung der kognitiven Funktion, wenn wir in die Natur schauen? Welcher Vorgang steckt dahinter? Ein Erklärungsansatz stammt aus der Landschaftspsychologie und nennt sich »Attention storation Theory« oder Theorie der Wiederherstellung der Aufmerksamkeit, die Stephen und Rachel Kaplan, beide Professoren für Psychologie an der Universität Michigan, zwischen 1989 und 1995 in einer ihe von bahnbrechenden Aufsätzen aufgestellt haben.[20] Die Kaplans vermuteten, dass der Anblick der Natur unsere geistige Leistungsfähigkeit steigert, weil sie eine regenerierende Wirkung auf die Aufmerksamkeit hat, die wir auf etwas richten. Im Alltag arbeitet unser Gehirn intensiv mit geistigen ssourcen, die uns die Konzentration auf bestimmte Aufgaben ermöglichen und zugleich Ablenkungen im Hintergrund ausblenden, etwa die plaudernde Kollegenschar oder piepsende Computer, die den Eingang neuer E-Mails verkünden. In der Psychologie nennt man diese Fähigkeit gerichtete oder selektive Aufmerksamkeit. Diese gerichtete Aufmerksamkeit lässt sich jedoch nicht endlos aufrechterhalten, weshalb unsere Konzentrationsfähigkeit im Laufe des Tages immer wieder schwankt. Längere Phasen gerichteter Aufmerksamkeit führen auch zu Zuständen geistiger Erschöpfung, die wir vermeiden sollten, da wir sonst beispielsweise schlechtere Entscheidungen treffen, uns mehr Fehler unterlaufen und wir unsere Gefühle weniger im Griff haben. Die Theorie der Wiederherstellung der Aufmerksamkeit besagt, dass sich unsere gerichtete Aufmerksamkeit beim Blick in die Natur erholt, weil der Anblick natürlicher Umgebungen unsere unwillkürliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dabei wird unser Gehirn von einer anderen Aktivität abgelenkt (beziehungsweise zu ihr hingelenkt), die wir beispielsweise aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben, anstatt uns bewusst und absichtlich auf sie zu konzentrieren. Aber wieso ziehen gerade natürliche Szenerien diese unwillkürliche Aufmerksamkeit auf sich? Kaplan und Kaplan meinen, dies liege daran, dass sie uns entgegen dem, was man vermuten würde, deutlich weniger optische ize bieten. So kann unsere gerichtete Aufmerksamkeit eine kurze Rast einlegen, sich erholen und Kraft schöpfen. Kehren wir anschließend zu den Aufgaben zurück, die unsere Konzentration beanspruchen, tun wir das mit gesteigerter geistiger Leistungsfähigkeit, da unsere gerichtete Aufmerksamkeit sich regeneriert hat.[21] Meine Frage, was genau passiert, wenn wir in die Natur blicken, kann man also zusammenfassend so beantworten: Es spricht sehr viel dafür, dass dabei eine ihe psychischer und physischer aktionen ausgelöst wird, die zu Beruhigung und Stressabbau führen und sowohl unser Arbeitsgedächtnis als auch unsere Aufmerksamkeit fördern. Eine Erklärung bieten, wie beschrieben, zwei grundlegende Hypothesen aus der Landschaftspsychologie: die Theorie zur Stressreduktion und die Theorie der Wiederherstellung der Aufmerksamkeit. Die Studien, die ich bisher besprochen habe, konzentrieren sich in Bezug auf die Landschaft auf genau zwei Typen: natürlich oder urban. Doch tatsächlich kennt die Natur unzählige Varianten: wuchernde genwälder, flache Graslandschaften, vereinzelte Bäume in der Savanne. Jeden Tag blicken wir auf Baumwipfel unterschiedlichster Gestalt, vermutlich ohne auch nur darüber nachzudenken, und doch verleihen sie jeder Landschaft ihr ganz eigenes Gepräge. Selbst in diesem Augenblick, da ich dies tippe, kann ich durchs Fenster eine Blutbuche mit ihrer kugelförmigen Krone ausmachen, eine hochgewachsene, schmale, fast spindelförmige Weißbirke und noch zwei kegelförmige Nadelbäume im Nachbargarten. Bieten einige dieser Formen und/oder die Landschaften, in denen sie sich befinden (wie beispielsweise jene, die Capability Brown gestaltet hat), größere gesundheitliche Vorteile als andere? Die meisten von uns werden beim Gedanken an eine Pflanze wohl eine aufrecht stehende Struktur (einen Stiel oder Stamm) mit Zweigen und Blättern vor Augen haben. Algen, Moos oder Hornblattgewächse hingegen werden uns seltener in den Sinn kommen, obwohl diese doch nicht weniger Pflanze sind. Wir denken in erster Linie an Gefäßpflanzen, ausgestattet mit einem System spezialisierter Zellen, die das biologische Äquivalent eines Festigungsmittels enthalten, nämlich Lignin. Vor ungefähr 400 Millionen Jahren, das lässt sich aus der fossilen Überlieferung herauslesen, tauchte dieser Stoff erstmals in der Geschichte der Pflanzenwelt auf.[22] Und dieser Neuentwicklung ist es unter anderem geschuldet, dass aus den schlaff herabhängenden Gewächsen, wie sie vor rund 480 Millionen Jahren die Erde bedeckten, aufrechte Gräser, Büsche und sogar baumartige Gebilde wurden, die bis zu zehn Meter in die Höhe wuchsen. Kaum zu glauben, dass all das innerhalb von kaum 100 Millionen Jahren passiert sein soll, was nach menschlichem Ermessen eine sehr lange Zeitspanne zu sein scheint, nach geologischen Maßstäben jedoch nicht mehr als ein kurzer Augenblick ist. In diesen frühzeitlichen Landschaften gab es zahlreiche Baumarten, die heute seit Langem ausgestorben sind. Könnten wir dort herumspazieren, wären es vermutlich weniger die Äste, Blätter oder Stiele, die uns stutzen ließen und verrieten, dass wir wohl den falschen Zeitmaschinenknopf gedrückt haben und im falschen Erdzeitalter stecken, es wäre vielmehr deren befremdliche Kombination. Einige dieser Bäume erinnern mich an »Wer ist es?«, ein Brettspiel aus meiner Kindheit, bei dem man eine Figur ermitteln muss, indem man Fragen stellt und aus einzelnen Elementen wie Augen, Nasen oder Haaren ihre Gesichtszüge zusammensetzt. Liegt man falsch, können sehr seltsame Gestalten entstehen. Für mich sehen diese frühen Baumarten aus, als hätte jemand die Pflanzenvariante dieses Spiels gespielt und dabei ziemlich oft danebengegriffen: sechs Meter hohe Schachtelhalmbäume, ähnlich unseren winzigen Schachtelhalmen (Equisetum), aber von baumartigem Wuchs und mit Blattästen, die sich an ihrem Stamm emporwinden; zehn Meter hohe Bärlappgewächse (Lepidodendron) mit markanter, diamantförmig gemusterter Rinde, aus deren lang gezogenem Stamm oben ein Büschel farnartiger Stauden ragt; und acht Meter hohe Cordaiten, die mit ihrer verästelten Struktur vielen unserer laubwechselnden Bäumen ähneln, jedoch mit langen, schmalen Blättern besetzt sind, die den heutigen Schwertlilien (Iridaceae) gleichen. Die meisten dieser frühesten Bäume vermehrten sich über Sporen, wie es heute noch die Farne tun: Auch ihre Sporen findet man unter den Wedeln, bevor der Wind sie zerstreut. Auch Baumfarne gab es in jenen Urzeitlandschaften, allerdings bis zu dreimal größer als die uns vertrauten Exemplare. Einige Bäume jedoch sind ihren heutigen Gegenstücken sehr ähnlich, etwa Koniferen, Araukariengewächse, Ginkgos und Palmfarne. Tatsächlich wachsen in unserer heutigen Umgebung nicht wenige Baumarten, von denen wir dank fossiler Funde wissen, dass sie in beinahe identischer Form bereits vor über 350 Millionen Jahren existiert haben. Solche »lebenden Fossilien« sind im Pflanzenreich weitaus häufiger anzutreffen als im Tierreich, wo die Vorfahren meist ganz anders aussahen (man denke an die Dinosaurier). Die große Vegetationsvielfalt, die unsere Lebenswelt heute aufweist, war vor rund 70 Millionen Jahren fertig angelegt. Allen Umweltveränderungen und Aussterbewellen zum Trotz heißt das, dass die Pflanzenwelt um uns herum in Form und Format nicht radikal anders ist als diejenige, in der unsere frühen Vorfahren (die Art Homo sapiens) vor rund 300 000 Jahren in ihrer afrikanischen Landschaft unterwegs waren. Auch die Umrisse der Bäume, die sie zu sehen bekamen, ähnelten unseren: eine vergleichbare Verzweigungsarchitektur, eine gleiche Höhe, ab der die Verzweigung beginnt, und ähnliche Astwinkel und -stärken. Diese Merkmale bestimmen die äußere Erscheinung des Baums, die sich grob in die folgenden Wuchsformen aufteilen lässt: konisch,...