Watzlawik / Lippe | Geschwisterbeziehungen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 202 Seiten

Watzlawik / Lippe Geschwisterbeziehungen

Herausforderungen und Ressourcen für die Entwicklung

E-Book, Deutsch, 202 Seiten

ISBN: 978-3-17-043530-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Geschwisterbeziehungen sind oft die längsten Beziehungen eines Menschen. Sie sind heute immer weniger durch traditionelle Werte und Normen geregelt, aber dadurch auch widersprüchlicher geworden. Dies verlangt nach einer individuellen und bewussten Auseinandersetzung mit den eigenen Geschwistern, zu denen über die gesamte Lebensspanne eine Beziehung etabliert werden muss bzw. kann. Hierzu gehört neben den Voll- und Zwillingsgeschwistern ebenso eine wachsende Zahl von Halb-, Stief-, Patchwork-, Pflege- und Adoptivgeschwistern. Aus verschiedenen theoretischen Perspektiven unterstützt das Buch dabei, Geschwisterbeziehungen zu reflektieren bzw. diese im Kontext von Therapie und Beratung einzuordnen. Dabei stehen allgemeine Faktoren, die die Geschwisterbeziehung beeinflussen, genauso im Fokus wie Ereignisse, die die Entwicklung der bzw. des Geschwisters vor besondere Herausforderungen stellt (Tod, sexualisierte Gewalt etc.).
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2 Geschwisterbeziehungen aus entwicklungs- und persönlichkeitspsychologischer Sicht
Franz J. Neyer, Elisabeth Borschel und Judith Lehnart Geschwisterbeziehungen zählen zu den komplexesten sozialen Beziehungen, die wir Menschen unterhalten können. Ihre Vielschichtigkeit kommt in unseren ganz persönlichen Lebenserfahrungen, aber auch in kulturell geteilten Beziehungsnarrativen zum Ausdruck und lässt sich zwischen den Extremen Geschwisterliebe auf der einen und Geschwisterrivalität auf der anderen Seite breit und facettenreich verorten. Trotz rückläufiger Geburtenzahlen in den letzten Jahrzehnten ist Geschwister zu haben für die meisten Menschen heute noch immer eher die Regel als die Ausnahme. So wachsen derzeit rund 75?% aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Deutschland mit mindestens einem Geschwister auf (Statistisches Bundesamt, 2022), unabhängig davon, ob es sich um Zwillings-?, Voll-?, Halb-?, Stief- oder Adoptivgeschwister handelt. Bezogen auf die gesamte Lebensspanne kann angenommen werden, dass Geschwisterbeziehungen zu den konstantesten Beziehungen überhaupt zählen. Betrachtet man das persönliche Beziehungsnetzwerk eines Menschen als eine Art Konvoi, der ihn ein Leben lang begleitet, so sind Geschwister permanente Mitreisende, denn sie gehören zur Familie. Geschwisterbeziehungen zählen zwar auch zu den Peerbeziehungen, d.?h. Beziehungen zwischen Altersgleichen, weil sie aber gleichzeitig Familienbeziehungen sind, haben sie im Gegensatz zu Freundschafts- oder Partnerschaftsbeziehungen eher ein geringes Risiko, aufgekündigt oder ganz aufgegeben zu werden (Neyer & Lang, 2003; Wrzus, Hänel, Wagner & Neyer, 2013). Über die Lebensspanne betrachtet besitzen Geschwisterbeziehungen eine unvergleichliche Dynamik und weisen eine extreme Vielfalt auf, so dass es sinnvoll erscheint, sie sowohl aus entwicklungs- als auch aus persönlichkeitspsychologischer Sicht zu betrachten. Während alterstypische Veränderungen eher mit allgemeinen Entwicklungsprozessen assoziiert sind, ist die Vielfalt von Geschwisterbeziehungen eher Ausdruck beträchtlicher Persönlichkeitsunterschiede, welche grundsätzlich einen nachhaltigen Einfluss auf die Gestaltung sozialer Beziehungen ausüben, aber auch umgekehrt von ihnen beeinflusst werden können (Neyer & Asendorpf, 2024). Eine streng wissenschaftliche Betrachtung ist hier geboten, weil sich viele ungeprüfte Vorannahmen und Mythen um Geschwisterbeziehungen ranken, die nicht nur unsere alltäglichen Erwartungen an und den Umgang mit Geschwistern beeinflussen, sondern mitunter auch unser professionelles Handeln, z.?B. in Familienberatung und Psychotherapie. 2.1 Entwicklungspsychologische Sicht
Entwicklungspsychologisch gesehen erfahren Geschwisterbeziehungen im Lebensverlauf eine wechselhafte Relevanz als enge Bindungsbeziehung oder Quelle sozialer Unterstützung, aber auch als Ort von Rivalität und Konflikt. Hinsichtlich ihrer Enge, d.?h. ihrer Interaktionsquantität und -qualität, lässt sich empirisch ein U-förmiger Entwicklungsverlauf nachzeichnen, der eng mit alterstypischen Entwicklungsthemen verknüpft ist (z.?B. gemeinsames Aufwachsen, Auszug aus dem Elternhaus, Berufsstart, Familiengründung, Kindererziehung, gemeinsame Sorge um die alternden Eltern). Nachdem in Kindheit und Jugend die Beziehung besonders eng ist, erscheint sie im jungen und mittleren Erwachsenenalter eher gelockert, bevor sie im höheren Alter wieder enger wird. Dieses Muster scheint für alle Arten von Geschwisterbeziehungen zu gelten, auch für Zwillingsbeziehungen (Neyer, 2002). Diese typischen Verläufe werden natürlich beeinflusst vom Geschlecht (z.?B. sind Schwestern einander näher und unterstützen sich häufiger als gemischtgeschlechtliche Geschwister oder Brüder), von der genetischen Verwandtschaft (z.?B. fühlen sich leibliche Geschwister in der Regel enger verbunden als Halb- oder Stiefgeschwister), aber auch der geografischen Nähe, weil sie mehr Gelegenheiten zum Austausch schafft, und schließlich von der Persönlichkeit der Geschwister, die ihrer Beziehung die individuelle Note verleiht. Nach allem, was wir heute wissen, sind die Unterschiede zwischen Geschwisterbeziehungen hinsichtlich ihrer Qualität und Intensität über die Lebensspanne recht stabil, d.?h., es gibt gute und weniger gute Beziehungen, deren Grundstein vermutlich in Kindheit und Jugend gelegt wird (vgl. McHale, Updegraff & Whiteman, 2013, für eine Übersicht). Geschwisterbeziehungen (mit Ausnahme von Zwillingsbeziehungen) sind aufgrund ihres Altersunterschieds in der Kindheit zunächst hierarchisch strukturiert, da das ältere Geschwister stets einen Wissens- und Kompetenzvorsprung hat. Sie werden im Entwicklungsverlauf, insbesondere ab der Adoleszenz, aber zunehmend egalitärer (Campione-Barr, 2017). Für die Kindheit gilt jedenfalls: Je größer der Altersunterschied ist, umso weniger eng ist die Geschwisterbeziehung. Dies zeigt sich dann etwa auch in selteneren Konflikten zwischen Geschwistern. Dafür können deutlich ältere Geschwister gegenüber den jüngeren Geschwistern Erziehungs- oder Vorbildfunktionen übernehmen und damit die Entwicklung prosozialer Einstellungen und Verhaltensweisen fördern (Hughes, McHarg & White, 2018). Jambon et al. (2019) zeigten zum Beispiel, dass schon im Vorschulalter ältere Geschwister die Empathiefähigkeit ihrer jüngeren Geschwister positiv beeinflussen können. Bereits Alfred Adler wies aber auch auf mögliche Schattenseiten hin, dass nämlich die Entthronung des Erstgeborenen bei der Geburt des Zweitgeborenen oft eine Herausforderung ist, insbesondere bei geringem Altersabstand, auch wenn nach derzeitigem Kenntnisstand die Manifestation längerfristiger Probleme oder gar psychologischer Auffälligkeiten eher unwahrscheinlich sein dürfte (vgl. Asendorpf, Banse & Neyer, 2017, für eine Übersicht). Aus Sicht der Bindungstheorie können Geschwisterbeziehungen ähnlich wie frühe Eltern-Kind-Beziehungen eine sicherheitsspendende Funktion erfüllen – mit dem Unterschied, dass Geschwister nicht einseitig, sondern wechselseitig Sicherheit spenden. Demnach kann ein Geschwisterkind – ähnlich wie ein Elternteil – wie ein sicherer Hafen sein, in den man bei Gefahr oder in Stresssituationen zurückkehrt und sich geschützt fühlt. Gerade im Erwachsenenalter suchen sicher aneinander gebundene Geschwister immer wieder den Kontakt, wenn wichtige positive oder negative Dinge zu besprechen und verarbeiten sind. Dies kann auch erklären, warum unter Hochaltrigen die Nähe zu Geschwistern hochgeschätzt wird, z.?B., wenn Partner:innen versterben und die persönlichen Netzwerke immer kleiner werden (McHale et al., 2013; Stocker et al., 2020). Dass vermutlich aber nicht jede Geschwisterbeziehung wie ein sicherer Hafen ist und Bindungscharakter hat, dürfte systematisch mit dem Grad der Vertrautheit bzw. Intimität variieren, die während Kindheit und Jugend entstanden ist und als die Summe der gemeinsamen positiven wie negativen Erfahrungen definiert werden kann. Geschwister, die gemeinsam in unmittelbarer Nähe aufwachsen und viel Zeit miteinander verbringen, werden miteinander vertrauter sein und eher eine sichere Bindung entwickeln als Geschwister, die räumlich getrennt aufwachsen und seltener interagieren. So wird z.?B. verständlich, dass eineiige Zwillinge zeitlebens besonders enge Bindungen unterhalten, die sogar bindungssicherer erscheinen als die zwischen zweieiigen Zwillingsgeschwistern (Neyer, 2002). Ob sich darüber hinaus verschiedene Arten von Geschwisterbeziehungen hinsichtlich ihrer Bindungsqualität unterscheiden, ist uns nicht bekannt. Sollten aber leibliche Geschwister sicherer gebunden sein als Halbgeschwister und diese wiederum sicherer gebunden sein als Stief- oder Adoptivgeschwister, dürfte dies durch Vertrautheitsunterschiede in der Kindheit erklärt werden können, die wiederum mit Unterschieden im Grad der genetischen Verwandtschaft korreliert sind (Neyer & Lang, 2003). Angesichts der Vielfalt von familiären Konstellationen mit unterschiedlichsten Arten von Geschwisterbeziehungen wäre hier weitere systematische Forschung wünschenswert. Obwohl Geschwister in der Regel in ein und derselben Familie aufwachsen und ein gewisses Maß an Vertrautheit teilen, ist davon auszugehen, dass sich ihre persönlichen Umwelten nur teilweise überlappen (vgl. Neyer & Asendorpf, 2024, zum Konzept der persönlichen Umwelt). Dies ist nicht nur Ausdruck ihres Altersunterschieds, sondern auch ihrer unterschiedlichen Persönlichkeit. Geschwister nehmen beispielsweise nicht nur ihre Elternbeziehungen auf verschiedene Weise wahr, sondern auch ihre Beziehung miteinander können sie ganz unterschiedlich bewerten. Selbst eineiige Zwillingsgeschwister, die genetisch identisch und sich...


Prof. Dr. Meike Watzlawik, Dipl.-Psych., ist Leiterin des Lehrstuhls für Entwicklung. Bildung und Kultur, des Departments Psychologie sowie des Masterstudiengangs Klinische Psychologie an der Sigmund Freud Privatuniversität Berlin. Sie hat ihre Habilitation über Geschwisterbeziehungen im Jugendalter verfasst.
Prof. Dr. Holger von der Lippe, Dipl.-Psych., ist Professor für Entwicklungspsychologie mit Schwerpunkt Erwachsenenalter und Familienpsychologie an der MSB Medical School Berlin im Bachelor- und Masterstudiengang Psychologie und Psychotherapie. Sein zentrales Interessensgebiet ist seither die vergleichende Beziehungsforschung im Rahmen von familiensystemischen Netzwerkansätzen in der Psychologie.

Mit Beiträgen von:
Holger von der Lippe, Meike Watzlawik, Elisabeth Borschel, Ina Bovenschen, Paul Bränzel, Christine Entleitner-Phleps, Melanie Jagla-Franke, Leonore Julius, Selina Kappler, Esther Klees, Bettina Lamm, Ulrike Lehmkuhl, Gerd Lehmkuhl, Judith Lehnart, Franz J. Neyer, Reinhart Peukert, Birgit Wagner, Sabine Walper, Christiane Wempe und Susanne Witte.


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