E-Book, Deutsch, 380 Seiten
Watson Mehr als wahrscheinlich
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-03880-160-3
Verlag: Arctis ein Imprint der Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 380 Seiten
ISBN: 978-3-03880-160-3
Verlag: Arctis ein Imprint der Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sarah Watson ist die Erfinderin der erfolgreichen TV-Serie The Bold Type - Der Weg nach oben, die die New York Times »Sex and the Single Girl für Millennials« nannte. Zuvor war sie Autorin und Produktionsleiterin der von der Kritik hochgelobten Dramedy-Serie Parenthood. Sie lebt in Santa Monica, Kalifornien. Mehr als wahrscheinlich ist ihr erster Roman.
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Kapitel 2
Ava, CJ, Jordan und Martha (aus Fairness benutzten sie immer die alphabetische Reihenfolge) waren ein loyales und unzertrennliches Quartett. Dabei hatte ihre bemerkenswerte Freundschaft einen denkbar unspektakulären Anfang genommen. Da gab es keinen großartigen Moment des Triumphs und auch keine Tragödie. Keinen Aha-Moment. Sie begegneten sich einfach eines Tages im Park. Damals waren sie fünf Jahre alt. Es war Spätsommer und die Schlange bei der Rutsche lang. So fingen sie beim Warten an, sich zu unterhalten. Bis zum Beginn der Vorschule dauerte es noch ein paar Wochen, und jedes der Mädchen war aus ganz eigenen Gründen nervös deswegen. So war die Erleichterung groß, als sie feststellten, dass sie alle vier in dieselbe Klasse kommen würden. Eine erklärte, das sei Schicksal, und alle anderen nickten dazu. Obwohl zwei von ihnen überhaupt noch nicht wussten, was das Wort bedeutete. Am Ende dieses ersten Tages beschlossen sie, dass sie beste Freundinnen werden sollten. So einfach und selbstverständlich war das passiert.
Zwölf Jahre später behaupteten sie immer noch gerne, es sei das Schicksal gewesen, das sie an jenem speziellen Tag ausgerechnet in diesem Park zusammengeführt hatte. Wobei es schwerfällt, die überirdische Vorsehung zu bemühen, da in jenem Sommer jedes Kind aus der Gegend praktisch im Memorial Park lebte. Es gab dort nämlich nicht nur die beste Rutsche und die höchsten Turnstangen. Eine besondere Faszination übten auch die Namen aus, die in das weiche Holz des alten Klettergerüsts geschnitzt waren. Damals wussten Ava, CJ, Jordan und Martha nicht, warum die Namen dort standen. Sie konnten ja noch kaum lesen. Aber das hinderte sie nicht, mit den Fingerspitzen die Buchstaben nachzufahren und zu versuchen, die Namen zu erraten, während die Nachmittagssonne über ihren Köpfen brannte und die süßen Sommerdüfte unvergänglich schienen.
Der Schicksalstag schien einerseits eine Million Jahre her zu sein, andererseits kam es ihnen vor, als wäre er erst gestern gewesen. Daran musste Jordan denken, als sie am Abend zum Memorial Park fuhren. Sie waren spät dran, was nervte, auch wenn sie einräumen musste, dass im Grunde genommen sie die Schuld daran trug. Sie hatte sich ungefähr eine Million Mal umgezogen, bevor sie am Ende wieder in das Outfit schlüpfte, das sie als Erstes anprobiert hatte.
CJ hielt am Straßenrand, eine Ecke und mehrere Blocks vom Park entfernt. »Was machst du da?«, fragte Martha von der Rückbank.
»Für den Fall, dass die Cops auftauchen«, erklärte CJ und stellte den Motor ab. »Ich will nicht, dass mein Auto am Tatort steht.«
»Clarke Josephine Jacobson«, sagte Jordan. »Mach dich nicht lächerlich.«
CJ hörte nicht hin. Oder falls doch, gelang es ihr ausgezeichnet, Jordan zu ignorieren. Sie stieg aus dem Auto und die anderen folgten ihr. Dann steckte sie die Schlüssel in ihren Rucksack und holte eine schwarze Sweatshirt-Jacke heraus. Obwohl der Abend warm und dampfig war, zog sie den Reißverschluss des Hoodies bis oben zu. Jordan musterte sie neugierig, während sie auch noch die Kapuze aufsetzte und die Bänder daran zusammenzog, sodass nur noch ihre grünen Augen zu sehen waren. Während sie aus den Enden eine ordentliche Schleife band, wechselten die anderen Blicke.
Vor langer Zeit hatten die vier sich geschworen, nie schlecht hinter dem Rücken über eine von ihnen zu reden. Dieses Versprechen nahmen sie ernst, und so machten sie sich auch jetzt nicht heimlich lustig, als CJ sie ansah und gedämpft durch die Baumwoll-Polyester-Mischung »Was?« nuschelte.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte Martha.
Ava musterte sie von oben bis unten und legte den Kopf schräg. »Ist dir nicht ein bisschen warm da drin?«
»Ich finde, sie sieht hinreißend aus«, meinte Jordan und ging auf CJ zu. »Lächeln.«
»Hä?« Genau als CJ sich umdrehte, machte Jordan ein Foto.
»So süß«, sagte sie und schaute auf ihr Handy.
»Ha, ha. Ihr seid ja lustig. Ich will bloß nicht geschnappt werden.«
Dabei waren sie nicht etwa drauf und dran, ein Kapitalverbrechen oder Ähnliches zu begehen – sie hatten das nachgesehen, für alle Fälle. Aber ganz legal war es auch nicht. (Es handelte sich um ein geringfügiges Vergehen.) Jordan legte verschiedene Filter über das Bild.
»Wag es nicht, das zu posten«, warnte CJ mit leichter Panik in der Stimme.
»Warum denn nicht? Schau mal, wie süß du aussiehst.« Jordan hielt ihr das Handy hin.
CJ nahm es und riss erschrocken die Augen auf. »Ich sehe kein bisschen süß aus.«
Das Foto war nicht gerade schmeichelhaft. CJs Gesicht wurde von der Kapuze zusammengedrückt. Dadurch sah ihre sommersprossige Stupsnase – wahrscheinlich das Hübscheste an ihr – ein bisschen zu stupsig aus. Blonde Haarsträhnen klebten traurig an ihren Wangen, und sie wirkte groß. Sie auch groß – das größte Mädchen des Jahrgangs –, aber wenn sie das mit dem Foto gemerkt hätte, dann hätte sie wahrscheinlich gemacht, was sie immer machte: Eine Hüfte seltsam zur Seite schieben und die Schultern auf eine Weise verdrehen, von der sie behauptete, dadurch normalgroß zu wirken. Jordan sah, wie CJ das Foto löschte.
»Hey!«, beschwerte sie sich.
»Ich lasse mich doch nicht einsperren, nur weil du das irgendwo gepostet hast. Dieses eine Foto könnte meine ganze Zukunft ruinieren.«
Jordan nahm ihr das Handy wieder weg. »Meinst du nicht, dass du ein bisschen dramatisierst?«
»Vielleicht will ich in die Politik gehen. Was, wenn das Ding mich daran hindert, zur Präsidentin gewählt zu werden? Hättest du dann nicht ein furchtbar schlechtes Gewissen?«
»Keine Sorge«, sagte Jordan. »Die lassen dich trotzdem Präsidentin des Justin-Bieber-Fanclubs werden.«
»Ha, ha«, machte CJ.
»Relax, CJ«, sagte Ava. »Wir sind minderjährig. Nichts, was du als Minderjährige machst, zählt.« Avas Mom war Anwältin.
»Dann lasst uns noch all die Verbrechen begehen, solange wir es können«, meinte Martha.
»Einverstanden«, sagte Jordan. »Los geht’s. Ich habe noch am wenigsten Zeit dafür.« Begeistert hakte sie sich bei Martha unter und die beiden hüpften im Gleichschritt los.
»Ihr seid so was von blöd«, schimpfte CJ, als sie sie eingeholt hatte.
Jordan hörte auf zu hüpfen, als sie die zerbrochene Fensterscheibe des Hauses an der Ecke bemerkte. Seit sie klein waren, hatte die Gegend sich deutlich verändert. Quasi über Nacht von »idyllisch« zu »irgendwie unheimlich«. Martha wohnte nur ein paar Blocks von hier, aber auch wenn sie so tat, als würde es ihr nichts ausmachen, wusste Jordan, dass es sie kränkte, wenn Leute an der Schule die Gegend als Assiviertel bezeichneten. Jordan brauchte sich nicht mal vorstellen, wie verletzend das sein musste, sie wusste es. Denn immer wenn andere sie zusammen sahen, ging man nicht davon aus, dass Martha hier wohnte, sondern sie. Sie hatte einen Schwarzen Elternteil, und für die Leute war damit automatisch klar, dass sie in das Viertel mit kaputten Fensterscheiben und hoher Kriminalität gehörte.
Jordans Handy machte , weil sie eine Nachricht erhalten hatte. Sie war von Logan Diffenderfer. Es war nicht ganz ungewöhnlich, dass er ihr schrieb. Jordan war die Chefredakteurin der Schülerzeitung und er der Fotograf. Daher hatten sie in dieser Hinsicht viel miteinander zu tun. Seine Nachrichten fingen meist mit »Hey Boss« an. Und dann standen da Sachen wie »Hab dir die Fotos geschickt, check mal deine Mails«. Ihre Antworten klangen genauso professionell: »Hab sie bekommen, danke«, »letzte Layout-Version freigegeben« oder »Wenn du mir noch ein einziges Dick Pic schickst, bist du gefeuert«. (Dabei waren es nie wirklich obszöne Fotos, sondern Bilder von Typen namens Dick. Jordan tat immer so, als fände sie das überhaupt nicht lustig.) Die heutige Nachricht war ein bisschen anders.
Suche gerade nach dir. Schon da?
Sie wusste nicht, warum er nach ihr suchte, und es nervte sie, dass ihr Herz deshalb eine Spur schneller schlug. Dadurch fiel es ihr schwerer, so zu tun, als ob sie keine Gefühle mehr für ihn hätte. Jordan blickte zu Ava und fragte sich, ob sie diese Nachricht gesehen hatte. Hoffentlich nicht. Sie wollte nichts erklären müssen. Nicht dass sie ihre Freundin jemals anlügen würde. Wobei – das stimmte nicht ganz. Einmal hatte sie gelogen. Als sie alle in der Neunten waren, erzählte sie Ava, sie hätte mit Logan Diffenderfer Schluss gemacht, weil er ihr nichts mehr bedeute. Das stimmte nicht. Er bedeutete ihr damals was und tat es auch heute. In Wahrheit hatte Jordan wegen Ava mit Logan Schluss gemacht. Weil Ava ihn etwas hatte sagen hören. Etwas, das sie verletzt hatte.
Neben ihr zog Ava den Reißverschluss ihrer Crossbody-Tasche auf und kramte darin herum. Jordan merkte, dass sie Ava aufmerksam beobachtete, wie sie das oft tat. Ava schien gut drauf zu sein, wirkte glücklich. Doch konnte der äußere Anschein bei Ava oft trügen. Nur ihre engsten Freundinnen wussten von dem Schmerz, den sie tief in sich trug. Jordan lächelte sie an und Ava lächelte zurück. Endlich fand sie, wonach sie gesucht hatte, und zog es aus der Tasche: ein riesiges Küchenmesser.
Jordan machte einen Satz rückwärts. »Ach du Scheiße, Ava! Was zum Teufel ist das denn?«
Die Klinge schimmerte im Licht der Straßenlaterne. »Was?«, fragte Ava lässig. »Ihr habt doch gesagt, ich soll was Scharfes mitbringen. Das hier ist scharf.«
CJ nahm ihr das Messer ab....