Kriminalerzählungen
E-Book, Deutsch, 456 Seiten
ISBN: 978-3-7583-5854-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Kerstin Werner
Das Geständnis
Dreieinhalb Jahre muss ich hier im Frauengefängnis absitzen. Man hat mich in einer Einzelzelle untergebracht, worüber ich sehr froh bin. Ich habe alles, was ich brauche: eine Pritsche, einen Tisch mit Stuhl, einen Schrank mit meinen Sachen, ein kleines Regal mit Büchern, die ich mir hier in der Bibliothek ausgeliehen habe, ein Waschbecken und ein WC. Ich will allein sein, mit niemandem sprechen. Mich interessieren die Geschichten der anderen Frauen nicht, oder besser gesagt – nur wenig. Ich muss mit meiner eigenen Geschichte fertig werden. Sie verfolgt mich bis in meine Träume. Es sind immer wiederkehrende Alpträume, die mir Angst machen. Anfangs fand ich nachts gar keinen Schlaf, die Gedanken und furchtbaren Bilder kreisten in meinem Kopf umher, doch seitdem ich in der Wäscherei arbeiten darf, bin ich so erschöpft, dass ich wieder schlafen kann. Nur die Alpträume werde ich nicht mehr los. Man hat mir erlaubt, einen Stift und ein Notizbuch bei mir zu haben. Meine Gefängnispsychologin riet mir, alles aufzuschreiben, was passiert ist, auch wenn der Prozess bereits beendet ist. Es sei für meine weitere Persönlichkeitsentwicklung sehr wichtig, denn nur so könnte ich das Geschehene besser verarbeiten und wieder zu mir selbst finden. Ich habe alles gestanden, der Druck war zu groß, ich hielt es nicht mehr aus. Dennoch habe ich nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Hat mein Leben überhaupt noch einen Sinn? Ich sitze an meinem kleinen Tisch und schlage mein Notizbuch auf, welches mir Susan auf meine Bitte hin kürzlich mitgebracht hat. Ein schlichtes Buch mit festem Einband, ohne Zeilen, jede Seite schneeweiß. Und leer. Wo soll ich anfangen? Ich habe Ralf in einer Bar kennengelernt. Als ich mit meinem Praktikum in einem Pflegeheim begonnen hatte, ging ich abends oft dorthin, um einfach nur abzuhängen, auf andere Gedanken zu kommen und neue Leute kennen zu lernen – und vor allem um Abstand zu gewinnen vom zermürbenden Alltag im Pflegeheim. Susan, die schon länger im Heim arbeitete, nahm mich einmal mit ins Lokal, und seitdem fand ich Gefallen daran und konnte nicht mehr davon lassen, es war wie eine Sucht und schon am Morgen freute ich mich auf den Abend. Das schien für mich das eigentliche Leben zu sein, dort fühlte ich mich frei und sorglos. Ich zweifelte immer mehr an meinem Berufswunsch, denn so anstrengend und furchtbar hatte ich mir die Arbeit im Pflegeheim nicht vorgestellt. Die alten Menschen krallten sich an mir fest, sie wollten reden, mich anfassen, aber ich hatte keine Zeit, ihnen länger zuzuhören. Mir fiel es schwer, sie zu berühren, mir war schlecht vom Geruch, der von ihnen ausging. Aber da musste ich durch. Ich musste sie waschen, füttern und trösten. Das Schlimmste aber war das Wechseln der Windeln. Für mich eine Katastrophe, aber ich schaffte es. Stolz war ich darauf nicht, mich bedrückte die Arbeit, und ich war froh, wenn ich nachmittags das Heim verlassen konnte. So hatte ich mir mein Praktikum nicht vorgestellt. Wenn ich wieder zu Hause war, wurde ich den Geruch in der Nase nicht los, ich sah die Bilder vor mir, wie die Alten in ihren Rollstühlen saßen und vor sich hindösten. Es war ein Jammer. Ein Elend. Ich konnte zu Hause nicht abschalten. Dennoch war es mein eigener fester Entschluss, als Altenpflegerin zu arbeiten. Im zwölften Schuljahr zog ich in eine Einraumwohnung, da meine Eltern sich schon seit einigen Jahren getrennt hatten und ich nur noch raus wollte. Kaum war ich eingezogen, lernte ich meine Nachbarin kennen, eine kleine rundliche Frau, zweiundachtzig Jahre alt, deren Mann bereits vor neun Jahren verstorben war und die nun ganz allein in ihrer Wohnung lebte; leider hatten sie keine Kinder. Frau Jahnke war sehr lieb zu mir und verwöhnte mich wie eine Großmutter. Hin und wieder ging ich für sie einkaufen oder holte ihr Medikamente aus der Apotheke, und dafür war sie mir dankbar. Manchmal lud sie mich zu einer Tasse Kaffee ein, dann saßen wir gemütlich in ihrem Wohnzimmer und plauderten. Eigentlich hatte ich gar keine Zeit, denn ich musste für das Abitur lernen, meine Noten sahen nicht sehr rosig aus. Eines Tages sagte mir Frau Jahnke, dass sie sich in einem christlichen Seniorenheim angemeldet habe, denn sie wüsste nicht, wie lange sie noch allein zurechtkäme. Sie hatte Geld dafür gespart und hoffte nun auf einen Platz, auch wenn sie wusste, dass es Jahre dauern könnte, solange sie noch kein Pflegefall sei. Das beeindruckte mich und seitdem reifte in mir der Entschluss, Altenpflegerin zu werden. Und da ich vorhatte, ein Freiwilliges Soziales Jahr nach dem Abitur zu absolvieren, bewarb ich mich zunächst für ein einjähriges Praktikum in dem christlichen Seniorenheim, das sich meine Nachbarin ausgesucht hatte. Doch leider war dort kein Praktikumsplatz frei, sodass ich es in einem anderen Pflegeheim probieren musste und dort angenommen wurde. Meine anfängliche Euphorie hatte sich aber schnell gelegt, und ich zweifelte immer mehr, ob ich überhaupt mein Praktikumsjahr durchhalten würde. Ich hätte niemals in meinem Leben gedacht, dass die tägliche Arbeit im Pflegeheim so anstrengend sein kann, dass ich nicht einmal zu Hause abschalten konnte. Auch für meine Nachbarin fand ich kaum noch Zeit, ich war so erschöpft, dass ich mich erst hinlegen musste, um abends wieder fit zu sein. Denn nur in der Bar, so schien es mir, fand ich genügend Ablenkung; ich trank mit Susan und einigen Männern ein Bier, sie schienen sich zu freuen, uns zu sehen, denn Frauen waren hier eindeutig in der Minderheit, und es ging oft sehr lustig zu. Tom konnte Witze erzählen wie kein anderer. Er war noch Lehrling, wurde aber von seinen Kollegen akzeptiert. Sie mochten ihn, er strotzte so vor Optimismus, dass es für alle ansteckend war. Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, auch allein dorthin zu gehen, immerhin war ich erst neunzehn, aber die Männer, die um vieles älter waren als ich, taten mir nichts Böses. Ihre Ausgelassenheit gefiel mir. Wenn Susan keine Spät- oder Nachtschicht hatte, setzte sie sich aber sofort zu mir, und manchmal redeten wir von Frau zu Frau, leise, damit die Männer es nicht hören konnten. Das Lokal lebte von seinen Stammkunden, aber immer wieder begegneten mir auch fremde Gesichter. Oft beobachtete ich sie und fragte mich, ob sie zufrieden mit ihrem Leben waren. Und da saß Ralf, etwas abseits von der Bar, an einem kleinen Tisch neben einem Fenster. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Er wirkte traurig. Immer wieder schaute ich zu ihm herüber, bis unsere Blicke sich trafen. Am nächsten Abend sah ich ihn wieder. Er kam mir so verloren vor, irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Auf einmal verspürte ich das Bedürfnis, zu ihm zu gehen, aber ich traute mich nicht. Erst als ich begriff, dass auch er mich beobachtete, wurde mir ganz heiß. Ich saß wie angewurzelt auf meinem Stuhl und umklammerte mein Glas Bier. Den Männern hatte ich mich an diesem Abend nicht angeschlossen, mir war nicht zum Lachen zumute. Im Heim war ein Mann qualvoll an einer Lungenentzündung verstorben, obwohl er mit Morphiumspritzen versorgt wurde. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen. Ich weigerte mich, ihn zu waschen, und das brachte mir großen Ärger ein. Aber ich war doch nur Praktikantin! Wie sollte ich einen Toten waschen? Ich hatte einfach Angst. Ich wollte mit jemandem darüber reden, aber Susan fehlte mir schon seit einigen Tagen, sie hatte die ganze Woche Nachtdienst. Als ich mein Bier ausgetrunken hatte, nahm ich all meinen Mut zusammen und ging zu ihm hinüber. Er schaute mich verdutzt an, sagte aber nichts. „Hi. Ist hier noch frei?“ Er nickte. „Ich bin Grit“, sagte ich und setzte mich. Er schwieg. „Was machen Sie so? Sind Sie oft hier?“ Er zuckte mit den Schultern und schien zu überlegen, was er mir antworten sollte. „Ich gehe fast jeden Tag hierher, um abzuschalten“, sagte ich und wartete auf eine Reaktion. „Ich mache gerade ein Praktikum in der Altenpflege. Ist nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt habe.“ Er schaute mir lange in die Augen, bis ich seinem Blick nicht mehr standhielt. Am liebsten wäre ich aufgestanden, ich kam mir verdammt blöd vor. Warum erzählte ich ihm das? „Du kannst ruhig du zu mir sagen“, sagte er plötzlich. „Ich bin Ralf. Ich arbeite als Mikrobiologe.“ „Wow.“ „Willst du einen Whisky?“ „Weiß nicht. Hab so etwas noch nie getrunken.“ Ralf bestellte uns jedem einen Whisky und das Zeug schmeckte mir erstaunlicherweise gut, auch wenn es mir im Hals brannte. Nach dem zweiten Glas war ich betrunken. Ich verspürte auf einmal keine Hemmungen mehr. Ich erzählte ihm vom Altenheim und er hörte mir aufmerksam zu. Es stellte sich heraus, dass sein Großvater im selben Heim untergebracht war, allerdings auf der Demenzstation. Gegen halb elf wollte ich nach Hause. Ralf hatte nichts von sich erzählt, aber ich wollte ihn auch nicht bedrängen. Nur eine Frage schoss mir unentwegt durch den Kopf: War er verheiratet oder solo? Seit diesem Tag traf ich ihn oft in der Bar, aber nie kam er auf mich zu. Das verunsicherte mich, doch sobald ich mich zu ihm...