E-Book, Deutsch, Band 24, 248 Seiten
Reihe: Orbis Romanicus
Das paulinisch-augustinische Liebeskonzept beim Arcipreste de Hita
E-Book, Deutsch, Band 24, 248 Seiten
Reihe: Orbis Romanicus
ISBN: 978-3-8233-0491-3
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Anna Waldschütz studierte Romanische Philologie im Hauptfach, in den Nebenfächern Religionswissenschaft und Neuere deutsche Literatur an der LMU München.
Autoren/Hrsg.
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II.1 „Biographie“ des Juan Ruiz
Der Begriff „Biographie“ steht hier ganz bewusst in Anführungszeichen. Schließlich sind so wenige Details über das Leben des Juan Ruiz bekannt, dass man kaum eine ganze Biographie erstellen könnte. Dennoch wird diese Vokabel hier verwendet, weil nun versucht wird, nähere Einblicke in sein Leben zu gewinnen. Zunächst soll ein Blick auf die bisherige Forschung die Grundlage dieser Untersuchung bilden. Im Jahr 1965 veröffentlichte Anthony N. Zahareas seine Abhandlung The Art of Juan Ruiz, Archpriest of Hita, in welcher er verschiedene Aspekte des LBA untersuchte, unter anderem Juan Ruiz' Äußerungen zur weltlichen Liebe, die für diese Dissertation besonders wichtig sind. Es geht ihm aber nicht nur um die Verwendung von Begriffen, sondern er behandelt auch die Frage nach der Identität des Autors bzw. wie es sein kann, dass ein vermeintlicher Geistlicher so deutlich über die weltliche Liebe schreibt. Das Besondere an seinen Ausführungen ist, dass es für ihn nicht nur den Erzähler gibt, sondern er ihn in seinen Doppelrollen als „Erzähler-?Liebhaber“ („narrator-?lover“) und „Erzähler-?Kommentator“ („narrator-?commentator“) wahrnimmt. Diese Unterscheidung erleichtert die Interpretation des LBA ungemein, indem sie wie eine Art Kompromiss erscheint, die den Erzähler aus zwei Perspektiven zeigt: den Liebenden, der ebenso wie seine Leser:innen den Gesetzen der Natur unterworfen ist und sich seiner Sündhaftigkeit nicht erwehren kann, und den Kommentierenden, der weiß, dass sein Handeln nicht konform mit den christlichen Leitlinien geht und gleichzeitig v. a. auf zum Teil ironische Weise Anleitungen gibt, wie man auf den rechten Weg zurückfinden kann, wenn man sich einmal in die sündige Welt verirrt hat. Zahareas gelingt es, die Komplexität wie auch die Komik des LBA auf den Punkt zu bringen: Für die meisten Kritiker:innen ist es der Kontrast zwischen dem Liebenden, der als liebenswürdig, ängstlich und manchmal auch naiv dargestellt wird, und dem Kommentator mit seinen klaren Moralvorstellungen, der sowohl die Vielschichtigkeit als auch die Ironie des LBA ausmacht. Zahareas beruft sich u. a. auf María Rosa Lida de Malkiel, wenn er erläutert, dass der Erzpriester die Form des Ich-?Erzählers wohl gewählt hat, um Nähe zu den Leser:innen zu schaffen, also um ihnen als Beispiel zu dienen. Von einem autobiographischen „Ich“, das auch in überzeichneten Situationen dargestellt wird, ist demnach eher abzusehen. Spitzer meint, dass der Erzpriester lediglich die Form einer Autobiographie gewählt habe, die Verwendung der 1. Person Singular bedeute aber noch nicht, dass der Erzähler auch wirklich alles erlebt habe, was er schildert. Außerdem sagt Spitzer, der Erzpriester folge dem Beispiel der Heiden, die ihre Philosophie in Fabeln versteckten, indem auch er seine Darstellung der rechten Liebe in einem Buch über die törichte Liebe zwischen den Zeilen erläutere. Diese Standpunkte dienen der Feststellung, dass wir es mit mehr als einem Autor, einem Erzähler und einem lyrischen Ich zu tun haben. Die Grenzen dieser Begriffe verschwimmen im LBA zu einem Konstrukt, in dem man sich die Frage stellen muss, wer gerade spricht bzw. ob es eine Mischform aus den verschiedenen Rollen gibt. Daher müssen wir also davon ausgehen, dass an der ein oder anderen Stelle doch auch autobiographische Elemente im LBA auftauchen. Die Verbindung aus Dichtung und (eventuell) Biographischem verleiht dem LBA seine besondere Atmosphäre. Sucht man nach weiteren Hinweisen über den Autor und seine Biographie, stößt man unweigerlich auch auf die Beschreibungen der Kupplerin, die Doña Garoza davon überzeugen sollen, dass es sich lohnt, Don Polo zum Geliebten zu nehmen. Die indirekte Selbstbeschreibung des Erzpriesters ist aber wahrscheinlich kein wirklicher Hinweis auf die Person des Autors, ist sie doch eine Auflistung erotischer Merkmale, die noch dazu nicht ein einziges „priesterliches“ Detail erkennen lassen, sodass man wohl davon ausgehen muss, dass der Erzähler nur die sehr konkrete Beschreibung eines für die damalige Zeit besonders attraktiven Mannes dargelegt hat. „Don Polo“ ist einer der beiden Namen, die sich der Erzpriester gibt. Der erste ist „Don Melón“. Warum der Arcipreste ausgerechnet bei den beiden zentralen Episoden jeweils einen anderen Namen wählt, hat zu vielen Diskussionen geführt. Zumindest im Fall der Endrina-?Episode wissen wir aus sicherer Quelle, dass es sich nicht um eine biographische Begebenheit handelt, schließlich sagt das der Erzpriester selbst in c. 909. Hier erklärt er, er habe die Geschichte von Endrina nur erzählt, um seinen Leser:innen ein Beispiel zu nennen, nicht, weil sie ihm selbst passiert sei. Diese sehr deutliche Aussage lässt keine weiteren Fragen offen. Nun könnte aber noch eine Kleinigkeit bei manchen Leser:innen für Verwirrung bezüglich des Namens- und Personenwechsels gesorgt haben: In den später eingefügten Überschriften wird der Protagonist dieser Episode nach wie vor als „Arçipreste“ bezeichnet, z. B. zwischen c. 652 und c. 653 („Aquí dize de cómo fue fablar con Doña Endrina el Arçipreste“) oder c. 870 und c. 871 („De cómo Doña Endrina fue a casa de la vieja e el Arçipreste acabó lo que quiso“). Dass der bzw. ein Kopist hier eventuell mitverantwortlich für die Unklarheiten in der Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler gewesen sein könnte, wurde bisher wohl nicht berücksichtigt. Der Name „Don Polo“, den der Erzpriester in der Garoza-?Episode aufbringt, wird in Kapitel V.1.2 näher untersucht. Jaques Josets Ausführungen aus dem Jahre 1988 liefern weitere, wenn auch nur vage Hinweise auf die Person des Juan Ruiz. Mit Sicherheit kennen wir den Vor- und Zunamen des Autors, welchen Beruf er ausübte und wo er gelebt hat sowie die Jahresangaben 1330 und 1343 aus den Manuskripten Toledo (T) und Salamanca (S). Die Erwähnung, dass sich der Autor auf Befehl des Don Gil de Albornoz im Gefängnis befunden habe, entbehrt nach wie vor jeglicher Beweise und wird auch von Joset stark angezweifelt. Möglicherweise schrieb er Teile des Werkes, bevor er Erzpriester wurde, z. B. die Endrina-?Episode. Joan Corominas und Joset sehen es nämlich durch Erwähnung des Ortes „Fita“ in c. 845a erwiesen, dass sich der Autor hier auf seinen Geburtsort bezieht: Corominas liest aus diesem Vers einen jugendlichen Mut heraus, der ihn annehmen lässt, dass der Autor sich zum Zeitpunkt der Dichtung noch nicht der Kirche und ihren Regeln unterworfen haben könnte; Joset hingegen glaubt, es handle sich bei der Vorstellung des Verehrers in diesem Vers um einen Fehler in der Pamphilus-?Adaption, hält Corominas' These aber für durchaus möglich. Wiederum andere Forscher:innen behaupten, „Juan Ruiz“ sei lediglich ein Pseudonym, was weitere Untersuchungen unmöglich machen würde. Allerdings gibt es auch für diese These keine wirklichen Beweise, sodass dieser Vermutung genauso viel bzw. wenig Wahrscheinlichkeit zukommt wie allen Untersuchungen, die die Existenz des Autors namens Juan Ruiz zu beweisen versuchen. Im Jahr 1984 tauchte ein Dokument auf, das auf den ersten Blick eindeutig zu sein schien: Francisco J. Hernández behauptete, im Liber privilegiorium ecclesie Toletane des Madrider Nationalarchivs die Erwähnung eines „Johannes Roderici archipresbiter de Fita“ gefunden zu haben. Es handelt sich bei diesem Schriftstück um ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1330 und der genannte Johannes Roderici wurde wohl als Zeuge aufgerufen. Hernández versprach zwar, eine ausführlichere Untersuchung zu liefern, diese blieb allerdings aus, sodass auch hier nur spekuliert werden kann, ob es sich bei dem Zeugen um den Autor des LBA handelt. Für den Mediävisten und ehemaligen Direktor der Real Academia toledana, Ramón Gonzálvez Ruiz, ist die Nennung dieses Namens im oben genannten Schriftstück bereits ein Beweis für die Existenz des Juan Ruiz, Erzpriester von Hita. Schließlich sei es laut Gonzálvez Ruiz sehr unwahrscheinlich, dass es zwei Erzpriester aus demselben Ort zur selben Zeit mit demselben Namen gegeben habe. Gonzálvez Ruiz erläutert in seinem Aufsatz den Zweck, den das Liber privilegiorum erfüllte. Demnach wurden hier Schiedssprüche festgehalten, die die Vormachtstellung der Kirche demonstrierten. Die Erwähnung des Juan Ruiz, Erzpriester von Hita, als Zeuge in einem derart wichtigen Dokument ist für Gonzálvez Ruiz ein eindeutiger Hinweis darauf, dass Juan Ruiz sogar als Erzpriester von Hita erkannt werden wollte. Gonzálvez Ruiz beschreibt auch, welche Funktion der Erzpriester von Hita hatte: Damals gehörte Hita zum Erzbistum Toledo, weswegen Juan Ruiz an die toledanische Kirche gebunden war. Er gehörte keinem Orden an, war auch kein Wanderprediger, sondern ein sogenannter weltlicher Kleriker („clérigo secular“), der dem toledanischen Erzbischof unterstand und eine priesterliche Funktion ausübte. Als Historiker und Archivar der Kathedrale von Toledo beschreibt Ramón Gonzálvez Ruiz in dem hier zitierten Artikel die Lebensumstände der Geistlichen im Spanien des 14. Jahrhunderts allgemein. U. a. schildert er, dass weltliche Kleriker nicht an den Zölibat gebunden...