E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-95765-774-9
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wolf Welling ist das Pseudonym für Wolfgang Pippke, geboren 1943, wohnhaft in Soest. Dozent im Verwaltungsbereich (Organisation, Personal, Management). Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen. Als Jugendlicher aktiv im SF-Fandom, schreibt seit einigen Jahren SF-Storys für EXODUS, NOVA und Anthologien. Drei seiner Erzählungen erreichten vordere Plätze auf der Shortlist für den Kurd-Laßwitz-Preis (Rubrik Kurzgeschichte). 2018 erschien sein SF-Roman »Die Wächterin« und 2013 seine Story-Sammlung »Zwischenzonen« im Verlag p.machinery.
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Kleiner Wolf und Mario
18
Wolf war gerade auf dem Nachhauseweg von der Schule, hatte den Bus verlassen, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Das waren keine zehn Minuten Weg, aber es war ziemlich heiß, und er schwitzte. Trotz der Schwüle hatte es kein Hitzefrei in der Schule gegeben, was er ziemlich blöd fand. So schwitzten halt alle, alle in der Klasse, alle in der Schule und sogar die Lehrer. Die eigentlich noch mehr als alle anderen, weil sie vorne rumturnen mussten, um den gelangweilten Kids was beizubringen, was die nicht interessierte. Das war an dem heißen Tag sowieso vergebliche Mühe gewesen. Die Mischung aus dreißig Grad und hoher Luftfeuchtigkeit hatte wohl alle auch etwas hitzig werden lassen. Jedenfalls hatte Wolf sich mit seinen Kumpels darüber gestritten, ob sie Mädchen in ihre Bande aufnehmen sollten oder nicht. Bernd, sein Freund aus der Grundschule, und Wolf waren strikt dagegen, weil sie Mädchen aus Prinzip ablehnten. Das sei nun mal eine andere Gattung Mensch, war ihre Meinung, und immerhin waren die beiden da schon zehn Jahre alt, und da hatten sie schon so manches über Mädchen gehört. Sie meinten, sie hätten genug gehört, um zu wissen, dass Mädchen in einer Jungenbande nichts zu suchen haben: Die sind kitschig, plappern zu viel, haben wundersame Interessen und komische Ideen, wollen ihren Willen mit allen möglichen Tricks durchsetzen und gehen einem alles in allem auf die Nerven. Charlie war da anderer Meinung, und Bernd und Wolf war schon klar, warum. Schließlich waren er und Elke »befreundet«, was immer das hieß. Sie hockten des Öfteren zusammen und quatschten viel miteinander und so. Manchmal hatte Charlie sogar den Arm um sie gelegt. Meine Güte, war das peinlich, meinten die beiden unter sich. Charlie plädierte also dafür, Elke und ihre Freundin Ulrike in die vierköpfige Clique aufzunehmen. Das wäre doch eine Bereicherung, die Mädels könnten neue Aspekte in das Team einbringen. Aber Bernd und Wolf waren total dagegen (Bernd schloss sich eigentlich immer seiner Meinung an, war halt ein guter Freund), und Alfons enthielt sich wie üblich. Der hatte nie eine eigene Meinung, hörte sich alles an, sah von einem zum anderen, und wenn er nach seiner Meinung gefragt wurde, sagte er: »Ist mir eigentlich egal!« Die Clique hatte sich auf dem Schulhof nicht einigen können. Elke und Ulrike standen abseits, taten so, als ginge sie das alles nichts an, tuschelten miteinander und warfen den Jungs immer wieder verstohlene Blicke zu. Die beschlossen, sich am Nachmittag wieder zu treffen, um die Angelegenheit endgültig zu klären. Wolf dachte über die Sache nach, als er von der Bushaltestelle nach Hause ging. Als er so in Gedanken war, klingelte sein Handy mit der Star-Wars-Melodie. Als er es aus der Tasche zog und einschaltete, geschah es. Es war wie ein Sog, und ehe er sich versah, war er raus aus seiner Welt und in einer anderen, auf der anderen Seite, in einem unbekannten Land. Er fiel auf die Seite und schaute sich verdattert um. Um ihn herum standen ihm fremde Leute, die ihn neugierig ansahen und warteten. Er rappelte sich auf, blieb auf dem Boden sitzen und fragte: »Hey, was geht denn hier ab? Wo bin ich hier? Wer seid ihr?« Eine Frau im mittleren Alter kam zu ihm und beugte sich über ihn. Sie hatte eine kräftige, füllige Gestalt und trug irgendwelche Schlabberhosen, einen Rolli und eine helle Jacke. Sie hatte freundliche braune Augen und strahlte eine große Ruhe aus. Später erfuhr er, dass sie Judith hieß und für alle Neuankömmlinge zuständig war, weil sie so eine gütige Aura hatte. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie zu Wolf. »Du bist in guten Händen. Du gehörst ab jetzt zu uns. Wir sorgen für dich.« Sie hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Dieses ganze Gerede beruhigte ihn aber keineswegs. »Wo bin ich hier? Wie bin ich hierhergekommen?« »Du bist hier auf Wiehl, dem Land der Sternengötter. Dies ist ein guter Ort. Hier gibt es nichts Gefährliches. Du bist in unserer Obhut. Wie heißt du?« »Wolf. Aber noch mal: Wie bin ich hierhergekommen?« »Es gab einen Transfer.« »Einen Transfer? Was für einen Transfer?« »Naja, so eine Art Übertragung deiner Person. Sei unbesorgt! Alles ist gut!« »Nichts ist gut! Wer seid ihr?« »Wir sind die Auserwählten, so wie du.« »Ich und auserwählt? Von wem denn?« »Von den drei Sternengöttern, die über uns stehen, uns leiten und beschützen. Dort oben kannst du sie erkennen.« Wolf hob den Kopf und erblickte in milchiger Helligkeit des Himmels drei helle Punkte in Form dreier Augen. Er war verständlicherweise immer noch verwirrt. »Was haben diese Götter mit mir zu tun?« »Sie haben dich auserkoren, zu uns zu stoßen.« Die Frau richtete sich auf und half ihm beim Aufstehen. »Ich will nicht auserkoren sein, ich will nach Hause.« »Das geht leider nicht. Es gibt keine Rückkehr. Dies ist deine neue Welt.« »Was ist das für eine Welt?« »Sie heißt Wiehl. Du wirst dich an sie gewöhnen. Gewöhnen müssen!« »Ich will aber nach Hause. Meine Mutter vermisst mich.« »Ab jetzt sind wir deine Eltern.« Und an alle gewandt meinte sie: »Wir wollen nun unser Begrüßungsritual aufführen.« Daraufhin bildete einige aus der Gruppe einen Kreis um ihn, alle fassten sich an den Händen, sangen ein ihm fremdes Lied und tanzten dabei. Wolf betrachtete verwundert das merkwürdige Geschehen. Sie gaben ihm einen Rucksack und eine Jacke, denn es war nur so um die zwanzig Grad warm, und wo er herkam, war es recht heiß gewesen, und er trug zwar Jeans, aber nur ein T-Shirt darüber. Der Anführer der Gruppe, der Big Daddy genannt wurde, hatte bisher abseitsgestanden und nicht mitgetanzt. Er stellte sich mit finsterer Miene vor, begrüßte ihn oberflächlich und erklärte ihm, alle müssten den heiligen drei Sternen folgen, bis sie senkrecht über ihnen stünden, dann könnten sich alle ausruhen, zu Abend essen und er würde die anderen kennenlernen. Also lief Wolf mit den anderen los, denn was blieb ihm anderes übrig? Sollte er etwa alleine auf dem Wegstück zurückbleiben, auf dem er aufgetaucht war? Die Welcome-Mummie ging die ganze Zeit neben ihm her, fragte ihn nach seinem früheren Leben und erzählte etwas von der langen Wanderung, an deren Ende die Erlösung stünde und mit ihr die Aufnahme in den Schoß der neuen Götter mit ewigem Leben. Wolf hörte ihr schweigend zu, glaubte ihr kein Wort (ihm könne man schließlich nicht alles erzählen) und gab nur einsilbige Antworten. Als er sich die anderen während des Wanderns ansah, erschrak er über ihre teils merkwürdigen körperlichen Verformungen: Gliedmaßen fehlten oder waren verformt oder standen an falschen Stellen, und einer hatte eine grünliche Hautfarbe. Verwirrt fühlte er an sich rum und betrachte seinen Körper. Entsetzt stellte er fest, dass er kleiner, dafür in der Mitte aber deutlich dicker geworden war. Meine Güte, dachte er, hoffentlich geht das bald wieder weg. So wollte er auf keinen Fall nach Berlin zurückkehren. Schon bald nach seiner Ankunft nannten ihn alle den Kleinen Wolf, weil er noch so jung und auch etwas geschrumpft war. 19
Bei seiner Ankunft war Wolf gerade zehn Jahre alt geworden. Er ging in die erste Klasse des Leibniz-Gymnasiums und hatte sich dort mit Bernd und einigen anderen angefreundet. Er lebte mit seiner Mutter in einer schönen Dreizimmerwohnung in einem vierstöckigen Haus mit Blick auf einen halbverwilderten Garten, den sie gelegentlich mitbenutzen durften. Ein Freund hatte ihn einmal zu einer Probe des Berliner Kinderchores mitgenommen. Es stellte sich heraus, dass er eine ziemlich gute Stimme hatte, und so war er schnell in den Chor integriert worden und hatte sogar einige Soloauftritte gehabt. Eine Zukunft als Chorsänger konnte er sich allerdings nicht vorstellen, er wollte lieber Rapper werden, so im Gangsterlook mit einem schicken Auto und tollen Frauen um sich herum. Sein Vater hatte sich ein Jahr zuvor erhängt. Er war wie üblich frühmorgens mit seiner Aktentasche losgegangen, aber statt zur Straßenbahnhaltestelle war er weiter in den nahe gelegenen Wald gegangen, hatte ein dickes Seil, das er in seiner Aktentasche mitgenommen hatte, um einen Ast gelegt, eine Schlinge geknüpft, seinen Kopf reingesteckt und sich fallen lassen. Er muss sofort tot gewesen sein, wie der Polizeiarzt mitteilte. Wolf und seine Mutter waren fassungslos, ebenso wie die Leute im Büro seines Vaters, seine Freunde und die Nachbarschaft. Gut, er war manchmal betrübt gewesen (depressiv, meinte seine Mutter), es hatte aber keinen aktuellen Anlass für einen Selbstmord gegeben, zumindest keinen, von dem sie wusste. Okay, es gab Gerüchte, und seine Mutter wurde von der Verwandtschaft und der Nachbarschaft gemieden und schräg angeschaut – die Motive des Selbstmordes seines Vaters blieben aber unklar. Und, wie die Polizei es ausdrückte: »Fremdeinwirkung war auszuschließen.« Seine Mutter trauerte viele Monate, raffte sich irgendwann aber auf und beschloss, ihr Leben zu ändern. Sie nahm einen Job an und kaufte sich einen Hund, so einen mit viel Fell, ganz strubbelig und treu-brav guckend. Sie sah in ihm einen neuen Gefährten, der sogar neben ihr im Bett schlafen durfte. Sie war aber völlig unfähig, ihn zu erziehen. Der machte, was er wollte. Wolf war der Einzige, auf den er gelegentlich hörte, aber der hatte überhaupt keinen Bock, mit ihm regelmäßig um die Häuser zu ziehen, wenn er »raus musste«, wie seine Mutter meinte. Der Hund stahl ihm seine Zeit, und...