Handlungsempfehlungen für die Frühpädagogik
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-451-83266-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Einleitung
Verschlafen wir die Zukunft unserer Kinder? Kaum ein anderes europäisches Land gibt weniger seines Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus als Deutschland (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2019). Die erste Studie zur Qualität in deutschen Kitas, die Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit (NUBBEK) zeigte, dass nur drei Prozent der untersuchten Krippen-Einrichtungen eine gute, 85 Prozent eine mittelmäßige und zwölf Prozent sogar eine unzureichende Qualität aufwiesen. Und in den Kitas sieht es nicht viel anders aus. Noch gibt es viel zu wenige wirklich gute Kitas (vgl. Laewen & Andres 2022, S. 35ff.). Zahlreiche Forschungsergebnisse machen deutlich, dass die institutionelle Betreuung nur dann nicht die kindliche Entwicklung schädigt, wenn sie von hoher Qualität ist (vgl. ebd., S. 43). Deshalb ist hier zuerst einmal zu fragen: Was ist schiefgelaufen? Es gibt noch viel zu wenig gute Kitas. Kita-Ausbau ohne Qualitätssicherung
Mit der Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Betreuung im Jahr 2013 hatte sich das deutsche Bildungssystem ein sportliches Ziel gesetzt. Es kam zu einem raschen Ausbau an Kita-Plätzen, wobei auch heute noch – eigentlich ein Rechtsbruch – immer noch insgesamt 430.000 Betreuungsplätze in Deutschland fehlen (vgl. Bertelsmann Stiftung 2023). Ganz nebenbei droht hierdurch inzwischen ein wirtschaftliches Risiko (vgl. Böcking & Marquardt 2023). Auf der Strecke geblieben ist die gleichzeitige Sicherung eines Qualitätsanspruchs in der frühkindlichen Bildung. Der aktuelle Fachkräftemangel führt so dazu, dass Kinder in manchen Einrichtungen nur noch „verwahrt“ werden können und die Erzieher:innen ihrem Bildungsauftrag und ihren pädagogischen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden können (vgl. Klusemann et al. 2023). Personalschwund im deutschen Bildungssystem
Der Personalmangel in deutschen Kitas verschärft sich seit Jahren und hat durch die Pandemie einen weiteren Schub erfahren. Schon heute können viele Kitas ihre Öffnungszeiten nicht mehr gewährleisten, Tendenz steigend. Im kürzlich veröffentlichten „Cornelsen Bildungsindex“ gaben 74 Prozent der befragten Expert:innen an, dass sie (sehr) unzufrieden mit der Personalsituation seien (vgl. Cornelsen Verlag GmbH 2023, S. 10). Der Kita-Ausbau verursachte einen höheren Personalbedarf bei gleichzeitiger Tendenz zur Verrentung und stagnierender Attraktivität des Berufsfelds. Nach wie vor ist der Beruf Erzieher:in gesellschaftlich wenig angesehen, Lohn und Aufstiegsmöglichkeiten sind gering bei erheblicher Arbeitsbelastung. Neue Herausforderungen der letzten Jahre
Mit dem Fachkräftemangel einher gehen seit einigen Jahren Herausforderungen, welche Kitas vor weitere Aufgaben stellen. Migrierte und geflüchtete Familien brauchen eine besondere Unterstützung, die Kinderarmut nimmt zu, „Brennpunkt-Kitas“ sind auf sich gestellt, und die Chancenungleichheit verschärft sich. Hier werden Fachkräfte schlicht alleingelassen, und die Gesellschaft versäumt es, sich um die Schwächsten zu kümmern. Bürokratische Hürden und die Tücken des Föderalismus
Die Länder stehen sich beim Kita-Ausbau selbst im Weg. Viel zu oft verzögern bürokratische Hürden den Bau von Kindertagesstätten, sodass es manchmal Jahre dauert, bis ein Projekt überhaupt genehmigt, geschweige denn abgeschlossen wird. Weitere Problemlagen ergeben sich durch den deutschen Föderalismus: Weil Bildung Ländersache ist, fehlen einheitliche Standards, und Zuständigkeitswirrwar sowie mangelnde Verantwortlichkeiten sind oft die Folge. Fehlentwicklungen seit der Wiedervereinigung
Deutschland musste nach der deutschen Einheit zwei Systeme vereinen, die sowohl hinsichtlich der Betreuungsstruktur als auch hinsichtlich des Familienbildes differierten. Das hat – wie wir heute im Rückblick erkennen können – einen Reformprozess im Bildungssystem, wie ihn andere europäische Länder vollzogen haben, verschleppt. Was ist zu tun?
Es ist an der Zeit für nachhaltige Veränderungen. Seit Jahrzehnten werden im Kita-Bereich Vorschläge gemacht, Enttäuschung und Frust formuliert. Es ist an der Zeit, laut zu werden, wachzurütteln und eine Bildungsrevolution zu starten. Hergen Sasse spricht von konstruktiver Aggression, die von Erwartungen über Enttäuschung, Frust und Ärger zu Wut führt (vgl. ebd. 2023, S. 93f.). Nun müssen wir unsere Wut konstruktiv nutzen! „Ich wünsche mir, dass unser Bildungssystem eines Tages allen Kindern in Deutschland, egal welche soziale und ethnische Herkunft sie haben, optimale Startchancen für ihr Leben bietet. Und das geht zuallererst durch Bildung“ (Wehrmann 2023, S. 221). Wir, das Land der (Dichter und) Denker, ein Land ohne nennenswerte Bodenschätze, können es uns nicht erlauben, unsere einzige Ressource, die Bildung, zu vernachlässigen. Wir können es nicht dem Zufall überlassen, ob ein Kind in einer Kita mit mittelmäßiger oder ungenügender Qualität, von einer mehr oder weniger feinfühligen Fachkraft betreut wird – und damit, welche Zukunftschancen es hat. Dazu kommt: In unserem föderalistischen System ist Bildung nach wie vor Ländersache; jedes Bundesland hat ganz unterschiedliche gesetzliche Vorgaben und Empfehlungen, und die Qualität ist entsprechend Auslegungssache. Für eine gute Qualität in Kitas tragen alle Beteiligten Verantwortung: Politik, Träger und ihre Verbände, Leitungen und Fachkräfte. Eine Bildungspolitik, die sich allein auf das Berufsethos und Engagement der pädagogischen Fachkräfte verlässt, ohne gleichzeitig die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, „wird die Misere des Bildungssystems nicht lösen“ (Martinet 2021, S. 341). Der Weg zu höherer Qualität in der Frühpädagogik muss ein gemeinsamer Weg von Politik, Trägern und Mitarbeitenden sein: Die Politik schafft die Bedingungen, unter denen Träger ihren Mitarbeitenden wiederum die Bedingungen bieten können, die es den Fachkräften ermöglichen, qualitativ hochwertige Bildung und Betreuung zu gewährleisten. Wenn es um gute Bedingungen für Kinder und ihre Entwicklung geht, darf sich keiner mehr rausreden können. Stellen wir uns vor, dass die Kinder die Blumen sind, die wir zum Blühen bringen wollen: Dann muss die Politik den Blumentopf mit reichhaltiger Erde stellen. Der Träger sät den Samen, und die Fachkräfte in den Einrichtungen gießen, bis aus dem Samen eine Blume entsteht. Damit diese blühen kann, benötigt sie Licht und Wasser und manchmal auch etwas Extra-Dünger. Stehen diese Dinge aber nicht zur Verfügung, wird die Blume gar nicht erst anfangen zu blühen. Qualitätssicherung als Voraussetzung für Chancengleichheit
Auch der Bund hat das erkannt und 2018 das „Gute-Kita-Gesetz“ beschlossen. Der Name klang zunächst vielversprechend: 5,5 Milliarden Euro sollten den Kitas bundesweit bis 2022 zur Verfügung gestellt werden. Letztendlich fielen diese jedoch dem „Flickenteppich des Föderalismus“ (Pergande 2019) zum Opfer. Beim Gesetzentwurf hatte man nämlich vergessen, verbindliche Ziele der Qualitätsentwicklung zu formulieren, weshalb die Bundesgelder zu großen Teilen für Maßnahmen zur Beitragsfreiheit ausgegeben wurden (vgl. Göring-Eckardt et al. 2018). Nun hat niemand etwas gegen beitragsfreie Kita-Plätze. Allerdings wird das Ziel des Gesetzes, „die Qualität frühkindlicher Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindertagesbetreuung bundesweit weiterzuentwickeln und die Teilhabe in der Kindertagesbetreuung zu verbessern“ (§ 1 KiQuTG), auf diese Weise verfehlt.1 Mit dem KiTa-Qualitätsgesetz von 2023 versucht man jetzt, zu korrigieren und stärker auf die Weiterentwicklung der Qualität der Kindertagesbetreuung zu fokussieren. Konkrete Qualitätskriterien sind jedoch nicht formuliert. Diese braucht es aber – und zwar verbindlich. Und mit der Einführung von bundeseinheitlichen Vorgaben wäre es auch noch nicht getan. Um nachhaltig eine gute Qualität im deutschen Bildungssystem zu erreichen, müssen auch Qualitätssicherungsverfahren – wie übrigens in der Wirtschaft bereits seit den 20er-Jahren Usus (vgl. Erath & Amberger 2000, S. 11) – gesetzlich vorgeschrieben werden. Qualitätserhebungen, intern wie extern, sollten zum selbstverständlichen Bestandteil des Kita-Alltags werden, um verlässlich eine stetige Weiterentwicklung pädagogischer Qualität zu erreichen (siehe Teil III). In Berlin ist dies bereits der Fall. Auch Waltraud Weegmann, Vorsitzende des Deutschen Kitaverbands, ist der Meinung, dass Bund, Länder und Kita-Träger „den Prozess für ein echtes Qualitätsgesetz mit einer stärkeren Orientierung an der Ergebnis-Qualität wieder aufnehmen [sollten]. Die Bundesländer müssen die Interne und Externe Evaluation als für alle Kitas verpflichtend in...