Wetz | Die Magie der Musik | Buch | 978-3-608-93232-4 | sack.de

Buch, Deutsch, 439 Seiten, gebunden, Format (B × H): 134 mm x 211 mm, Gewicht: 540 g

Wetz

Die Magie der Musik

Warum uns Töne trösten
1. Auflage 2004
ISBN: 978-3-608-93232-4
Verlag: Klett-Cotta Verlag

Warum uns Töne trösten

Buch, Deutsch, 439 Seiten, gebunden, Format (B × H): 134 mm x 211 mm, Gewicht: 540 g

ISBN: 978-3-608-93232-4
Verlag: Klett-Cotta Verlag


Warum überwältigt uns Musik? Warum erliegen wir heute ebenso ihrer Magie wie frühere Generationen? Der facettenreiche historische Aufriß geht von vielfältigen Wirkungen der Musik aus: Ihr Bogen spannt sich von Alter, Klassischer und Neuer Musik über Kirchen-, Film- und Volksmusik bis Schlager, Jazz, Pop, HipHop, Dancefloor und Techno.

Jahrhundertelang wurde Musik als magische Verführerin gefürchtet. Trotzdem konnte die Menschheit dieser Versuchung nicht widerstehen. Soeben noch als bedrohlicher Sinnenrausch verworfen, galt sie bald sogar als Trägerin letzter Wahrheiten und Statthalterin großer Versprechen. Doch allzu hohe Ansprüche haben sie überfordert. Musik ist bloß zum Hören da! Sie ist ein Luxus, dem es gelang, sich unentbehrlich zu machen. Musik, eine Kulturdroge ohne Gesundheitsrisiko.

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Weitere Infos & Material


Teil I
Mängelbewirtschaftung - Trost ohne Musik

Die Last des Lebens
Ruinen - Zeugen entschwundener Zeiten
Steinerne Illusionen im Verfall
Sinnbilder vergänglicher Macht und Pracht
Ein schwacher Trost
Trauer und Trost
Notausgänge
Ein starker Trost
Nicht ganz bei Trost
Trostpflaster
Trost des Buches

Teil II
Schöne Illusionen - Musik ohne Trost

Nicht der Ton macht die Musik
Worte statt Akkorde
Wenn es der Musik die Sprache verschlägt
Der Wahrheit eine Note geben
Stimmung machen
Total tonal

Teil III
Klangvolle Notunterkünfte - Trost und Musik

Ganz Ohr sein
Kunstart und Lebensstil
Klang der Stille
Rätsel des Geschmacks
Leichte Musik ernst genommen
Rückzug ins Innere
Klanghilfen ohne Dogma
Hat man da noch Töne
Noten gegen Not
Trostloser Aufschrei
Musikalische Melancholie

Anmerkungen

Personenregister


Inhalt

Teil I
Mängelbewirtschaftung - Trost ohne Musik

Die Last des Lebens
Ruinen - Zeugen entschwundener Zeiten
Steinerne Illusionen im Verfall
Sinnbilder vergänglicher Macht und Pracht
Ein schwacher Trost
Trauer und Trost
Notausgänge
Ein starker Trost
Nicht ganz bei Trost
Trostpflaster
Trost des Buches

Teil II
Schöne Illusionen - Musik ohne Trost

Nicht der Ton macht die Musik
Worte statt Akkorde
Wenn es der Musik die Sprache verschlägt
Der Wahrheit eine Note geben
Stimmung machen
Total tonal

Teil III
Klangvolle Notunterkünfte - Trost und Musik

Ganz Ohr sein
Kunstart und Lebensstil
Klang der Stille
Rätsel des Geschmacks
Leichte Musik ernst genommen
Rückzug ins Innere
Klanghilfen ohne Dogma
Hat man da noch Töne
Noten gegen Not
Trostloser Aufschrei
Musikalische Melancholie

Anmerkungen

Personenregister

Teil I
Mängelbewirtschaftung
Trost ohne Musik

Die Last des Lebens

Alle menschliche Kultur ist ein Armutszeugnis! - Diese leicht dahingesagte, aber schwerwiegende Behauptung sei zunächst anhand dreier Beispiele aus der höfischen Geschichte erläutert: Mit dem französischen Sonnenkönig Ludwig XIV., einem Liebhaber von Gambenmusik, kamen am Ende des 17.°Jahrhunderts europaweit lange Perücken und hohe Schuhabsätze groß in Mode. Gleichzeitig entstand damals am Hof, wo der König ein eigenes Orchester unterhielt und den berühmten Komponisten Jean Baptiste Lully aushielt, die französische Küche mit ihren schweren Soßen, verkochten Gemüsen, Pasteten und Hechtklößchen. Seit dieser Zeit werden diese Erfindungen als Zeichen hoher Kultur gewertet. Bei näherem Hinsehen jedoch wird deutlich, daß die Perücke nur deshalb ein Symbol gehobener Lebensart werden konnte, weil Ludwig XIV. kaum noch Haare auf dem Kopfe hatte, der hohe Schuhabsatz, da der absolutistische Fürst kleinwüchsig blieb, und die französische Küche mit ihren pürierten Gerichten - im Grunde eine degenerierte italienische Adelsküche -, weil der Sonnenkönig im Schloß von Versailles zahnlos geworden war. Ganz in diesem Sinne gilt: Alle menschliche Kultur ist ein Armutszeugnis.

Ein solches muß sich die Menschheit, so seltsam es klingt, immer wieder von neuem ausstellen, wenn sie überleben und gut leben möchte. Allerdings verweist der Ausdruck Armutszeugnis hier nicht - wie üblicherweise - auf eine moralische Fehlleistung, sondern vielmehr auf die angeborenen Schwächen und Grenzen des menschlichen Daseins. Zu solchen Zeugnissen der menschlichen Armut gehören nicht bloß das Armenhaus und der Narrenturm, sondern ebenso der Petersdom in Rom und Schloß Schönbrunn bei Wien - nicht nur so traurige Werke wie Gustav Mahlers Kindertotenlieder und Benjamin Brittens War Requiem, sondern auch so heitere Stücke wie Händels Feuerwerksmusik und Bachs Orchestersuiten. Nur scheinbar hat die Kultur den Anschein ihrer Armseligkeit und Dürftigkeit durch den Glanz und Reichtum ihrer Werke abgelegt. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß sie jeden Zeugen menschlicher Not und Bedürftigkeit ausgestoßen habe. Näher betrachtet entspringt ihre Fülle sogar der menschlichen Angst, der Welt und dem Leben nicht gewachsen zu sein, was die Menschheit im Laufe der Geschichte echte Höchstleistungen erbringen ließ. Mit deren Hilfe gelang es ihr, teilweise die eigene Ohnmacht zu kompensieren und die Übermacht der Wirklichkeit zu distanzieren. Die eigentliche Geburtsurkunde der Kultur ist die menschliche Gebrechlichkeit, die deshalb auch mit Recht größere Erbansprüche auf ihre glanzvollen Werke erhebt als alle menschliche Erhabenheit und Größe. Allerdings verdeckt ihr Stilprunk für gewöhnlich die Nacktheit dieser Wahrheit hinter der Großartigkeit seines Scheins.

Aufs Ganze gesehen ist die menschliche Kultur der vielfarbige Ausdruck einer Armut, die sich lediglich erfolgreich zu helfen weiß. Genaugenommen erwächst sie einer Problem- und Notlage, in die der einzelne schon mit seiner Geburt gerät - nämlich im ganzen schutzbedürftig, ungesichert und ortlos zu sein. Der Mensch muß sein Dasein selbst führen und seinen Standort in der Welt aus sich heraus bestimmen. Hierbei vermag er sein Selbst- und Weltverständnis nur in ein instabiles Gleichgewicht zu bringen. Aufgrund seiner wesenhaften Ungeschütztheit, Ort- und Haltlosigkeit sind seine angestrebte Sicherheit und Geborgenheit für ihn stets nur das Ersehnte, niemals aber das endgültig Erreichte. Denn gänzlich kommt der einzelne aus dieser beunruhigenden Grundsituation seines Daseins nie heraus. Erst mit dem Tod lösen sich alle seine Sehnsüchte und Wünsche auf.

Auch als sozial und biologisch determiniertes Wesen muß sich der Mensch um sein sorgenvolles Dasein kümmern und sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, dessen Last ihm niemand abnehmen kann. Um es mit Friedrich Schillers Reiterlied zu sagen: 'Da tritt kein anderer für ihn ein, auf sich selber steht er ganz allein.' Zu diesem Ergebnis kam bereits vor Jahrtausenden der unbekannte Verfasser eines alten Mythos, dem zufolge Epimetheus alle Tiere auf der Erde erschuf, indem er an sie lebenswichtige Gaben mit ausgleichender Gerechtigkeit verteilte: Schwache Geschöpfe machte er schnell, langsame hingegen stark, und ihre nackte Haut schützte er mit Fellen. Als endlich die Reihe an den Menschen kam, hatte er bereits alle Gaben verteilt, so daß der Mensch als einziges Lebewesen leer ausging - nackt und schutzlos blieb. Verwirrt wandte sich Epimetheus an seinen Bruder Prometheus mit der Bitte um Rat, der daraufhin den Göttern das Feuer stahl, um es den Menschen zu bringen. Das Feuer steht für die Kultur - für jene Notgroschen, die weniger ein Mittel sind, um die Wahrheit zu verstehen, als vielmehr eine Hilfe, das Leben zu bestehen.

Doch kommt der Mensch in der Sorge um sich niemals wirklich zur Ruhe; schon das einfache Überleben versteht sich keineswegs von selbst. Überspitzt formuliert gilt sogar der Grundsatz: Solange man lebt, ist man gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen, denn etwas zustoßen kann einem jederzeit. Wie viele Ereignisse brechen unerwartet in unser Dasein ein und lassen uns dabei dessen Zerbrechlichkeit bewußt werden. Sie lassen uns auf schmerzhafte Weise spüren, daß - trotz aller Vorsorgemaßnahmen und Absicherungen - unser Lebenslauf unberechenbar bleibt. Gegen böse Überraschungen ist niemand gefeit.

Dem Wandel der Zeit und einem ständigen Wechsel der Verhältnisse ausgesetzt, leben wir stets in mehr oder weniger heiklen Situationen. Dabei werden unter Situationen solche Umstände verstanden, die uns bestimmte Möglichkeiten eröffnen, andere dagegen verschließen. In Situationen gerät man oder befindet man sich, man kann auf sie eingehen, mit ihnen muß man fertig werden, sie bestehen oder bewältigen. Man zeigt sich Situationen gewachsen, manchmal ist man von ihnen überfordert, dann ist man nicht mehr Herr derselben. Eine Situation kann sich zuspitzen, unerträglich werden. Hier wie sonst auch verlangt sie Klärung. Bisweilen kommt man aus Situationen nicht mehr heraus. In solchen Fällen ist man gezwungen, sich ihnen zu ergeben. Situationen kennzeichnen die individuellen Lebensumstände, die sich einem erschließen, wenn man sich zu einem bewußten Leben entscheidet. Jede Situation besteht aus einem bloß hinnehmenden Moment und einem Spielraum für mögliche Entscheidungen. So setzt sie sich zusammen aus einer bestimmten Lage, in der man sich gerade befindet und gleichsam gefangen ist, und der Möglichkeit oder Notwendigkeit, hierauf zu antworten. Situationsgebundenheit und Situationsgestaltung gehören zusammen, wobei die Situation selbst das Verhalten in eine bestimmte Richtung lenken kann, unsere Reaktionen darauf mehr oder weniger stark beeinflußt, nahelegt oder sogar auslöst.

Die Sorge um Existenzsicherung bringt uns oft in schwierige, prekäre, äußerst belastende Situationen. Genauer betrachtet werden wir sogar fast überall - wo immer wir uns aufhalten und bewegen - mit der Last des Lebens konfrontiert, wodurch wir immer wieder unsere Grenzen zu spüren bekommen. Außerdem liegt auf der menschlichen Existenz bereits von Natur aus eine bedrückende Schwere, die den einzelnen manchmal ohne ersichtlichen Grund in tiefe Schwermut fallen läßt. Weit davon entfernt, bloß Ausdruck einer Gemütskrankheit zu sein, die durch Angstzustände, tiefe Depression und Lebensüberdruß gekennzeichnet wäre, bezeichnet Schwermut eine in den Wurzeln der menschlichen Existenz begründete Befindlichkeit, die hauptsächlich von dem Druck herrührt, daß wir unser Leben selbst führen müssen. Denn das Leben wird einem nicht nur geschenkt, sondern auch auferlegt und zugemutet; es muß getragen und übernommen werden, was sich ganz elementar an unseren Stimmungen zeigt. Diese sind darum nichts, was die Menschen bloß gelegentlich überkommt, keine flüchtigen Begleiterscheinungen, sondern prägender Untergrund ihrer allgemeinen Verfassung - eine das gesamte Selbst- und Weltverständnis tragende Grundschicht.

Aus diesem Grund versinkt selbst das heitere, unbeschwerte, in jeder Beziehung wohltemperierte Gemüt, dem ein glückliches Los beschieden ist, gelegentlich in müßigem Trübsinn und dumpfer Trauer, ohne daß sich der Betroffene daraus leicht befreien könnte. Es liegt geradezu in der Eigenart des menschlichen Daseins, hin und wieder von solchen Gefühlen heimgesucht zu werden, die manchmal jede Lebensfreude zu ersticken scheinen. So ruht eine melancholische Stimmung auf dem Grunde einer jeden Kreatur, die um ihre Sorgen, Ungewißheiten und Gefährdungen, die Ohnmacht und Sterblichkeit ihrer Existenz weiß.

Deshalb lassen sich gehobene Lebensgefühle wie heitere Ausgelassenheit oder lustiges Fröhlichsein viel leichter von gedrückten Stimmungen ableiten als umgekehrt, denn bedeuten erstere doch hauptsächlich Entlastung vom Druck des beschwerlichen Alltags, der als das Ursprünglichere den sogenannten gelösten Befindlichkeiten vorausgeht und zugrundeliegt. Sorgen ergeben sich gewissermaßen von allein; sie liefert das Leben frei Haus, gleichsam gratis. Das Gefühl der Sorglosigkeit dagegen muß in jedem Augenblick gewollt und gesucht werden. Demnach ist menschliches Leben sogar ohne beklemmende Not und Angst mühsam und schwer, und es bedarf keiner besonderen Neigung zu Trübsinn und Einsamkeit, um dies zu verstehen. Bildhaft formuliert: Wir wissen nahezu alle auch ohne den Anblick eines Menschen mit in die Hand gestützter Wange, hängenden Lippen und zu Boden gesenktem Blick, was Daseinssorge heißt. Ähnlich kennen wir fast alle selbst ohne den Glauben an Saturn, den Gott und Planeten der Melancholie, jene Schwermut, die uns die Beschwerlichkeit des eigenen Lebens spüren läßt.

Umgetrieben von bisweilen quälenden Sorgen um Gesundheit und Wohlergehen, ist der einzelne aber nicht bloß auf Selbsterhaltung, sondern gleichfalls auf Sinnerfüllung bedacht. Dies trifft besonders auf die moderne Gesellschaft zu, in der mehr Überfluß als Knappheit zu herrschen scheint, die Menschen eher von Sinnkrisen als Überlebenskrisen heimgesucht werden, da hierzulande fast niemand mehr unter materieller Not zu leiden hat. Zwar wird auch das heutige Leben von zahlreichen anonymen Mächten teilweise bis ins Detail beherrscht, alles in allem aber hat sich der Möglichkeitsraum der Menschen in den letzten Jahrzehnten ständig vergrößert. Mittlerweile kann der einzelne oft zwischen beinahe unendlich vielen Erlebnisangeboten wählen: Fernsehprogrammen, Sportarten, Reisezielen, Freizeitveranstaltungen und Konsumartikeln der unterschiedlichsten Art, wozu auch die Musik gehört. Im Gegensatz zu früher verfügen die heutigen Menschen über große Spielräume, ihre Lebenwirklichkeit so zu gestalten, wie sie es möchten. Sie haben die Wahl zwischen einem vielfältigen Angebot, dessen Nutzung allerdings nur bei entsprechendem Einkommen und genügend Lebenszeit möglich ist, worüber nicht jeder in ausreichendem Maße verfügt. Aufs Ganze gesehen aber sind Lebensstandard, Freizeit, Bildung und technischer Fortschritt in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen, die Erlebnisangebote musikalischer Art eingeschlossen. So kann sich heute fast jeder per Knopfdruck die verschiedensten visuellen und akustischen Reize verschaffen. Aus diesem Grund spricht man in diesen Tagen auch gerne von Erlebnisgesellschaft, in welcher der Sinn des Lebens hauptsächlich durch die Qualität der Erlebnisse definiert wird. Alle möchten ein einigermaßen schönes und interessantes Leben führen, in dem angenehme Empfindungen und Stimmungen nicht bloß Begleiterscheinungen unserer alltäglichen Verrichtungen sein sollen, sondern deren eigentliches Ziel. Das erlebnisreiche Dasein ist inzwischen für viele zur wichtigsten Lebensaufgabe geworden.

Wie groß ist darum die Angst, günstige Gelegenheiten zu versäumen und einmal erfahrenes Glück bald wieder zu verlieren! Verständlicherweise fürchten heute viele, das eigene Leben zu verfehlen, einmalige Chancen zu verpassen, falsche Entscheidungen zu treffen oder die Risiken, die zahlreiche Entscheidungen in sich bergen, nicht aushalten zu können. Jedermann weiß, daß sich Geschehenes nur schwer rückgängig, geschweige denn ungeschehen machen läßt; es hat sich unwiderruflich ereignet.

Sollten aber die eigenen Lebenswünsche doch einmal in Erfüllung gehen, wie viele bleiben dann trotzdem unzufrieden! Ein Glückspilz ist nur selten glücklich, weil es ein Dauervergnügen ohne Genußverschleiß nicht gibt. Das Nachlassen der Erlebnisintensität - ein Lustverlust - steht immer zu erwarten, ist geradezu unvermeidlich, weshalb bei vielen bereits im Moment der Erfüllung die Suche nach dem Neuen schon wieder beginnt: Soeben am Ziel angelangt, drängt sich sogleich die Frage auf, wohin die nächste Reise gehen soll. Nur selten hat das einmal Erlangte für den einzelnen bleibenden Wert. Bald schon stellen sich Langeweile und Unzufriedenheit ein, die gerade in der Gegenwart zu einer erhöhten Nachfrage nach immer mehr Neuem und damit zu einem Anstieg des Erlebniskonsums geführt haben.

Doch ergibt sich diese Verdichtung auch daraus, daß zahlreiche Erlebnisse den Sinnhunger der Menschen weniger sättigen als vielmehr anregen, wenn nicht sogar anstacheln. So entsteht ein unersättliches Verlangen nach immer mehr Spaß und Vergnügen, den Genuß an hoher Kultur eingeschlossen. Dabei geht Erlebnishäufigkeit - sicherlich ein wichtiger Wachstumsfaktor der Unterhaltungsindustrie, der sich zum Teil aus der überreizten Angst der Menschen vorm Verpassen nährt - häufig auf Kosten von Erlebnistiefe. Die moderne Konsumwirtschaft setzt gewissermaßen auf diese Angst vor entgangener Lebensfreude sowie auf die Sehnsucht nach dem immer Neuen zur Vermeidung von Langeweile - und antwortet hierauf mit einem nahezu unbegrenzten Erlebnisangebot.

Da nun in der modernen Erlebnisgesellschaft mit ihren vielfältigen Möglichkeiten der einzelne aber für seinen Lebenssinn hauptsächlich selbst verantwortlich ist, wird er durch diese Aufgabe leicht überfordert, verunsichert und schnell enttäuscht. Das Projekt des schönen Lebens ist ein schwieriges Unterfangen, schon weil das menschliche Anlehnungs- und Orientierungsbedürfnis genauso groß ist. Menschen suchen zwar Freiheit und Unabhängigkeit, aber Sicherheit und Ordnung auch. Seit jeher empfinden sie Angst vor dem Unbekannten, Fremden, dem Chaos und Regellosen. Solch bedrohlichem Ordnungsvakuum setzten sie schon immer vereinfachende Strukturmodelle entgegen, um so mit der undurchdringlichen Wirklichkeit besser zurechtzukommen. Menschliches Leben ist nun einmal gewisser Regelungen bedürftig; sein Gelingen bleibt stets von tragenden Ordnungs- und Deutungsmustern abhängig, die dem einzelnen Schutz und Sicherheit bieten. Sicherlich gründen viele solcher Konstruktionen auf verkappten Wunschträumen, weshalb der Verdacht zu Recht besteht, daß solche Modelle nie die volle Wirklichkeit treffen. Aber manchmal kann es für das eigene Überleben notwendig sein, die Dinge einfacher zu sehen, als sie in Wirklichkeit sind. Nicht immer will man es so genau wissen und - noch weniger - es nehmen müssen.

Hierzu paßt, daß selbst in der offenen Gesellschaft mit zahlreichen Wahlmöglichkeiten die meisten Menschen ihr Leben nur so weit ordnen können, wie sie ihren individuellen Daseinsentwurf an allgemeinen Existenzmustern und Interpretationsmodellen ausrichten. Erfahrungsgemäß wandeln sich diese unter dem aufgewühlten Oberflächenchaos der Freiheit nur langsam. Schon deshalb gleichen sich viele Lebensgeschichten in äußerer Hinsicht - trotz aller Individualität. Schon das spricht für die Richtigkeit der Befürchtung, daß die meisten Zeitgenossen ohne solche Angebote typischer Daseinsmuster hoffnungslos überfordert wären. Es würde sie schlichtweg überanstrengen, so zu leben, wie sie wollen. Denn so schön es auch ist, daß heute jeder sagen darf, was er will - häufig weiß der einzelne gar nicht, was er eigentlich möchte. Dieses Problem wäre kaum lösbar, gäbe es nicht eine Reihe vorbildhafter Lebensentwürfe, an denen man sich orientieren könnte.

Nun mögen diese ausschauen, wie sie wollen - ob bürgerlich, gehoben oder alternativ, das Gefühl, das einmal Erreichte sei genug, stellt sich bei vielen im Leben nur selten ein. Häufig verachten die Menschen gerade das, was sie haben, und sehnen sich ausgerechnet nach dem, was sie nicht besitzen. Fernweh, die Trauer um eine unwiederbringliche Vergangenheit und die Sehnsucht nach einer unerreichbaren Zukunft lassen sie oft nicht zur Ruhe kommen - dem Wanderergedicht Georg Philipp Schmidts gemäß: 'Wo du nicht bist, dort ist das Glück.' In der Philosophie wird diese innere Zerrissenheit 'unglückliches Bewußtsein' genannt, das voraussetzt, daß Menschen überhaupt Wünsche und Erwartungen haben; ohne die Möglichkeit hierzu wären Enttäuschungen und Überraschungen grundsätzlich undenkbar. Doch ein Leben frei von jeder Erwartung gibt es nicht.

Im normalen Alltag bleiben uns Enttäuschung und Überraschung nur dann erspart, wenn wir unsere Erwartungen abgesenkt haben, uns also mit dem jeweils Vorhandenen begnügen, oder wenn sich alle unsere Erwartungen vollständig erfüllen, unsere Bedürfnisse und deren Befriedigung decken - das Leben einigermaßen hält, was es verspricht. Allerdings gilt das gleiche auch für den Fall, daß wir mit dem Gefühl, uns in dieser Welt auf nichts verlassen zu können, auf alles gefaßt sind. Wer mit allem rechnet, muß keine bitteren Enttäuschungen und bösen Überraschungen befürchten. Nur kann so niemand leben; jeder wäre von einer solchen Einstellung hoffnungslos überfordert, wie andererseits ein Leben, in dem Bedürfnis und Erfüllung absolut zueinanderpassen, bloß ein erträumtes Paradies ist, aus dem wir schon immer vertrieben sind. Deshalb wartet man auf ein Leben jenseits aller Enttäuschungen und Überraschungen auch völlig vergebens.

Erreicht man aber dennoch einmal seine Ziele, so mischt sich in die Freude über das erlebte Glück häufig wieder ein Gefühl der Enttäuschung, was nicht notwendigerweise mit Übererwartung und Undank zusammenhängen muß. Dies kann ebenso damit zu tun haben, daß unsere Vorstellungen manchmal stärker als das Vorgestellte sind. Tatsächlich träumen wir oft von einem Glück, hinter dem die Wirklichkeit selbst dann zurückbleibt, wenn sie alle unsere Träume erfüllt, was selten genug der Fall ist.

Aber auch sonst kann mit der Verwirklichung unserer Wünsche ein Gefühl schwermütiger Leere einhergehen: die sogenannte 'Melancholie der Erfüllung'. Jetzt fehlen dem einzelnen weiterführende Aufgaben für sein Leben, das trotz allem Erreichten weitergeführt werden muß. Darum spricht man in solchen Fällen auch gerne von Doppeltragödie der menschlichen Existenz: der einen, nicht erreichen zu können, was man möchte; der anderen, alle seine Wünsche erfüllt zu bekommen.

Hinzu kommt die Erfahrung der eigenen körperlichen und geistigen Unzulänglichkeit. Menschliches Dasein ist in jeder Beziehung endlich - vornehmlich in zeitlicher: Keine Minute kehrt wieder, keine versäumte Stunde läßt sich zurückholen, kein Tag wird noch einmal gelebt. Es gibt keinen Sieg über die Flüchtigkeit der Zeit; alles geht vorüber und zunichte. Wie belanglos erscheint da alles menschliche Denken und Tun. Aber damit nicht genug, vergegenwärtigen wir uns bloß die vielen kleinen Tode, mit denen wir schon zu Lebzeiten fertigwerden müssen - wenn etwa ehemalige Freunde für einen 'gestorben' sind, Gefühle für andere in einem 'absterben', Feinde, die man auf den 'Tod' nicht leiden kann, von einem 'totgeschwiegen' und 'mundtot' gemacht werden. Nicht vergessen seien all die schmerzlichen Verluste, Trennungen und Abschiede, die wir im Leben unvermeidlich erleiden müssen und die uns oft verlegen, rat-, wenn nicht gar hilflos machen, dabei Ohnmachtsgefühle, Trauer und Schwermut hervorrufen - mit denen wir aber dennoch irgendwie fertigzuwerden haben.


Wetz, Franz J.
Franz Josef Wetz, geboren 1958, studierte Philosophie, Germanistik und Theologie; 1989 Promotion und 1992 Habilitation an der Universität Gießen. Von 1992 an war Wetz in der Ausbildung von Lehrern tätig, seit 1994 ist er Professor für Philosophie und legte zahlreiche kontroverse Publikationen vor.

Franz Josef Wetz, geboren 1958, studierte Philosophie, Germanistik und Theologie; 1989 Promotion und 1992 Habilitation an der Universität Gießen. Von 1992 an war Wetz in der Ausbildung von Lehrern tätig, seit 1994 ist er Professor für Philosophie und legte zahlreiche kontroverse Publikationen vor.



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