Ward | Vor dem Sturm | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Ward Vor dem Sturm

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-88897-881-4
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Hurrikan braut sich über dem Mississippi-Delta zusammen, aber Esch und ihre drei Brüder, die mit dem Vater in einer zusammengezimmerten Hütte am Rande des Waldes inmitten von Hühnern und alten Autowracks leben, haben noch andere Sorgen. Mit kleinen Diebstählen und viel Liebe versucht Skeetah, die neugeborenen Welpen seiner Pitbull-Hündin China durchzubringen. Randall will Basketballprofi werden, aber zugleich müssen er und Esch sich um Junior, den Jüngsten, kümmern, dem wie allen die Mutter fehlt, die bei seiner Geburt gestorben ist. Da merkt die Fünfzehnjährige, dass sie schwanger ist – von Randalls bestem Freund, der mit einer anderen zusammenlebt. Wem kann man sich anvertrauen, wenn kaum einer für sich selbst sorgen kann? Und doch stehen die Geschwister, wortlos und mit kleinen Gesten, unverbrüchlich füreinander ein. Versuchen, ohne Geld Vorräte anzulegen, mit Treibholz das Haus sturmfest zu machen. Als die zwölf Tage, die den Rahmen für den Roman bilden, zu einem dramatischen Abschluss kommen, sammelt die Familie ihre Kräfte, um einem neuen Tag ins Gesicht zu sehen. Vor dem Sturm ist ein bewegender, großherziger Roman über Familienbande in einer Welt, in der es nur wenig Liebe gibt, über Hilfe und Gemeinschaft unter widrigsten Umständen. Lebensnah und voller Poesie, wirft die unvergessliche Geschichte einer bedrohten Familie angesichts eines Jahrhundertorkans ein Schlaglicht auf die Wirklichkeit eines anderen, bitterarmen Amerika.
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Der erste Tag
GEBURT UNTER EINER
NACKTEN GLÜHBIRNE CHINA HAT SICH GEGEN SICH SELBST GEWANDT. Wenn ich nicht Bescheid wüsste, würde ich denken, sie will ihre Pfoten fressen. Ich würde sie für verrückt halten. Was sie irgendwie auch ist. Lässt keinen an sich ran, außer Skeet. Als sie noch ein frecher Pitbullwelpe war, klaute sie alle Schuhe im Haus, alle schwarzen Turnschuhe, die Mama uns gekauft hatte, weil man darauf den Dreck nicht sieht und weil sie halten, bis sie völlig ausgetreten sind. Nur Mamas verschollene Sandalen mit den dünnen Absätzen, die von der schlammigen roten Erde ganz pink verfärbt waren, sahen anders aus. China versteckte alle Schuhe unter den Möbeln und hinter dem Klo oder türmte sie zu Haufen und schlief darauf. Sobald sie alt genug war, um zu rennen und die Treppe alleine hinunterzustolpern, brachte sie die Schuhe nach draußen und legte sie in kleine Mulden unter dem Haus. Starr und unnachgiebig wie ein Baum stand sie davor, wenn wir versuchten, sie ihr wegzunehmen. Jetzt jedoch gibt China, statt wie früher zu nehmen, sie schenkt, wo sie früher gestohlen hat. Sie gebärt Welpen. Was China macht, hat keine Ähnlichkeit mit dem, was Mama gemacht hat, als sie meinen kleinen Bruder Junior geboren hat. Mama kam nieder in dem Haus, in dem sie uns alle zur Welt gebracht hatte, hier auf dieser Lichtung im Wald, die ihr Vater geschlagen und bebaut hat und die wir heute das Pit nennen. Ich, das einzige Mädchen und mit acht Jahren die jüngste, war ihr keine Hilfe, obwohl Daddy meinte, sie hätte ihm gesagt, sie brauche keine Hilfe. Daddy hat erzählt, dass Randall, Skeetah und ich sehr schnell gekommen sind, dass Mama uns alle in ihrem Bett geboren hat, unter ihrer eigenen nackten Glühbirne, und als es bei Junior so weit war, dachte sie, sie könnte es genauso machen. Das hat nicht geklappt. Mama saß in der Hocke, schrie zum Schluss. Junior war so blau wie eine Hortensie, als er herauskam: Mamas letzte Blume. Genau so berührte sie Junior, als Daddy ihn ihr hinhielt: ganz zart, nur mit den Fingerspitzen, als fürchte sie, die Pollen wegzuwischen, die Pracht der Blüte zu zerstören. Sie sagte, sie wolle nicht ins Krankenhaus. Daddy schleppte sie vom Bett in seinen Wagen, während das Blut aus ihr heraustropfte, und wir sahen sie nie wieder. Was China macht, ist kämpfen, dazu wurde sie geboren. Mit unseren Schuhen, mit anderen Hunden, mit diesen Welpen, die nach draußen drängen, blind und nass. China schwitzt und die Jungs leuchten, und durch das Schuppenfenster sehe ich Daddy, dessen Gesicht glänzt wie ein Fisch unter Wasser, wenn ihn ein Sonnenstrahl trifft. Es ist still. Drückend. Es fühlt sich an, als müsste es regnen, aber es regnet nicht. Keine Sterne zu sehen, und die nackten Glühbirnen des Pit brennen. »Geh von der Tür weg. Du machst sie nervös.« Skeetah sieht aus wie Daddy: dunkel, klein und mager. Knorriger Körper, Muskeln wie Seile. Er ist der Zweitälteste, sechzehn, aber für China ist er die Nummer eins. Sie hat nur Augen für ihn. »Sie guckt uns gar nicht an«, sagt Randall. Er ist mit siebzehn der Älteste. Größer als Daddy, aber ebenso dunkel. Er hat schmale Schultern und Augen, die aussehen, als wollten sie ihm aus dem Kopf springen. In der Schule halten sie ihn für einen Langweiler, aber auf dem Basketballfeld bewegt er sich mit seinen langen Beinen so flink und anmutig wie ein Kaninchen. Wenn Daddy jagen geht, feuere ich immer das Kaninchen an. »Sie brauch Raum zum Atmen.« Skeetahs Hand gleitet über Chinas Fell, und er beugt sich vor, um an ihrem Leib zu lauschen. »Sie muss sich entspannen.« »Sie is kein bisschen entspannt.« Randall steht in der offenen Tür und hält das Laken hoch, das Skeetah als Türersatz angenagelt hat. Die ganze letzte Woche hat Skeetah im Schuppen geschlafen und auf die Geburt gewartet. Jeden Abend habe ich abgewartet, bis er das Licht ausmachte, bis ich sicher war, dass er schlief, und bin dann durch die Hintertür hinaus zum Schuppen gegangen, dahin, wo ich jetzt auch stehe, um nach ihm zu sehen. Jedes Mal habe ich ihn schlafend vorgefunden, seine Brust an Chinas Rücken. Er schmiegte sich an die Hündin wie ein Fingernagel ans Fleisch. »Ich will zugucken.« Junior umklammert Randalls Beine, beugt sich vor, um etwas zu sehen, traut sich aber nicht, mehr als seine Nasenspitze in den Raum zu stecken. China beachtet uns andere normalerweise gar nicht, und Junior beachtet China normalerweise auch nicht. Aber er ist sieben, und er ist neugierig. Als der Junge aus Germaine vor drei Monaten seinen Pitbullrüden zum Pit brachte, damit er sich mit China paaren konnte, hockte sich Junior auf ein Ölfass über der provisorischen Hundehütte, einer alten Pick-up-Ladefläche, über die Maschendraht gespannt war, und schaute zu. Als die Hunde sich ineinander verhakten, verschränkte er die Arme unter dem Kinn, rührte sich aber nicht vom Fleck, auch nicht, als ich ihn anbrüllte, er solle ins Haus gehen. Er lutschte an seinem Arm und spielte mit seinem Ohrläppchen, wie er es immer beim Fernsehen macht oder kurz vor dem Einschlafen. Ich habe ihn mal gefragt, warum er das macht, und er sagte nur, dass es wie Wasser klingt. Skeetah beachtet Junior nicht, weil er ganz auf China konzentriert ist, so wie ein Mann sich auf eine Frau konzentriert, wenn er glaubt, sie gehört ihm, was bei China der Fall ist. Randall sagt nichts, aber er versperrt mit einem Arm die Tür, damit Junior nicht reingehen kann. »Nein, Junior.« Ich strecke ein Bein aus, um die Absperrung komplett zu machen, die Junior von dem Hund fernhält, von der gelben Schleimspur, die unter Chinas Hinterteil allmählich eine Pfütze auf dem Boden bildet. »Lass ihn zugucken«, sagt Daddy. »Er’s alt genug für so was.« Seine Stimme ist ein Planet in der Dunkelheit, der um den Schuppen kreist. Er hält in einer Hand einen Hammer, in der anderen ein paar Nägel. China kann ihn nicht ausstehen. Ich lasse locker, aber Randall rührt sich nicht. Junior ebenso wenig. Daddy dreht sich von uns weg wie ein Komet, der in die Dunkelheit entschwindet. Man hört den Hammer auf Metall treffen. »Er macht sie nervös«, sagt Skeetah. »Vielleicht musst du ihr beim Pressen helfen«, sage ich. Manchmal denke ich, dass Mama deswegen gestorben ist. Ich sehe sie vor mir, das Kinn auf der Brust, wie sie angestrengt versucht, Junior aus sich herauszupressen, während Junior sich an ihre Eingeweide klammert, nach allem greift, was er erwischen kann, um drinzubleiben, aber stattdessen hat er nur alles mit sich herausgezogen, als er auf die Welt gekommen ist. »Sie brauch null Hilfe beim Pressen.« Und die braucht China wirklich nicht. Ihre Seiten zucken. Sie knurrt, ihr Maul ist ein schwarzer Strich. Ihre Augen sind rot; der Schleim färbt sich rosa. Alles an China verspannt sich, unter ihrer Haut werden Tausende von Murmeln sichtbar, und dann scheint sie ihr Innerstes nach außen zu stülpen. Wo sie offen ist, sehe ich eine lila-rote Knolle. China erblüht. Hätte einer von Daddys Saufkumpanen ihn gefragt, was er heute Abend macht, hätte er gesagt, er macht alles für den Hurrikan bereit. Wir haben Sommer, und im Sommer kommt oder geht hier praktisch immer gerade ein Hurrikan. Jeder einzelne von ihnen schiebt sich über den flachen Golf bis zu dem zweiundvierzig Kilometer langen, künstlich angelegten Strand von Mississippi, wo er an den alten Sommervillen mit den zu Gästehäusern umgewandelten Sklavenhütten rüttelt, ehe er über den Bayou fegt, durch die Kiefern hindurch, um abzuflauen, sich auszuregnen und schließlich im Norden zu verenden. Die meisten treffen uns gar nicht mehr direkt; die meisten drehen nach rechts in Richtung Florida ab, oder nach links in Richtung Texas, sausen vorbei und gleiten an uns ab wie ein Hemdärmel. Es hat schon seit Jahren keinen mehr gegeben, der direkt auf uns zukam; lange genug, um zu vergessen, wie viele Wasserflaschen wir füllen müssen, wie viele Dosen Sardinen und Schmalzfleisch wir einlagern sollten, wie viele Wannen voll Wasser wir brauchen. Aber im Radio, das ständig in Daddys geparktem Pick-up läuft, wurde heute Vormittag davon gesprochen. Ich habe gehört, wie die Wettervorhersage meldete, das neunte tropische Sturmtief habe sich über dem Golf von Mexiko aufgelöst, aber ein weiteres scheine sich bei Puerto Rico zu bilden. Heute hat mich Daddy deshalb geweckt, indem er vom Flur aus laut an die Wand von meinem und Juniors Zimmer geklopft hat. »Aufwachen! Wir haben viel zu tun.« Junior drehte sich zur Wand und zog die Knie an die Brust. Ich setzte mich kurz auf, damit Daddy glaubte, ich würde aufstehen, dann legte ich mich wieder hin und döste ein. Als ich zwei Stunden später wieder wach wurde, lief Daddys Autoradio. Juniors Bett war leer, seine Decke lag auf dem Fußboden. »Junior, hol die restlichen Schnapsflaschen.« »Unter dem Haus sind keine, Daddy.« Draußen vor dem Fenster zeigte Daddy mit seiner Bierdose auf die Unterseite des Hauses. Junior zog seine Shorts hoch. Daddy gestikulierte noch mal, und Junior ging in die Hocke und kroch unter das Haus. Er hatte da unten keine Angst, im Gegensatz zu mir, als ich klein war. Junior verzog sich...


Ward, Jesmyn
Jesmyn Ward, geb. 1977, wuchs in DeLisle, Mississippi, auf. Nach einem Literaturstudium in Michigan war sie Stipendiatin in Stanford und Writer in Residence an der University of Mississippi. Sie lehrt derzeit Englische Literatur an der Tulane University in New Orleans. Jesmyn Ward ist die erste Frau, die zweimal mit dem wichtigsten amerikanischen Literaturpreis, dem National Book Award, ausgezeichnet wurde: für "Vor dem Sturm" (Kunstmann, 2013) und für "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt" (Kunstmann, 2018). 2017 wurde ihr auch der MacArthur Genius Grant verliehen.

Jesmyn Ward wuchs in DeLisle, Mississippi, auf. Nach einem Literaturstudium in Michigan war sie Stipendiatin in Stanford und Writer in Residence an der University of Mississippi und lehrt derzeit Creative Writing an der University of South Alabama. Ihr zweiter Roman Vor dem Sturm erhielt den National Book Award sowie mehrere weitere Auszeichnungen als bester Roman des Jahres 2011 und wurde in den USA zum Bestseller.

Jesmyn Ward wuchs in DeLisle, Mississippi, auf. Nach einem Literaturstudium in Michigan war sie Stipendiatin in Stanford und Writer in Residence an der University of Mississippi und lehrt derzeit Creative Writing an der University of South Alabama. Ihr zweiter Roman Vor dem Sturm erhielt den National Book Award sowie mehrere weitere Auszeichnungen als bester Roman des Jahres 2011 und wurde in den USA zum Bestseller.


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