Willett Ein Hauch von Frühling
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7325-0159-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 365 Seiten
ISBN: 978-3-7325-0159-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Daisy ist so verliebt in den geheimnisvollen Paul, dass ihre Gedanken nur noch um ihn kreisen. Dabei hätte die junge Ballerina allen Grund, über ihre Zukunft nachzudenken. Ihre Tanzlehrerin ahnt, dass sich ein Drama anbahnt. Denn sie weiß nur zu gut: Liebe macht blind. Vor der malerischen Kulisse Südenglands entfaltet die Autorin einen warmherzigen Roman über Liebe und Freundschaft.
Weitere Infos & Material
EINS
Onkel Bernard wurde es in seiner Schublade allmählich langweilig. Zwar gefiel es ihm, höher zu sitzen als die anderen Hunde – er fand es völlig in Ordnung, als alter Knabe mit leichten Gebrechen gewisse Privilegien zu genießen –, aber jetzt freute er sich auf das Vormittagsritual, das einen gemütlichen Spaziergang versprach. Er zappelte ungeduldig herum. Bevis, der sich auf den Fliesen ausgestreckt hatte und sich die Maisonne auf den Pelz scheinen ließ, warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, rührte sich aber erst, als ein Auto vorfuhr. Beide Hunde spitzten die Ohren, als sie die vertrauten Geräusche hörten: das Knirschen der Reifen, das Schlagen der Wagentür, Roly Carradines Schritte, die sich dem Haus näherten. Kaum hatte Roly die Haustür geöffnet, klingelte das Telefon auf dem Fensterbrett. Roly stellte seine prall gefüllte Plastiktüte auf einen Stuhl, tätschelte kurz Bevis’ Rücken und nahm ab. »Mim! Wie war’s?«, fragte er interessiert. »Nachdem du mir von der Kostümprobe erzählt hast, hab ich mich nicht mehr getraut anzurufen … Wirklich? Mir fällt ein Stein vom Herzen …« Roly ließ sich, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, auf einen Korbstuhl sinken, lauschte der aufgeregten Stimme seiner Schwester und kraulte Bevis, den großen Retriever, hinter den Ohren. Nun wurde ihr Tonfall ernster, und Roly runzelte besorgt die Stirn. »Wer? Wie heißt sie? Daisy Quin? Ja. Ja, der Name sagt mir was … Eine schwere Verletzung? … Ja, warum nicht. Wie lange will sie bleiben? … Nein, ist schon in Ordnung. Und du kommst dann auch? … Schön … Pass auf, können wir später noch mal telefonieren? Ich bin gerade reingekommen, Onkel Bernard winselt, weil er rauswill. Ich habe nämlich einen Pflegehund geholt, der noch hinten im Auto sitzt … So gegen fünf? Tschüs!« Einen Augenblick blieb Roly mit nachdenklicher Miene sitzen, bis ihn Onkel Bernard, empört über einen solchen Mangel an Respekt, mit einem scharfen Bellen an seine Pflichten erinnerte. »Tut mir leid, alter Junge.« Roly schob Bevis beiseite und trat an die lädierte alte Holzkommode, in deren oberster Schublade ein Zwergrauhaardackel thronte. »Raus mit dir!« Er setzte den Hund auf den Boden und beobachtete, wie der Dackel ein wenig steif in den Hof hinausstolzierte. Bevis folgte ihm, um einen Blick auf den Neuankömmling zu werfen, der ängstlich im Fond des Kombis wartete. Seit Roly sich vor ein paar Jahren für den Vorruhestand entschieden und sein Fotoatelier in London geschlossen hatte, nahm er für den Tierschutzverein Hunde in Pflege. Bevis und Onkel Bernard waren es daher gewohnt, dass immer wieder neue Artgenossen bei ihnen lebten, die wegen Scheidung der Besitzer ihr Zuhause verloren hatten. Manchmal kamen auch verstörte Welpen, die man ausgesetzt hatte, sobald sich einige Wochen nach Weihnachten ihr Charme abgenutzt hatte; andere wieder waren herrenlos geworden, weil ihre Herrchen oder Frauchen gestorben waren oder ins Altersheim umsiedeln mussten. Sie alle durften bei Roly bleiben, bis sie eine neue Bleibe gefunden hatten. Das alte Steinhaus oberhalb der Furt, inmitten wenig begangener Feldwege und Pfade, die teils ins Moor und zum Rough Tor hinaufführten, war das ideale Quartier für diese heimatlosen Tiere. Bevis, selbst ein Scheidungsopfer, hatte Ähnlichkeit mit einem freundlichen Vertrauensschüler, der sich um nervöse Neulinge kümmert, die zum ersten Mal von zu Hause weg sind, während Onkel Bernard – von Geburt an geliebt und verhätschelt – sich wie ein resoluter Internatsleiter gebärdete, der ungemütlich wurde, sobald sich ein Zögling schlecht benahm. Roly öffnete die Heckklappe und hockte sich neben die Hündin, die, nervös mit dem Schwanz klopfend, die ungewohnte Szene beäugte, die sich ihr bot. Roly streichelte das zitternde Tier, und die Hündin kuschelte sich schutzsuchend an ihn. »Das ist Bevis«, erklärte er ihr. »Er ist wirklich ein netter Kerl. Ich wünschte, ich könnte das auch von Onkel Bernard behaupten, aber ich möchte dich am Anfang unserer Beziehung nicht gleich anlügen.« Bevis streckte schwanzwedelnd die Schnauze vor, und Roly seufzte erleichtert. »Braver Junge! Sieh zu, dass sie sich wohl bei uns fühlt. Ihr Frauchen ist letzte Woche gestorben, sie steht noch unter Schock. Übrigens heißt sie Floss.« Roly ließ die Heckklappe offen, sodass Floss hinausspringen konnte, wann sie wollte, und blieb einen Augenblick in der Sonne stehen. Auf der anderen Seite des Hofs, im rechten Winkel zum Haus, befand sich, ein wenig zurückgesetzt, ein kleines Stallgebäude; eine Treppe führte zum Eingang im oberen Stockwerk. Hier konnte man wunderbar Gäste unterbringen, und früher hatte Roly mit der Ferienwohnung sein Einkommen aufgebessert. Aber heutzutage konnten Urlauber offenbar selbst am Rand des Bodmin Moor nicht auf Geschirrspüler, Whirlpool und anderen Luxus verzichten, und die Wohnung wurde mittlerweile vor allem von Freunden genutzt, die mit Mim in regelmäßigen Abständen aus London kamen, um sich vom Stadtleben zu erholen. Nun stand sie Daisy Quin zur Verfügung. »Weißt du noch, was ich dir von ihr erzählt habe?«, hatte seine Schwester gefragt. »Sie war damals meine Lieblingsschülerin. Daisy muss man einfach gernhaben, sie ist ein Schatz und außerdem eine hochbegabte Tänzerin. Letztes Jahr hat sie bei dieser Truppe angefangen, und inzwischen hatte sie Soloparts übernommen. Ein harter Schlag …« Was genau passiert war, hatte er nicht gefragt: Mims Worte, die ihm ihren eigenen schlimmen Unfall in Erinnerung riefen, ließen ihn verstummen. »Sie hat einen Muskelriss am Rücken, und das Gewebe ist arg entzündet«, hatte Mim rasch hinzugefügt; offenbar ahnte sie, warum er schwieg. »Es ist vor sechs Wochen bei den Proben passiert, und die Sache ist auch deshalb so ernst, weil sie schon zum dritten Mal eine Rückenverletzung hat, und jedes Mal dauert die Heilung länger. Jedenfalls ist die Truppe jetzt ohne sie auf Tournee gegangen. Sie kann schon wieder laufen, und ich dachte, ein Urlaub in Cornwall würde ihr guttun. Ist es dir recht?« Natürlich war es ihm recht. Ein wenig menschliche Gesellschaft konnte zur Abwechslung nicht schaden. Er warf einen Blick in den Plastikbeutel, der Floss’ irdische Besitztümer enthielt, und wurde von dem inzwischen wohlvertrauten Mitgefühl überwältigt: eine gute Leine aus Leder, ein grünes Frisbee, zwei Hartgummibälle und ein zerkauter Teddy, dem beide Ohren fehlten. Das waren ihre Spielsachen. Ganz unten in der Tüte lagen eine ordentlich gefaltete Tartandecke und ein Futternapf aus Edelstahl. Roly nahm einen der Bälle heraus und ging zum Auto zurück. Bevis beobachtete aufmerksam, wie Floss mit der Entscheidung haderte, ob sie herausspringen sollte oder nicht. »Braves Mädchen!«, sagte Roly aufmunternd. »Komm schon! Schau, was ich da habe!« Er ließ den Ball einige Male hüpfen, und Bevis rannte dem Spielzeug aufgeregt bellend nach; selbst Onkel Bernard machte kehrt, um nach dem Rechten zu sehen. Floss sprang aus dem Wagen, jagte mit Bevis dem Ball hinterher, und Roly griff nach seiner Mütze, schloss die Heckklappe und ging mit den Hunden hinaus auf den Weg, der zur Furt hinunterführte. Das klare Wasser, das vom Hochmoor kam, reichte kaum aus, um die steinige Furt zu bedecken. Trotzdem zog Onkel Bernard es vor, die alte Granitbrücke zu benutzen, als wolle er sich von dem kindischen Umhergetolle der beiden größeren Hunde distanzieren, die ausgelassen im Bach tobten. Floss trank gierig das eiskalte Wasser, bis Bevis sie zum Spielen aufforderte und eine unbekümmerte Rauferei begann, bei der reichlich geplanscht wurde. Schließlich warf Roly den Ball weit über die Furt hinaus, und beide Retriever jagten hinterher. Als er den Wanderweg einschlug, hörte er den leisen, schnalzenden Ruf eines Schwarzkehlchens und entdeckte den hübschen Vogel, der in den Zweigen eines leuchtend blühenden Ginsterbusches thronte. Sein warnendes »Tack-tack« verriet, dass er das im Gebüsch verborgene Nest seines Weibchens bewachte. Es war heiß, und die klare Luft war vom schweren, betörenden Duft der goldenen Blüten erfüllt. Roly atmete tief durch, und als er die wohltuende Sonnenwärme auf seinen Schultern spürte, stellte sich ganz unverhofft ein Glücksgefühl ein. In Momenten wie diesem wurde ihm der wahre Grund für seine Rückkehr nach Cornwall wieder bewusst: der Entschluss, Schuld und Angst abzuschütteln oder diese destruktiven Kräfte wenigstens zurückzudrängen. Jetzt waren die Hunde wieder bei ihm, brachten den Ball und balgten sich darum, wer die Jagd anführen durfte. Der Gummiball, den Roly Bevis abnahm und den Weg hinaufschleuderte, fühlte sich feucht und schleimig an; Roly wischte sich leicht angeekelt die Hand an seiner alten Kordhose ab. Trotzdem musste er lachen, als er die beiden vergnügt über das steinige Gelände toben sah. Onkel Bernard hatte eine Hasenfährte aufgenommen und ging, die Nase am Boden, eigener Wege. Roly blieb stehen und ließ den Blick über die zerklüfteten Granitfelsen von Brown Willy und Rough Tor gleiten, die sich vor dem Horizont erhoben, während unten im Tal Dörfer und Farmen, kleine verstreute Festungen aus Naturstein und Schiefer, der rauen Natur trotzten. Hoch oben zog dröhnend ein Düsenjet seine Bahn – es sah aus, als hätte jemand mit Kreide ein weißes Band in den Himmel gemalt. Roly sah dem Flugzeug nach, bis es im Westen in den weißen Wolkenhaufen verschwand. Dort glitzerte in der Ferne das Meer. Er rief Onkel Bernard und begann mit dem...