Ein Jakobsweg-Roman
E-Book, Deutsch, 303 Seiten
ISBN: 978-3-7325-7816-0
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Laura Weber ist ein Maikind der frühen Achtziger Jahre. Schon in der Schulzeit schrieb sie Geschichten und gewann sogar einmal einen Schreibwettbewerb. Doch diese Leidenschaft wurde leider durch Studium und Beruf verschüttet - bis sie sich entschied, endlich ihren Traum vom Schreiben zu verwirklichen. Laura Weber ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in einer deutschen Großstadt.
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1 Saint Jean Pied de Port, französisches Baskenland
Noch kann ich umkehren. Der Gedanke überfällt mich vor dem Eingang des mittelalterlichen Hauses, und ich atme tief durch. Ein Flügel der Holztür ist einladend geöffnet, bittet mich herein. Will ich das hier wirklich machen?, denke ich. Was, wenn ich mal wieder die falsche Entscheidung getroffen habe? Wenn mein Leben dadurch nicht besser wird, sondern schlimmer? Wenn ich Sachen über mich erfahre, die ich lieber nicht wissen will? Ich seufze und blicke die Straße entlang. Kopfsteingepflastert führt sie bergauf, gesäumt von altertümlichen Steinhäusern mit roten und grünen Fensterläden. Menschen in Outdoorkleidung spazieren einzeln oder in Gruppen herum, die wenigen Einheimischen begegnen ihnen mit unverbindlicher Freundlichkeit. Die Bewohner der Häuser haben Blumenkübel aufgestellt, mit roten, weißen, gelben Blüten, die in der Aprilsonne leuchten. Es ist früher Nachmittag, und die Sonne strahlt, aber in der Luft hängt noch eine Ahnung von Winter. Ich spüre, wie sich die Härchen auf meiner Haut aufstellen und am Stoff meines Funktionsshirts reiben. Das Gefühl lässt mich frösteln. Trotzdem kann ich mich nicht überwinden, durch die Tür zu treten. Eine Stimme in mir gibt Marc die Schuld daran, dass ich hier stehe. Aber das stimmt leider nicht ganz. Es gehören immer zwei dazu, schießt mir durch den Kopf. Von den zweien bin eine nun mal ich. Oder vielmehr, war eine ich. Und ich werde nicht umkehren, denke ich tapfer. Ich habe meinen Entschluss nun einmal gefasst, und jetzt ist es an der Zeit, ihn umzusetzen. Hinter mir liegen bereits ein Flug in einem dieser unglaublich engen Billigflieger und eine Busfahrt vom Flughafen zum nächsten Bahnhof. Von dort aus ging es auf dem Gleis weiter. Auf der Zugfahrt konnte ich mich wenigstens in der bergigen, grünen Landschaft verlieren, die vor dem Fenster vorbeizog. Und jetzt bin ich am eigentlichen Anfang meiner Reise angekommen. Endlich. Schon. Jetzt wird es ernst. Mein Rückflug geht von Santiago, 800 Kilometer zu Fuß entfernt. Der Gedanke, einfach umzukehren, ist verlockend. Dann wäre ich Diana, die beinahe mal den Jakobsweg gegangen wäre. Vielleicht schaue ich mir aber auch erstmal die Zitadelle an, zu der diese Straße, die Rue de la Citadelle, führt. Ist doch sicher viel interessanter als dieser bürokratische Akt hier im Pilgerbüro … Nein, ermahne ich mich, ich gehe da jetzt rein. Ich werfe einen letzten Blick auf das Symbol, das an der Eingangstür prangt und hier allgegenwärtig ist: gelbe Linien auf blauem Grund, die an einem Punkt zusammenlaufen. Es soll eine Jakobsmuschel darstellen und dient als Wegweiser entlang der Strecke. Ich habe Glück, das Pilgerbüro ist bis auf einen Angestellten leer. Während ich draußen mit mir gehadert habe, sind mindestens vier Grüppchen aus der Tür gekommen, in der Hand ihre Pilgerausweise und die Jakobsmuscheln, die sie sich um den Hals oder an ihren Rucksack hängen werden, damit jeder es sehen kann: Dies sind keine Wanderer, dies sind Pilger. Sie gehen denselben Weg, der schon seit Jahrhunderten von Tausenden, wahrscheinlich Millionen von Menschen aus den verschiedensten Gründen beschritten worden ist: Besinnung, Abkehr, die Suche nach einer Antwort, die früher einfach Gott hieß. Heute ist das wohl alles etwas komplizierter. Glaube ich. Ob der Weg auch für mich eine Lösung bringt? Oder ist die schon längst vorhanden, und ich muss sie nur finden? Wäre ja schön, wenn ich mir dafür keine Blasen laufen müsste, meldet sich mein inneres Faultier wieder zu Wort. Ich schiebe es gedanklich beiseite und frage mich stattdessen, ob es einen Kodex gibt, bestimmte Verhaltensregeln, die mit dem Tragen der Jakobsmuschel einhergehen. Ich will hier schließlich alles richtig machen. Den Angestellten im Pilgerbüro kann ich jedenfalls nicht fragen – die Sprachbarriere. Er begrüßt mich freundlich auf Französisch. Mein bisschen Schulfranzösisch ist über zehn Jahre alt, und nur noch traurige Reste sind davon vorhanden. Als er merkt, dass ich nichts verstehe, macht er nicht etwa Anstalten, ins Englische zu wechseln, sondern holt lediglich den Pilgerausweis hervor, den er mir hinhält. Es ist ein Faltblatt mit gelbem Deckblatt, auf dem meine persönlichen Daten eingetragen werden sollen und in dem ansonsten die Stempel der Pilgerstationen gesammelt werden, so viel weiß ich schon. Der Angestellte zeigt auf den Kugelschreiber, der auf seinem Tisch steht. Ich trage meine Daten ein. Daraufhin nimmt er den Ausweis und knallt dermaßen laut einen Stempel darauf, dass der ganze Tisch wackelt. Ich zucke zusammen. Es kommt mir vor, als ob gerade mein Schicksal besiegelt worden wäre. Meine Stimmung kippt. Oder vielmehr ist es so, als ob die selbstverständliche, ruppige Art des Franzosen einen Vorhang beiseite reißt – den letzten Schleier, der mir selbst verhüllt hat, wie viel Schiss ich vor dem habe, was mir bevorsteht. Der Mann drückt mir den Pilgerausweis in die Hände. Sein Lächeln kommt mir falsch vor. Er sagt etwas auf Französisch, von dem ich nur »Bon chemin!« – Guten Weg – verstehe. Ich murmele eine Verabschiedung und drehe mich um, nur um vor einem Ständer mit Jakobsmuscheln in allen Farben und Größen zu stehen. Brauche ich jetzt auch so eine? Es sind so viele! Mein Blick springt hektisch über die rötlichen, grauweißen oder in Bonbonfarben eingefärbten Muschelschalen, und ich versuche, eine Entscheidung zu treffen. Mein Atem geht schneller, mir wird heiß. Mir dreht sich alles. Nichts wie raus hier! Ehe ich mich versehe, stehe ich ohne Muschel wieder vor dem Pilgerbüro auf der Straße, blicke auf den Ausweis in meiner Hand und versuche zu verstehen, was gerade passiert ist. Mit leerem Blick starre ich auf das Kopfsteinpflaster, spüre den kalten Schweiß auf meiner Stirn prickeln. Wie von selbst tragen mich meine Füße den Berg hinauf, bis ich schließlich vor dem Tor der alten Festungsanlage stehe. Eine Brücke führt über einen Wassergraben dorthin. Ich merke, wie sehr ich außer Atem bin. Ist es die Steigung, oder ist es das Gefühl der Panik, das sich in meiner Brust ausgebreitet hat? Atme, Diana, ermahne ich mich. Während ich mit vermutlich rotem Gesicht und starrem Blick versuche, meine Atmung in den Griff zu bekommen, schlendert ein Mann aus der Zitadelle auf mich zu. Er ist groß, schlank und trägt wie fast alle hier eine Outdoor-Kluft. Die graue Trekkinghose und die dunkelblaue Funktionsjacke sehen an ihm irgendwie unglaublich elegant aus. Vielleicht ist es die Art, wie er geht: beiläufig, doch gleichzeitig würdevoll. Als er näher kommt, kann ich sein Gesicht erkennen. Ich glaube, mich trifft der Schlag – das ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe! Sein Antlitz – das ist wirklich das Wort, was mir in den Sinn kommt – ist wie aus Marmor gemeißelt. Elegante Nase, hübsches Kinn, volle Lippen. Seine sanften Augen sind verhangen, er scheint in Gedanken versunken zu sein. Unwillkürlich frage ich mich, was ihn gerade bewegt – es ist nur eine kleine senkrechte Falte zwischen seinen Augenbrauen, die mir zuflüstert, dass ihm gerade irgendetwas zu schaffen macht. In dem Moment trifft sein Blick auf mich, und ein offenes Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht. »Na, auch noch die Zitadelle besichtigen, bevor es morgen richtig losgeht?«, fragt er munter auf Deutsch. »Nein, ich …«, stammele ich. Woher weiß er, dass ich deutsch spreche? Verwirrt schaue ich ihn an, sehe seine braunen Augen, die angesichts meiner Unbeholfenheit amüsiert funkeln. »Ich war im selben Flieger wie du«, grinst er. »Ich bin Raphael.« Was? Das kann doch gar nicht sein! Jemand wie er wäre mir doch sicher aufgefallen, oder? Aber bevor ich mich darüber allzu sehr wundern kann, geht mir auf, dass ich ihm aufgefallen bin, und bei dem Gedanken wird mir jetzt doch etwas warm. Ich spüre, wie die Röte in mein Gesicht zurückkehrt. Nur diesmal aus einem angenehmeren Grund. »Ah … Didi.« Ich lächle nervös und strecke ihm unbeholfen die Hand hin. »Eigentlich Diana.« »Ein schöner Name.« Er erwidert den Handschlag. Seine Hand ist feingliedrig, aber warm und kräftig. »Diana, die römische Göttin der Jagd. Mich haben meine Eltern nach dem Erzengel Raphael benannt.« Oha. Das ist jetzt nicht ganz das, was ich erwartet habe. »Also sind sie sehr christlich, deine Eltern?«, wage ich mich vorsichtig vor. »Kann man so sagen«, entgegnet er. »Und das ist auch in Ordnung, sie sind keine Fundamentalisten, falls du das glaubst. Der Name Raphael bedeutet ›Gott heilt‹. Raphael ist der Schutzpatron der Kranken und Apotheker, und mein Vater ist Apotheker, also … Aber ich schätze, der Name passt auch zum Jakobsweg, denn Raphael ist ebenso der Schutzpatron der Pilger. Jedenfalls war ich schon öfter hier, und wer weiß? Vielleicht hat mein Name damit zu tun.« Smalltalk ist wohl nicht so Raphaels Ding. Kurz denke ich, dass dieser Mann genauso gut selbst ein Engel sein könnte, so wie er aussieht. Aber das kann ja nicht sein, dann wäre sein Vater nicht Apotheker, sondern … hm, Gott? Haben Engel überhaupt Eltern? Meine Güte, es ist schon erschreckend, wie wenig Ahnung ich von dieser ganzen Religionssache habe. Vierzig Jahre real existierender Sozialismus haben wohl ihre Spuren bei meinen Eltern und damit in meiner Erziehung hinterlassen. Jedenfalls beeindruckend, was er alles über seinen Namen weiß. Und über meinen, wobei mich meine Mutter höchstwahrscheinlich nach Prinzessin Diana benannt hat. Nicht, dass ich sie mir je zum Vorbild genommen hätte, obwohl...