E-Book, Deutsch, Band 03, 352 Seiten
E-Book, Deutsch, Band 03, 352 Seiten
Reihe: Profiler-Thriller mit Jess Harris
ISBN: 978-3-7325-8524-3
Verlag: beTHRILLED
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Debra Webb wuchs auf einer Farm in Alabama auf, wo sie auch heute wieder mit ihrer Familie lebt. Nach einer Reihe von Tätigkeiten, unter anderem für die US-Armee in Berlin und das Raumfahrtprogramm der NASA, veröffentlichte sie 1999 ihren ersten Roman. Seither hat sie zahlreiche Thriller in vielen Sprachen veröffentlicht, insgesamt über vier Millionen Bücher verkauft und wurde für ihre Arbeit vielfach ausgezeichnet.
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Cotton Avenue, Birmingham, Alabama. Montag, 26. Juli, 14:45 Uhr »Ich brauche so bald wie möglich eine geschätzte Todeszeit.« Der junge Arzt, der, so vermutete Jess, neu im Büro des Coroners von Jefferson County war, warf ihr aus seiner knienden Position neben dem Opfer einen Blick zu. »Chief Harris, ich bin gerade erst angekommen. Eins nach dem anderen. Es muss alles seine Ordnung haben.« Er war neu, ganz sicher. Wenn er erst genug Tatorte bearbeitet hatte, würde er verstehen, dass Mord keine Ordnung kannte. Jess verzog ihre Lippen zu einem Lächeln, das mit Geduld ebenso wenig zu tun hatte wie der gehetzte Gesichtsausdruck des unerfahrenen Medical Examiners. »Ich kenne das Prozedere durchaus, Doktor, aber …« Sie blickte den langen Mittelflur hinunter, um sich zu vergewissern, dass Sergeant Harper die möglichen Zeugen erfolgreich von den Fenstern und Glastüren fernhielt, die auf den prachtvollen Garten des Herrenhauses hinausgingen. »Ich habe da hinten sechs kleine Mädchen in unterschiedlichen Stadien der Hysterie, deren Mütter auf heißen Kohlen sitzen, weil sie sie endlich nach Hause bringen wollen. Ich brauche die Todeszeit für die Befragung, damit ich zumindest eine ungefähre Vorstellung von dem Zeitfenster habe, von dem wir hier ausgehen müssen.« Bevor die Mütter noch nervöser werden und Anwälte herbeizitieren, doch das behielt Jess für sich. Tatsache war, sie hatte genug über die Mentalität einer typischen Ballettmutter gehört, um zu wissen, was ihr bevorstand, wenn der erste Schock über diese Tragödie allmählich verebbte. Dann wurden nicht nur die Anwälte gerufen, die Damen würden auch eng zusammenrücken, um die Geheimnisse zu schützen, die sie bewahren zu müssen glaubten, vor allem, wenn diese Geheimnisse irgendeinen Einfluss auf den Platz ihrer Tochter in der Nahrungskette dieses exklusiven Ballettstudios hatten. Genau genommen müsste Jess sich zunächst erkundigen, ob sie während der Befragung die Anwesenheit eines Anwalts wünschten, aber durch solche Formalitäten hatte sie sich noch nie aufhalten lassen. Bei Jess’ Eintreffen hatte eine solche Panik geherrscht, sowohl unter den Mädchen als auch den Müttern, wen würde es da überraschen, wenn sie es versäumte, die eine oder andere zu fragen, ob sie einen Anwalt wollte? Ungerührt von Jess’ Erklärung wandte sich Doktor Wie-hieß-er-noch wieder dem Opfer zu, das in unnatürlicher Haltung auf dem harten Marmorboden lag. »Wie ich schon sagte: Eins nach dem anderen. Dazu komme ich gleich.« Jess presste die Lippen aufeinander, um nicht etwas zu sagen, was sie bereuen würde. Wie kam es nur, dass diese jüngere Generation so empörend respektlos war? Sie schob ihre Tasche höher auf die Schulter. Als sie in seinem Alter gewesen war – Anfang dreißig, vermutete sie – wäre Jess niemals frech zu Älteren gewesen. Und auch jetzt nicht, Herrgott noch mal. Die Vorstellung, dass sie fast ein Jahrzehnt älter war als der Medical Examiner, war ziemlich deprimierend, doch mit dieser Tatsache hatte sie umzugehen gelernt, seit sie den gefürchteten Meilenstein der Vierzig passiert hatte. Wer immer gesagt hatte, sechzig wäre das neue dreißig, redete gequirlten Mist. Nicht einmal vierzig war das neue dreißig. Nun – sie schob die Brille den Nasenrücken hoch – gegen das Älterwerden konnte sie nichts machen. Doch Unverschämtheit, die würde sie nicht dulden. Nur weil der Noch-feucht-hinter-den-Ohren-ME ganz süß war, würde sie ihm nicht seine Frechheiten durchgehen lassen. »Entschuldigen Sie …« Er blickte empörend widerwillig zu ihr hoch. Sie hob fragend die Augenbrauen. »Doktor …?« »Schrader. Dr. Harlan Schrader.« »Nun, Dr. Schrader, dass alles seine Ordnung haben muss, verstehe ich, aber wenn Sie so freundlich wären, Ihr kleines Thermometer aus Ihrer hübschen Tasche zu holen und mir eine ungefähre Todeszeit zu sagen, verspreche ich, dass ich Sie in Ruhe lassen werde.« Sie setzte ein Lächeln auf, von dem sie hoffte, dass man ihm nicht allzu sehr ansah, dass es falsch war, und fügte der Form halber das Zauberwort hinzu: »Bitte.« »Okay.« Er hielt die behandschuhten Hände hoch, als wollte er sich ergeben. »Ich mache es sofort.« »Danke, Dr. Schrader.« Jess ging zur Tür und sah nach, was sich hinter den Einsatzfahrzeugen tat, die rings um den enormen Brunnen vor dem Haus die gepflasterte Auffahrt verstellten. Die historische Villa lag im Zentrum von drei Hektar anmutig gepflegtem, wertvollem Land. Mit ein bisschen Glück verhinderten die hohen Eichen und Pecannussbäume mit ihren tief hängenden Ästen, dass man von der Straße aus den Pulk von Einsatzwagen sah, der nichts Gutes bedeuten konnte. Auf der Straße selbst bewachten Uniformierte des BPD die Toreinfahrt des Anwesens, um Neugierige und Nachrichtenjäger fernzuhalten, sobald die Neuigkeit über den Ticker ging. Wenn die Presse in Scharen auflief – und in dieser schicken Gegend würde sie das unweigerlich tun –, komplizierte das die Ermittlungen. Offen gestanden war sie überrascht, dass diese beeindruckende Residenz nicht über einen privaten Sicherheitsdienst verfügte. Seltsamerweise gab es keinerlei Wachleute, nicht einmal an dem reich verzierten hohen Eingangstor, und kein Hauspersonal – zumindest nicht heute. Die Kriminaltechniker hatten den Tatort bereits auf Fotos und Video dokumentiert. Jetzt wurden Fingerabdrücke und Spurenmaterial gesammelt, in der Hoffnung, so irgendwelche verwendbaren Beweise zu finden. Sergeant Harper war um ein Uhr achtundvierzig von der Streifenpolizei alarmiert worden. Er und Lieutenant Prescott hatten sich sofort auf den Weg gemacht, ohne darauf hinzuweisen, dass sie ab sofort nicht mehr zur Abteilung Straftaten gegen Personen gehörten. Jess war das nur recht. Sie wollte die erste Woche in ihrer neu gegründeten Einheit, der Special Problems Unit, kurz SPU, nicht damit beginnen, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen, bis ihnen ein Fall zugeteilt wurde. Andererseits stand noch gar nicht fest, dass tatsächlich eine Straftat vorlag. Jess betrachtete die Leiche, die gleich neben der breiten Treppe lag. Es schien, als wäre das Opfer, Darcy Chandler, über das Geländer im oberen Stock zu Tode gestürzt. Oder sie war gesprungen. Wie auch immer, ihr Tod war, soweit sie es bisher beurteilen konnten, offensichtlich gewaltsamer Natur gewesen und ohne Zeugen. Da war eine Untersuchung Vorschrift. Als sie ankam, war Jess als Erstes den Kriminaltechnikern die Treppe hinaufgefolgt und hatte dort den Absatz abgesucht. Jetzt wanderte ihr Blick wieder dorthin. Auf dem Hartholzboden gab es nichts, über das man hätte stolpern oder auf dem man hätte ausrutschen können. Die Höhe des Geländers entsprach nicht den aktuellen Bauvorschriften, doch in historischen Gebäuden – und dieses hier stammte aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts – fielen Merkmale wie das Geländer unter den Bestandsschutz. Gut für die, die Geschichte zu schätzen wussten, schlecht für Ms Chandler. Bisher fand Jess nur eines an diesem Tatort verdächtig: Ms Chandlers sehr teure fuchsiafarbene Gucci-Pumps, die exakt zu ihrem eleganten ärmellosen Kleid passten, standen neben dem Geländer im ersten Stock. So ordentlich, als hätte sie sie ausgezogen und beiseitegestellt, damit ihre Lieblingsdesignerschuhe nicht bei ihrem Sprung in den Tod zu Schaden kamen. Der akribischen Ordnung in ihren Schränken sowie dem untadeligen Zustand des Hauses im Allgemeinen nach zu urteilen, war das Opfer eine Perfektionistin gewesen. Das könnte erklären, warum sie die Schuhe ausgezogen und zur Seite gestellt hatte. Vielleicht. Jess fand, dass dieser Punkt noch nähere Betrachtung verdiente. »Ich würde schätzen, der Zeitpunkt des Todes liegt zwischen …«, verkündete Dr. Schrader und lenkte Jess’ Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er sah auf seine Armbanduhr. »Zwölf Uhr mittags und ein Uhr.« Weniger als zwei Stunden vor dem Eintreffen des BPD. »Danke, Dr. Schrader.« Der Blick, mit dem er sie bedachte, sagte ihr, dass ihre Dankbarkeit genauso wenig geschätzt wurde wie ihr Drängen. Doch sie musste ein andermal einen Weg finden, sich seine Gunst zurückzuerobern. Vielleicht mit einem Geschenkgutschein aus einem der trendigen Läden in der Galleria, denn das Polohemd, das Sportjackett und die Stonewashed-Jeans sahen aus, als hätte man sie einer der Männerpuppen ausgezogen, die in besagten Läden die Schaufenster schmückten. Jetzt aber hatte für Jess der Tod dieser Frau oberste Priorität. Um sich bei Dr. Ich-bin-zu-sexy-um-höflich-zu-sein lieb Kind zu machen, blieb später noch genug Zeit. Bewaffnet mit der entscheidenden Information, die sie benötigte, strebte sie zu den Verandatüren am Ende des langen Korridors, der mitten durch eines der ältesten und vornehmsten Häuser Birminghams ging. Sie straffte die Schultern, räusperte sich und trat hinaus auf die Terrasse, die in einen gepflegten Park überging, entworfen von irgendeinem zertifizierten Meistergärtner aus England. Der wiederum, wie eine Bronzetafel stolz verkündete, ein Abkömmling des Gärtners der königlichen Familie war. Nur die Reichen und selbst ernannten Schönen brachten es fertig, sich mit dem Stammbaum des Mannes zu brüsten, der den Rasen schnitt und die Blumen goss. Da, wo Jess wohnte, war man froh, wenn die Männer mit dem Rasenmäher und dem Unkrautstecher Englisch sprachen, und ganz sicher sprach man nicht über ihren Stammbaum, denn damit würden sie ihre sofortige...