Wawrzyn Rotbergs Lächeln
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8393-6138-2
Verlag: be.bra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-8393-6138-2
Verlag: be.bra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lienhard Wawrzyn, geboren 1951 in Berlin, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie. Nach seiner Promotion lehrte er an der TU Berlin, der Hochschule der Künste und der Universität Bremen. Er absolvierte eine Ausbildung an der Filmakademie DFFB und arbeitete als Regisseur und Drehbuchautor, u. a. für zahlreiche Tatort-Folgen. Er veröffentlichte bereits erfolgreich Bücher, so z.B. im Wagenbach Verlag und im Luchterhand Literaturverlag.
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1.
Bevor Rotberg seine Wohnung verließ, schob er die Küchengardine beiseite und linste vorsichtig aus dem Fenster. Er war kein ängstlicher Typ. Aber er wusste, seine Feinde, die irgendwo da draußen lauerten, fackelten nicht lange. Wenn sie ihn erwischten, wäre das Letzte, was er in seinem Leben hören würde, sein eigenes Geschrei.
Sieben Stockwerke unter ihm die Straße war leer. Es war eine ruhige Gegend. Tempo-dreißig-Zone. Okay, manchmal ließen junge Burschen in ihren getunten Autos die Bässe wummern und bretterten durch die Straßen. Aber das war harmlos.
Alles in Ordnung. Nichts zu sehen.
Nur der alte Schapp kniete auf dem Bürgersteig und schraubte an seinem Motorrad. Und ein Mann von der Stadtreinigung kurvte auf einer Maschine den Bürgersteig entlang, die mit einem dicken Rüssel den Schmutz aufsaugte. Wie aus dem Nichts heraus wirbelte ein Windstoß ihm eine Ladung Staub ins Gesicht. Das Wetter schlug um.
Rotberg zog die Gardine wieder zu.
Er schnappte sich ein Stückchen Parmaschinken vom Teller, zupfte den Fettrand ab, wickelte es um die Scheibe Honigmelone und verputzte es im Stehen.
Rotberg war zweiundvierzig Jahre alt. Sein volles schwarzes Haar hatte in letzter Zeit jede Menge graue Sprenkel bekommen. Er trug Jeans von Armani, einen blauen Rollkragenpullover aus Merinowolle, ein Lederblouson und rahmengenähte Schuhe. Nobel, unauffällig. Eigentlich war er ein stattlicher Mann. Aber sein Gesicht war aufgeschwemmt vom Bier und vom Whisky. Die Hose spannte am Bauch.
Am Morgen war er auf die Waage gestiegen. Hundertundein Kilo! Man sah es zwar nicht, weil er groß und kräftig war, aber er war entschieden zu fett. Und er hatte sich bei dem Gedanken ertappt, sich ans offene Fenster zu stellen und mit gymnastischer Hampelei anzufangen. Bin ich in ein Stimmungstief gerutscht, fragte er sich? Seitdem Deborah ihn vor zwei Jahren verlassen hatte, war er locker vierundzwanzig Kilo schwerer geworden. Für jeden Monat ein Kilo, dachte er und musste grinsen.
In den letzten Tagen hatte er manchmal das Gefühl gehabt, jemand würde ihn beschatten. Zwei-, dreimal war er einem dicklichen Mann Ende vierzig begegnet. Und dann war da noch ein junger Schwarzhaariger, vermutlich ein Türke. Wahrscheinlich nur Einbildung, dachte er, ging in den Wohnungsflur, nahm den kleinen Rollenkoffer, in dem sich alles befand, was er heute für sein Vorhaben brauchte, schloss zweimal hinter sich ab und sog dabei gierig den Duft von Bratkartoffeln, Speck, Zwiebeln und Eiern ein, der sich verführerisch im Treppenhaus breitmachte. Wahrscheinlich hatte irgendjemand zwei Pfannen auf dem Herd und machte Hoppel-Poppel nach einem alten Berliner Rezept.
Der Aufzug ruckelte und knarzte, die Drahtseile lärmten im Schacht, als wollten sie jeden Moment reißen. Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Er musterte die zerkratzten grauen Blechwände und die dunklen feuchten Ecken. In breiten Buchstaben hatte irgendwer etwas eingeritzt, was »Wowi« heißen konnte. Ihn störte Wowis Krakelei nicht. Im Gegenteil, sie gab ihm ein Gefühl der Sicherheit.
Er hatte genug Geld für die nächsten fünfhundert Jahre. Aber er brauchte eine Umgebung, die ihn unsichtbar machte. Zum Glück war er kein Typ, der darauf angewiesen war, seine Reichtümer zur Schau zu stellen. Manchmal fragte er sich allerdings: Wer angeblich so frei ist, warum braucht der eigentlich so viel Geld?
Als sich die Fahrstuhltür wieder öffnete, kam ihm die korpulente Mittfünfzigerin aus dem neunten Stock mit einem neuen Liebhaber entgegen. Mit Schminke hatte sie wieder mal nicht gegeizt. Sie hatte sich bei dem Mann eingehakt; ehrlich gesagt sah es mehr aus wie ein Polizeigriff. Er, einen Kopf kleiner als sie, trug Zimmermannshosen, ein weites Jackett und darunter ein offenes Hemd, aus dem graue Haarbüschel hervorquollen. Er zögerte, aber es half ihm nichts, die Dicke schob ihn in die Kabine. Die Stahltür schloss sich, die Drahtseile dröhnten, während beide in ihr kleines Paradies entschwebten.
Rotberg schoss durch den Kopf, dass sie sich vermutlich etwas dazuverdiente.
Das Gehen fiel ihm schwer, seitdem er sich letzte Woche einen Bänderriss zugezogen hatte. Der Schmerz hämmerte in seinem Bein. Aber er musste vorsichtig sein. Er war nicht einmal ins Krankenhaus gegangen. Ein Orthopäde in Mitte hatte die Verletzung geröntgt, bandagiert und geschient. Der Kerl hatte Fäuste wie ein Metzger und war entsprechend grob gewesen. Rotberg hatte ihm ein paar große Scheine auf den Tisch gelegt, und der Mann hatte keine Fragen gestellt. In der Hoffnung auf mehr Geld hatte er ihn auf seine Knochenerkrankung angesprochen. Rotberg hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, er sei nur als Tourist in der Stadt.
Mehr noch als die Verletzung hatte ihn geärgert, dass er deswegen zu spät in die Philharmonie gekommen war und den ersten Satz von Mahlers zehnter Symphonie verpasst hatte. Er hatte im Treppenhaus gestanden und das Konzert auf einem kleinen Bildschirm verfolgt. Später hatte er im Konzertsaal gesessen, in seinem Knöchel tobten die Schmerzen, während er Mahlers Rebellion gegen die Normen musikalischer Kultur genoss und dachte: Nur ein Genie kann so viel in so kurzer Zeit ausdrücken.
Ab und zu blieb er stehen und lauschte. Nein, hinter ihm waren keine Schritte zu hören. Nichts.
Ein schwarzer BMW mit getönten Scheiben fuhr langsam an ihm vorbei. Warum schlich der so? Ein junger Bursche saß am Steuer. War das der Türke? Ein kurzer Seitenblick. Entwarnung.
Es war nur ein Gefühl. Aber er hatte gelernt, auf seine Eingebungen zu hören. So entschied er sich letzter Sekunde, doch lieber die U7 zu nehmen und dann in Neukölln in die S-Bahn umzusteigen. Sein Instinkt war wie eine Flamme, die irgendwo auf dem Grunde seines Gehirns wachte und die keine Müdigkeit auslöschen konnte. Um seinen Fuß zu schonen, setzte er sich. Der Zug glänzte nagelneu. Trotzdem, manche Scheiben waren bereits mit seltsamen Zeichen zerkrakelt. Das war eine ganz schnelle Truppe gewesen. Sobald die Nacht anbrach, jagten Hunderte pickeliger Jünglinge in der Stadt scratchend nach Ruhm. Für Rotberg waren ihre eingekratzten Runen die Blumen der Dummheit, und sie gehörten zu dieser Stadt wie der Duft von Fäkalien zu den Rieselfeldern. Er entdeckte auch »Wowi« wieder. Fleißiger Typ, dieser Wowi mit seinen Duftmarken, dachte er. Immer mehr Fahrgäste stiegen zu. Ein Hund, ein Bastard, ließ sich auf seinem Fuß nieder. Ohne hinabzublicken, legte er ihm die Hand auf den Kopf, kraulte ihm das Fell und genoss die Wärme des Tierkörpers. Er mochte Hunde, die einzigen vertrauensseligen Wesen in dieser Stadt.
Sechsunddreißig Minuten später überquerte er in Treptow die Elsenstraße, eine achtspurige Schlagader, auf der die Autos in Wellen vor und hinter ihm vorbeibrausten und dabei auf ihn so viel Rücksicht nahmen wie auf ein Karnickel. Er humpelte, so schnell er konnte, zwischen ihnen hindurch zum westlichen Straßenrand. War das der Bänderriss? Oder war es seine Krankheit, die vermutlich unheilbar war? Er musste grinsen: Mit seinem Trolley sah er aus wie der letzte Fußgänger Berlins.
Am Allianzhochhaus stieg er die Steintreppe hinunter, die von der Elsenbrücke zum Ufer führte. Auf jeder Stufe klapperte sein Wägelchen. Wochen vorher hatte er sich ein Boot gemietet und mit dem Echolot im Flussbett zwei gewaltige Bombenkrater ausgemacht, locker zehn Meter im Durchmesser und immer noch drei Meter tief. Sie stammten aus der Zeit kurz vorm Ende des Zweiten Weltkrieges, als britische Bomber das östliche Ufer in ein Trümmerfeld verwandelt hatten. Die Spree war hier breit, die Strömungsgeschwindigkeit nur mäßig, das Wasser warm und trübe. Im Grunde genommen war es schwarz wie Teer. Genau richtig für sein Vorhaben.
Normalerweise war das Ufer menschenleer, bis auf die Krähen, die in den Papierkörben nach Schätzen stöberten. Ausgerechnet heute hing hier ein Penner mit einer Zweiliterflasche Weißwein herum und trank sich die Hucke voll. Er musterte den Kerl, der seine Habseligkeiten in einem Einkaufswagen mit sich führte und damit beschäftigt war, sich vor den Nebelkrähen wichtig zu machen, und sie zur Ruhe rief, wenn sie ihn mit ihrem Gekrächze und Geflatter unterbrachen.
Rotbergs Papiere waren in Ordnung, jedenfalls waren sie erstklassig, und der Säufer war weit weg, mindestens fünfzig Meter. Also stellte er seinen Klappsessel auf und machte seine Ausrüstung klar. Er sah jetzt aus wie ein ganz gewöhnlicher Angler. Und das war er ja auch. Vor ihm lag der Fluss, ruhig und breit. Westlich von ihm, mitten im Wasser, standen zwei überlebensgroße Figuren aus gelochtem Aluminium und holten sich nasse Füße. Wie hieß die Skulptur? Er hatte es vergessen. Noch weiter westlich die Oberbaumbrücke, die alte Stadtgrenze, mit ihren roten Backsteintürmen. Ab und zu tuckerte ein Schleppkahn mit Kies oder Schrott unter der Elsenbrücke hindurch. Gegenüber im Osthafen standen die drei BEHALA-Kräne still. Zwei Schlepper lagen am Kai. Nichts...




