Wetzel | Mehr Gerechtigkeit wagen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Wetzel Mehr Gerechtigkeit wagen

Der Weg eines Gewerkschafters

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-455-85053-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Können Gewerkschaften in globalisierten Wirtschaftsnationen noch für ihre Gerechtigkeitsideale eintreten? Oder sind sie ein Anachronismus?
Gewerkschafter zu sein war einfach, als es noch "Sozialpartnerschaft" und "Mittelstandsgesellschaft" gab. Aber in einer sich immer schneller wandelnden Welt, in der Wirtschaft global funktioniert und neue Technologien ganze Berufszweige verändern, galt bald als ewig gestrig, wer für Gerechtigkeit einstand. So verlor eine verunsicherte IG Metall viele Mitglieder. Doch Detlef Wetzel erlebte als Metaller-Funktionär, dass sich die Menschen nach Teilhabe sehnen. Er setzte auf diese Kraft: erst im kleinen Siegen, dann in Nordrhein-Westfalen, schließlich bundesweit als zweiter Vorsitzender der IG Metall. Der Erfolg: wieder steigende Mitgliederzahlen und eine machtvolle Bewegung der Basis für eine gerechtere Gesellschaft.
Detlef Wetzel schildert seinen Weg vom Werkzeugmacher zum zweiten Vorsitzenden der IG Metall und den Wandel der weltweit größten Einzelgewerkschaft in den letzten Jahrzehnten, den er entscheidend mitgeprägt hat.
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1 Ein neues Selbstbewusstsein
Ich finde, es gibt Momente, in denen Hoffnung Gänsehaut macht. Da stecken Menschen Tag für Tag Rückschläge ein, fühlen sich von der Politik nicht wahrgenommen und mit ihren Alltagssorgen alleine gelassen. Und dann, mit einem Mal, ist ein gutes Leben für alle wieder vorstellbar, ja mit Händen greifbar. Einen solchen Moment hält der 5. September 2009 bereit. Ein Samstag, mitten in einer der größten Finanz- und Wirtschaftskrisen der Weltgeschichte. Es ist eine Zeit im Dauerfeuer der Hiobsbotschaften: Seit die amerikanische Investmentbank Lehman Brothers kollabiert ist, jagen sich Berichte aus aller Welt über Bankenzusammenbrüche, Aktienverluste, Rettungsschirme, drohende Massenentlassungen, Notprogramme und Kreditklemme. Immer größere Milliardensummen aus Steuergeldern werden zur Rettung »systemrelevanter« Geldhäuser immer hektischer in bodenlose Fässer geschaufelt – angeblich »alternativlos«. Deutschland wird im Spätsommer 2009 seit einem Jahr nicht mehr von der Politik gelenkt, sondern die Politik erhält ihre Direktiven von anonymen Märkten, bei Nichterfüllung droht deren sofortiger Zusammenbruch. Dieses Land und seine Menschen, die eine der produktivsten Industriegesellschaften der Welt aufgebaut haben, sie werden von gierigen Finanzmanagern an den Rand des Abgrunds gebracht. Diese Situation hat aber nicht erst die Lehman-Pleite geschaffen. Der Boden dafür ist systematisch bereitet worden in den vergangenen Jahren, in denen neoliberales Gedankengut durch tausendfache Wiederholung in die Köpfe eingesickert und marktradikale Politik in Gesetzesform gegossen worden ist: Arbeitnehmerrechte, Sozialleistungen, Partnerschaft im Betrieb, maßvoller Wohlstand, Schutz der Schwachen – alles wurde erst »auf den Prüfstand gestellt« und dann vielfach für »nicht mehr finanzierbar« befunden. Alles im Namen angeblich unumgänglicher Reformen und eines sogenannten »Dritten Wegs«, von dem noch zu reden sein wird. Er sollte die Antwort auf den immer schnelleren Strukturwandel sein, auf die Alterung unserer Gesellschaft, die Konkurrenz durch aufstrebende Schwellenländer, technische Revolutionen wie das Internet und die Informationstechnologie. Gebracht hat der Dritte Weg den Menschen vor allem immer weiter wachsenden Druck. Entweder: Du bist zu langsam, nicht gut genug, andere sind stärker und werden dich ausmustern, du musst flexibler werden, Ansprüche aufgeben, nicht aufmucken, dich billiger anbieten! Oder: Du bist der König der Welt, nimm, was du kriegen kannst, bevor andere es dir wegschnappen, sei härter, gieriger, skrupelloser, such dein Glück in Vermessenheit und Entgrenzung, nicht in den alten, langweiligen Werten der verträglichen Normalität. Das sind die beiden Pole, zwischen denen das Land oszilliert, und diese Krise im Jahr 2008 tut ihr Übriges, um Depression und Hysterie gleichermaßen anzuheizen. Für mich als Gewerkschafter der IG Metall ist das fast unerträglich. Hunderttausende Beschäftigte der deutschen Industrie fürchten im September 2009 um ihre Jobs und ihre Zukunft. Viele haben ihn schon verloren, Hunderttausende sind in Kurzarbeit. Innerhalb weniger Tage waren allein in der Metallindustrie 150 000 Leiharbeiter entlassen worden. An diesem Septembermorgen in Frankfurt stehe ich mit tausenden Menschen im weiten Rund des Bundesliga-Fußballstadions. Bezeichnenderweise hat den Namen des Stadions eine Bank gekauft, die als eine der ersten durch die Steuerzahler »gerettet« werden musste. Doch am heutigen Tag ist dies nicht länger die Commerzbank-Arena. Rund 40 000 Metaller, angereist mit Bussen und Zügen aus der ganzen Republik, füllen die Sitzreihen und den Innenraum zur größten Einzelveranstaltung im ganzen Wahlkampf des Jahres 2009. Größer, als alle Parteien sie hätten organisieren können. Hier sind keine Menschen, die sich in der Defensive fühlen. Hier sind 40 000 Menschen versammelt, die wissen, dass sie für sehr, sehr viele andere stehen – gegen die zunehmende Ungerechtigkeit und für eine andere Zukunft. Hier sind Menschen zusammengekommen mit vergleichbaren Werten und ähnlichen Erfahrungen. Menschen, die die »Gierigen« in ihre Schranken weisen und sich ein gutes Leben zurückholen wollen. »Dieses Stadion heißt heute IG-Metall-Arena!«, ruft Moderator Manfred Breuckmann von einer der vier Bühnen, und die Menge jubelt. Breuckmann, den viele aus seiner Zeit als WDR-Sportreporter im Radio kennen, hat ein großes Herz, das außer für Fußball auch für Gerechtigkeit schlägt. Er trifft den Ton, genauso wie der Rapper Samy Deluxe oder Rock-Veteran Bob Geldof, die zusammen mit anderen Künstlern ein Kultur-Feuerwerk entfachen. Aber vor allem die ganz »normalen« Menschen stehen hier im Mittelpunkt. Schon am Morgen, bei der Auftaktkundgebung der IG-Metall-Jugend vor der Alten Oper, hat deren Sprecher Eric Leiderer der demonstrierenden Menge das Beispiel seines Vaters erzählt. Der gründete mit 23 Jahren eine Familie und kaufte mit 30 ein Haus, weil er sich sicher sein durfte, dass seine Ausbildung nicht in die Arbeitslosigkeit münden würde. »Das war mal normal in unserem Land!«, hat sein Sohn gerufen. Was heute normal ist, das schildern den vierzigtausend im Stadion, die ganz still werden, Betroffene wagen sich ans Mikrophon wie Claus Hartmann: »Als Leiharbeiter zu arbeiten heißt für mich, allein mit dem verdienten Geld die Familie nicht mehr ausreichend ernähren zu können.« Oder die Betriebsrätin Silvia Stelzer, Mutter von drei Kindern: »Wir wollen mit gutem Gewissen und ruhigem Herzen an unserer Arbeit sein, aber auch gleichwohl wissen, unsere Kinder sind gut betreut und wir können für sie da sein, wenn es notwendig ist!« Jörg Furkert aus Dresden berichtet von dem erfolgreichen Kampf seiner Belegschaft gegen eine Standortschließung. »Das Wichtigste war der Zusammenhalt der Belegschaft. Der Organisationsgrad stieg auf 80 Prozent. Wir waren streikfähig.« Eine ganze Reihe weiterer Kolleginnen und Kollegen berichten von ihren Erfahrungen. Die Menschen gehen mit. Mal klatschen, mal buhen sie, mal werden sie ganz still. Das liegt nicht nur am Mitgefühl – die Akustik in der Arena ist schlecht. Wir haben die teure Verstärkeranlage tagelang bis zum Optimum ausgesteuert, und dann ist in der Nacht ein Sturzregen durchs Stadiondach gedrungen und hat die Elektronik beschädigt. Der Ersatz, in wenigen Stunden aufgebaut, funktioniert nicht perfekt. Doch niemand lässt sich davon dieses Gemeinschaftserlebnis verderben. Denn die Menschen sind nicht zum Jammern hier. Sie haben Antworten mitgebracht, Bausteine für Lösungen vorbereitet – bei der größten Kampagne, die es in der IG Metall je gegeben hat: »Gemeinsam für ein gutes Leben!« Fast eine halbe Million Gewerkschafter, mehr als zehn Mal so viele, wie an diesem Tag in der Arena sind, haben uns schriftlich in ihren eigenen Worten einfache Fragen beantwortet: Was ist für dich ein gutes Leben? Was muss sich ändern? Was erwartest du von der Politik? Die ausgefüllten Fragebögen, die in der IG-Metall-Zentrale angekommen waren und aus denen nun in der Arena zitiert wird, sind voll mit unterschiedlichsten Ansichten und Forderungen. Im Grunde aber wollen alle Antwortgeber nicht mehr als fünf zentrale Gewissheiten: Sichere und faire Arbeitsverhältnisse. Eine gute Zukunft für die Kinder. Arbeit und Privatleben miteinander verbinden können. Eine sorgenfreie Existenz im Alter. Und ganz sicher nicht an letzter Stelle: eine gerechte Gesellschaft. Diese fünf Forderungen münden in einen ebenso selbstverständlichen wie radikalen Anspruch an die neu zu wählende Regierung in Berlin: »Macht wieder Politik für die Mehrheit der Menschen!« Kommt endlich wieder eurer Verantwortung nach! Die Kosten der Krise dürfen nicht mehr länger bei den kleinen Leuten abgeladen werden, während exorbitante Gewinne in wenige Taschen wandern. Das klingt nach einer simplen Rechnung und einer schlichten Parole, doch es bündelt die ganze Komplexität von fast einer halben Million Antworten. Nach dem Tag in der »IG-Metall-Arena« erhalte ich etwa 150 E-Mails, so viele wie nach keiner anderen unserer Veranstaltungen davor. Die meisten dieser Kolleginnen und Kollegen kenne ich gar nicht. Aber sie alle schreiben, das Erlebnis gemeinsamer Stärke und Zuversicht sei das Bewegendste gewesen. Es ist die Erfahrung neu erwachten Selbstbewusstseins und eines neuen Selbstverständnisses von Gewerkschaft, die nachwirkte. Die Süddeutsche Zeitung vom 7. September titelt: »Das Ende der Trillerpfeifen«. In der Unterzeile heißt es: »In Frankfurt präsentiert sich eine moderne IG Metall, die erstmals Arbeiter vor 40 000 Menschen sprechen lässt.« Für die FAZ bin ich anderntags der »Kollege für Kampagnen«, der »die Gewerkschaftsbewegung an die Basis und ins Fußballstadion« bringe. Wir sind endlich wieder in der Offensive und sie wird anhalten. Im Jahr 2011 gelingt es der IG Metall erstmalig seit mehr als 20 Jahren, als einzige politische Großorganisation wieder ein deutliches Mitgliederplus zu erreichen. Im April 2012 informiert eine Allensbach-Umfrage über uns Gewerkschaften: Die Gewerkschaften gewinnen in der Bevölkerung immer mehr an Ansehen. Und Die Zeit titelt am 26. 04. 2012: »Respekt, Kollegen. Die Gewerkschaften treten wieder selbstbewusst auf – das ist gut für den Wirtschaftsstandort Deutschland.« Das war nicht immer so. Vorausgegangen waren Jahre, ja Jahrzehnte des Mitgliederschwundes und Jahre eines Sortierungsprozesses innerhalb der IG Metall. Wir hatten es nicht leicht. Strukturwandel, Globalisierung, gesellschaftlicher Imageverlust und manchmal auch fehlende Zukunftsbilder machten uns zu schaffen. Von diesem Wandlungsprozess einer Gewerkschaft und meinem Weg als Gewerkschafter erzählt dieses Buch. Dieses...


Wetzel, Detlef
Detlef Wetzel, geboren 1952 in Siegen, absolvierte nach der Schule eine Lehre als Werkzeugmacher. Auf dem zweiten Bildungsweg machte er Abitur, studierte in Siegen Sozialarbeit und erwarb 1978 das Diplom. 1980 wurde er Gewerkschaftssekretär in der Verwaltungsstelle Siegen der IG Metall, deren Leitung er 1997 als Erster Bevollmächtigter übernahm. 2004 stieg er zum Bezirksleiter Nordrhein-Westfalen auf, seit November 2007 ist er Zweiter Vorsitzender der IG Metall.


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