Über alle Grenzen
E-Book, Deutsch, 268 Seiten
ISBN: 978-3-7583-4782-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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SOPHIA BENEDICT geboren in der UdSSR. Universitätsabschluss mit dem Diplom für Publizistik. Arbeitete in Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen. Weiterbildung in Wien, wo sie seit 1984 lebt und arbeitet. Langfristige Akkreditierung als Journalistin und Pressefotografin beim Österreichischen Bundeskanzleramt, zahlreiche Publikationen in Zeitungen und Fachzeitschriften, über 20 Buchveröffentlichungen in Deutsch und Russisch – Sachbücher, Übersetzungen, Lyrik und Prosa. Leiterin von Anima incognita Kulturverein AUF DEM GIPFEL EINES HOHEN BERGES... Anita, sich süß reckend, kam zum Fenster heran, öffnete die Gardine und ächzte begeistert. Der Morgen war wunderbar, seidig war der Morgen! Nach dem Dauerregen, der heftig an den Fenstern peitschte, liebkoste die Sonne die Dächer und das Grün des seit langem nicht gemähten Rasens, von denen die Gänseblümchen ihre winzigen Köpfe zutraulich zum Himmel zogen. Schnell öffnete sie das Fenster, atmete die reine Luft ein, und eine Empfindung der grundlosen Freude überflutete sie. Eine Minute später ging jedoch die Freude vorbei, nur die Fetzen hinterlassend. So rollt die Meereswelle zurück, und hinterlässt auf dem Sand „die Gaben“ des Menschen an das Meer. Bald jedoch ist die glückliche Welle zurückgekehrt. Anita wollte sie festhalten, sie wollte nicht zulassen, dass diese zarte Wärme wieder weggeht. Natürlich kam diese Freude nicht ohne Grund, entschied sich Anita. Sie neigte überhaupt dazu, in allen Ereignissen des alltäglichen Lebens, die schlechten oder die guten Vorzeichen zu sehen. Ihr schien es oft, als ob ihr Leben tatsächlich noch nicht angefangen hätte, dass alles, was sie bis jetzt erlebt hatte, nur eine Vorbereitung auf etwas Allerwichtigstes wäre. Und jetzt Schicksal oder Gott, es ist nicht wichtig, jemand schickte ihr dieses Zeichen: Ja, ja, gerade heute wird etwas Besonderes geschehen! Aber was denn so Besonderes kann in ihrem nicht besonderen Leben geschehen, wo ein Tag dem anderen so ähnlich ist, wie die Konservenbüchsen auf dem Regal des Supermarktes? Dieser Tag wird ebenso unmerklich davon fliegen, wie eine gute Hälfte ihres Lebens unmerklich bereits davon geflogen ist. Dafür aber ist eine Einförmigkeit ein Beweis der Ruhe, tröstete sie sich. Jedoch, an so einem Perlmuttmorgen, vom Regen abgewaschenen Tag, muss etwas Ungewöhnliches passieren! In Anitas Gedächtnis tauchten die Teile seit langem vergessener Gedichte auf, die ihre Vorahnung bestätigen sollten. Anita war eine belesene Frau, jeder Gedanke, jede erlebte Empfindung fand in ihrem Inneren eine Unterstützung der Klassiker, die den Lauf ihrer Gedanken entweder billigten oder nicht billigten. Das half Anita, sich weniger einsam zu fühlen, es war so, als ob es doch immer jemanden gab, der sich für sie interessierte. Diejenigen, die wir lieben, wenn sie einmal in unser Inneres eingedrungen sind, werden für immer ein Teil unserer Natur bleiben. In dieser trügerischen Symbiose fand Anita ihre Befriedigung. Es schien, sie existierte parallel in zwei Welten – in einer realen Welt der Sachen und in einer anderen, von ihr erfundenen Welt … Unwillig ging sie vom Fenster in die Küche, schaltete die Kaffemaschine ein mit den erlernten Bewegungen, nahm aus dem Schrank Brot und Marillenmarmelade, dann ging sie ins Badezimmer. Heute duschte sie sich länger als sonst. Das Wasser ist das Schönste von allem, was von der Natur geschaffen wurde, das liebkoste ihre Haut, als Lebenselixier drang es in sie hinein, nährte ihren Körper mit Wärme und Energie. Sollte Anita irgendwann einen Schiffbruch erleiden, wird sie niemals ertrinken, Wasser ist ihr Element. In diesem Moment hat Anita sich fast gewünscht, einen Schiffbruch zu erleiden. Irgendein Abenteuer sollte schon einmal in ihrem langweiligen Leben passieren! Anita zog einen Schlafrock an. Brot, Butter und eine Rosette mit Marillenmarmelade lagen auf der Spitzenpapierserviette, durch deren zarte Öffnungen das festliche Grün eines florentinischen Tabletts durchschimmerte. Das Tablett stellte sie auf das Nachttischchen und ging wieder unter die Decke. Die Sonne überflutete das Zimmer mit goldigem Licht. Heute ist Sonntag! Sie darf das! Das Nichtstun schien Anita so etwas wie ein mittelschweres Verbrechen zu sein, heute aber spürte sie so eine Freude der einfachen Existenz, dass es ihr auf alle Verbrechen nicht ankam. Die Sorge um andere – um ihren Mann, ihre Tochter, ihre Mutter, die im armen Russland blieb, um ihre kranke Schwiegermutter zu pflegen sowie um alle Freunde – wurde zu einem Teil ihrer Natur. Anita schien es, ihr Leben gehöre nicht ihr allein, sie fühlte sich verpflichtet, die regelmäßigen Beiträge zu leisten, um berechtigt zu werden, auf dieser Erde zu bleiben. Anita war überzeugt, dass man die Liebe sich verdienen muss, dass die Liebe einfach so nicht kommen würde. Man muss sich nützlich für die Menschen machen, die einem teuer sind, nur dann kann man geliebt werden. Ihre Bekannte glaubte, sie hätte einfach Glück im Leben, in Wirklichkeit aber wusste sie sehr gut, dass ihr Glück allein das Werk ihrer Bemühungen war. Seit einiger Zeit lebte Anita allein. Ihr Töchterchen, ihr einziger Nestling, flog vorzeitig aus dem Nest. Ab und zu traf sie sich mit ihrem Ehemann zum Mittagessen, die beiden saßen da eine halbe Stunde, um „Anstand“ zu bewahren, und liefen dann weg. Anita hatte eigentlich großes Glück – denn sie hatte einen Mann geheiratet, den sie heiß liebte, und noch dazu war dieser Mann nicht weniger als sozusagen ein „Prinz aus Übersee“, ein Europäer, und das war etwas, wovon alle russischen „Aschenputtel“ nur träumten. Sie konnte selbst an ihr Glück nicht glauben, und sie hat sich buchstäblich in Liebe aufgelöst, sie fand ihre wahre Berufung nur darin, dem geliebten Menschen zu dienen. Ihr Mann war schön und intelligent, aber er war wortkarg. Es schien ein Zeichen des Mutes und des tiefen Verstandes zu sein, aber mit der Zeit fing seine Wortkargheit an, Anita stark zu belasten. In ihrer Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit fand Anita in seiner Schweigsamkeit eine Rechtfertigung, und sogar dann, wenn er allein, ohne sich mit ihr zu beraten, alle Fragen betreffend der Familie regelte, protestierte sie nicht. So ermuntert unterstützt eine liebende Mutter die Unabhängigkeitstaten ihres Sohnes. Sie fürchtete, ihren Mann zu verlieren, wie sie in der Kindheit gefürchtet hatte, ihren Vater zu verlieren. Ihren Vater verlor sie jedoch, er hatte ihre Mutter verlassen und ging zu einer anderen Frau. Anita glaubte damals, dass es geschah, weil sie ihren Vater nicht genug geliebt hatte. Sich selbst, und weniger ihrer Mutter, gab sie die Schuld, als Kind war sie überzeugt, dass der Vater sie und nicht ihre Mutter verlassen hatte, es wäre sie und nicht ihre Mutter, die es nicht geschafft hatte, den am meisten geliebten Menschen festzuhalten. Wie man sagt, die Mängel der geliebten Menschen sind eine Fortsetzung ihrer Vorzüge. Wenn Anita sich bei ihren Freundinnen wegen ihres Mannes beklagte, so machte sie es mit jenem zutraulichen Humor, in den die russischen Frauen ihre ganze Mutterliebe zu ihren Ehemännern aufzeigen. Zum ersten Mal wurde ihr Vertrauen richtig erschüttert, als Anita klar wurde, dass ihr schöner Prinz die Kinder nicht liebte. Als ihre Tochter geboren wurde, fühlte er sich fast betrogen, als ob seine Frau ihn nicht mit einer kostbaren Gabe beschenkte, sondern ihm hingegen etwas weggenommen hätte. Ihre ungeteilte Liebe, das war das, was er haben wollte. Noch ein Kind kam für ihn nicht in Frage. Anita konnte diesen Schmerz nicht überwinden. Schmerzlich wollte sie einen Sohn, sie träumte von einem blonden, blauäugigen Jungen, der ihrem Mann ähnlich wäre... Bald wurde ihre Beziehung aus liebevoll einfach nur höflich, was in den Augen der anderen auch als Liebe betrachtet werden konnte. Als die Tochter heiratete, spürte Anita eine Leere in sich. Stundenlang schlenderte sie durch die Stadt, ohne Wünsche, ohne Interessen. Einmal teilte sie beim Café Eduscho einen Tisch mit einem bejahrten Paar. Die Frau zählte lange das Kleingeld in ihrer Geldbörse und fragte ihren Mann, ob sie auch für seinen Kaffee bezahlen solle, jener sagte, er würde selbst zahlen, wonach die beiden ihren Kaffee ganz schweigend tranken. Der Mann drückte ganz nah seine Tasse an sich, als ob er fürchtete, sie könne ihm weggenommen werden, und schaute starr durchs Fenster. Seine Frau vermied es auch, an seine Seite zu schauen. Nichtsdestoweniger vergaßen sie nicht das gut erlernte „danke“ und „bitte“, und das war offensichtlich alles, was sie noch zu einander sagen konnten. Wie von einem Alptraum wurde Anita von diesem Bild verfolgt. Plötzlich verstand sie, dass es eine Spiegelung ihres eigenen Lebens war. Was verbindet uns noch, meinen Mann und mich, fragte sich Anita. Es verband sie aber eine gemeinsame Firma. Sie war ihr allgemeines Werk, nichtsdestoweniger konnte sie die beiden nicht wirklich vereinigen, es war doch nur ein Job. Ihr Mann traf nach wie vor alle Entscheidungen...