Wagamese | Das weite Herz des Landes | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Wagamese Das weite Herz des Landes

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-641-26288-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als der sechzehnjährige Franklin Starlight herbeigerufen wird, um seinen Vater Eldon, den er kaum kennt, zu besuchen, trifft er auf einen vom Alkohol gezeichneten, dem Tode geweihten Mann. Die beiden machen sich auf den Weg durch das raue Herzland British Columbias und auf die Suche nach einer letzten Ruhestätte, wo Eldon nach Art der indianischen Krieger beerdigt werden will. Auf der Reise erzählt der Vater dem Sohn seine Lebensgeschichte, die Momente der Verzweiflung genauso wie die Tage der Hoffnung und des Glücks - und so entdeckt Franklin eine Welt, die er nicht kannte, eine Geschichte, die ihm fremd war, und ein Erbe, das er hüten kann.Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky, Professorin für Amerikanistik an der Universität Augsburg.

Richard Wagamese, geboren 1955 im Nordwesten Ontarios, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Kanadas und indigenen Stimmen der First Nations. Er veröffentlichte 15 Bücher, für die er vielfach ausgezeichnet wurde, u.a. mit dem Publikumspreis des Canada-Reads-Programms des staatlichen Rundfunks für den Roman 'Der gefrorene Himmel', dessen von Clint Eastwood produzierte Verfilmung ebenfalls preisgekrönt wurde. Als Kind von seinen Eltern getrennt, aufgewachsen in Heimen und bei Pflegefamilien, die ihm eine Beziehung zu seinen indigenen Wurzeln verboten, wurde Wagamese erst im Alter von 23 Jahren wieder mit seiner Familie vereint. Er ließ sich in Kamloops, British Columbia, nieder, wo ihm später von der Thompson Rivers University die Ehrendoktorwürde verliehen wurde. Richard Wagamese verstarb im Jahr 2017.
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1 Er führte die alte Stute aus dem Pferch und zu einem Tor, das sich hinaus auf die Weide öffnete. Letzte Nacht hatte es gefroren, und sie hinterließen Spuren im Raureif. Er schlang die Leine um die mittlere Zaunlatte, machte kehrt und ging zum Stall, um Decke und Sattel zu holen. Die Spuren sahen im feucht schmelzenden Frost wie Tintenkleckse aus, und einen Augenblick blieb er stehen und versuchte, darin Szenen zu entdecken. Er war eigentlich kein Träumer, ab und zu jedoch tat er so, als wäre er einer. Jetzt aber sah er bloß das welke Gras und den Matsch der Weide, schüttelte den Kopf über diese Spinnerei, durchquerte den Pferch und trat durch das schwarz gähnende Stalltor. Der Alte melkte die Kuh, wandte sich um, als er ihn kommen hörte, und spritzte einen Strahl Milch in seine Richtung. »Dein Frühstück«, sagte er. »Hab schon gegessen«, sagte der Junge. »Ist besser, direkt aus der Zitze.« »Gibt bessere Zitzen.« Der Alte lachte meckernd und melkte weiter. Der Junge blieb eine Weile stehen und sah zu, doch als der Alte zu pfeifen anfing, wusste er, das Gespräch war zu Ende, und so ging er in die Sattelkammer. Es roch nach Leder, Pferdesalbe, staubtrockenem Futter, darunter lag ein schwacher Gestank von Schimmel und Mist. Er atmete die Luft tief ein, zerrte den Sattel vom Halter, warf ihn sich über die Schulter und zog die Decke vom Haken neben der Tür. Er trat in den Flur, wo ihm der Alte mit dem Milcheimer entgegenkam. »Hast du genug Mäuse?« »Ein paar«, sagte der Junge. »Reicht.« »Reicht nie«, sagte der Alte und stellte den Eimer ins Stroh. Der Junge schaute über die Schulter des Alten zur Stute, die am frostigen Gras beim Zaunpfahl knabberte. Der Alte nestelte sein Geldbündel aus der Tasche und kniff im Halbdunkel die Augen zusammen. Er zählte raschelnd ein paar Banknoten ab und hielt sie dem Jungen hin, der mit den Füßen im Stroh scharrte. Der Alte wedelte mit den Scheinen, und schließlich griff der Junge danach. »Danke«, sagte er. »Kannst mal was im Diner essen, wenn du in die Stadt kommst. Besser als der Fraß, den ich koche.« »Ist aber auch gut, dein Fraß«, sagte der Junge. »Ist ganz in Ordnung. Ich bin mit Hafergrütze und Schmalzbrot groß geworden. Wir haben immerhin Schinkenspeck, und mein Fladenbrot ist auch nicht schlecht.« »Das Karnickel gestern Abend war auch richtig gut«, sagte der Junge und steckte das Geld in die Brusttasche seiner Flanelljacke. »Das wird dich eine Weile auf den Beinen halten. Er ist krank. Das weißt du, oder?« Der Alte sah ihn streng an und schob das Geldbündel wieder in die Brusttasche seiner Latzhose. »Hab ihn schon krank gesehen.« »Aber nicht so.« »Ich komm damit klar.« »Musst du auch. Wird kein schöner Anblick sein.« »Sicher nicht. Aber er ist mein Vater.« Der Alte schüttelte den Kopf und bückte sich nach dem Milcheimer. Als er sich wieder aufrichtete, schaute er dem Jungen direkt in die Augen. »Nenn ihn, wie du willst. Aber sei auf der Hut. Wenn er krank ist, lügt er.« »Lügt auch, wenn er nicht krank ist.« Der Alte nickte. »Ich an deiner Stelle, ich würd nicht hingehen. Würd mich an das halten, was ich hab, ob er mich nun zu sich ruft oder nicht.« »Was hab ich denn schon.« Der Alte sah sich in der muffigen Scheune um, schürzte die Lippen und blinzelte. »Sie ist eine modrige Bruchbude, aber sie gehört uns. Wenn’s mit mir vorbei ist, gehört sie dir. Mehr, als er dir je wird geben können.« »Er ist mein Vater.« Der Alte nickte, drehte sich um und stapfte den Gang entlang davon. Alle paar Schritte musste er die Hand mit dem Eimer wechseln, und als er zur Schiebetür am Ende des Ganges kam, setzte er ihn ab und zog mit beiden Händen an den schweren Bohlen. Das Licht traf den Jungen hart, und er hielt sich schützend die Hand vor die Augen. Der Alte stand umrahmt vom Morgenstrahlen in der Tür. »Diese Stute mag die Kälte nicht besonders. Musst sie erst mal leicht reiten. Dann kannst du sie antreiben. Sie wird rennen«, sagte er. »Wird er sterben?« »Kann man nicht wissen«, sagte der Alte. »Klang jedenfalls nicht gut. Aber wenn du mich fragst, ist er schon eine ganze Weile dabei zu sterben.« Er drehte sich im hellgelben Licht um und ging. Der Junge blieb noch einen Augenblick stehen und sah ihm nach, drehte sich dann auch um, ging zurück durch den Pferch und wieherte leise. Die Stute hob den Kopf und erschauerte, der Junge sattelte sie rasch, stieg auf, und die beiden trabten langsam über die Weide davon. Zunächst war das Buschwerk dünn, wo das Gras am Ende der Weide aufhörte. Küstenkiefern und Fichten wuchsen, wo es noch flacher war, doch als das Land sich zu Hügeln wölbte und zu einem Berg anwuchs, kamen Gelbkiefern, Birken, Espen und Lärchen dazu. Der Junge saß entspannt im Sattel, rauchte und lenkte das Pferd mit den Knien. Sie wichen Brombeerbüschen aus, stiegen vorsichtig über Stumpf und Stein und das entzündete rote Holz gestürzter Kiefern. Es war Spätherbst. Das Dunkelgrün der Fichten wandelte sich in grämliches Grau, und die plötzlichen Farbausbrüche der letzten sich festklammernden Blätter stachen ihm ins Auge wie aufflammende Glühwürmchen auf einem dunklen Feld. Das Pferd wieherte leise, genoss den lockeren Gang, und eine Weile hielt der Junge die Augen geschlossen, um auf die Bewegungen von Tieren weiter hinten im Dickicht zu lauschen. Er war groß für sein Alter, grobknochig und kantig, sein ernster Blick hatte etwas Missmutiges, und er war still, weshalb manche ihn für mürrisch, grüblerisch und tiefsinnig hielten. Nichts davon stimmte. Er hatte sich nur daran gewöhnt, allein zu sein, und ging so sparsam mit Worten um, dass er unverblümt und direkt klang, eher wie ein Mann redete, nicht wie ein Jugendlicher. Sodass die Menschen seine Schweigsamkeit seltsam fanden und ihm aus dem Weg gingen, denn sein störrischer Indianerblick verstörte, auch wenn er erst sechzehn war. Der Alte hatte ihn früh den Wert der Arbeit gelehrt, und er arbeitete gern, die Landwirtschaft machte ihn zufrieden, Pferde und die schrankenlose Weite des Hochlandes machten ihn froh. Er verließ die Schule, sobald er konnte. Er hatte keinen Sinn für Bücher, und hier draußen, wo er den Großteil seiner Freizeit verbrachte, war kein Bedarf an großen Ideen oder Theorien oder Gesprächen, und er war es zufrieden zu schweigen, hörte Symphonien im Pfeifen des Windes, wenn er über einen Bergkamm strich, Arien in den Schreien der Adler und Falken, dem Schnauben der Grizzlys und dem durchdringenden Ruf eines Wolfes vor dem ungerührten Blick des Mondes. Er war Indianer. Der Alte sagte, das sei seine Art, und er hatte es immer als die Realität hingenommen. Er lebte ganz für sich auf dem Rücken eines Pferdes, in Unterständen aus Kiefernästen, an nächtlichen Lagerfeuern, in der Bergluft, die süß und rein wie Quellwasser schmeckte, und auf kaum zu entdeckenden Pfaden, denen er hinauf in Höhen folgte, die nur Pumas, Murmeltiere und Adler kannten. Der Alte hatte ihn das meiste gelehrt, was er wusste, doch er war inzwischen zu alt und krumm für den Sattel, und so erkundete der Junge seit fast vier Jahren den größten Teil des Landes allein. Tage-, manchmal wochenlang. Allein. Einsam hatte er sich nie gefühlt. Wenn er überhaupt mal drüber nachdachte, er hätte dieses Wort nicht definieren können. Es schlummerte unerklärt und unnötig in ihm wie Algebra; Land und Mond und Wasser summierten sich zu der einzigen Gleichung, die seiner Welt Gültigkeit verlieh; und er ritt hindurch, umhüllt von der Geborgenheit der Landschaft wie vom Refrain eines alten Kirchenliedes. Das war es, was er kannte. Das war es, was er brauchte. Die Stute wurde schneller, er ließ sie gewähren und durch die Bäume in Richtung Creek traben, der in südwestlicher Richtung durch die Schlucht schnitt. Darum hatte er sie unter den drei Pferden ausgesucht, die sie besaßen. Trittsicher, verlässlich, scheute nicht leicht. Als sie zum Creek kamen, schritt sie ins Wasser, neigte den Kopf und trank, während er sitzen blieb, sich eine Zigarette drehte und nach Anzeichen für Hirsche Ausschau hielt. Die Sonne kroch über den Bergkamm, bald würde der Morgen auch über den Talkessel hereinbrechen. Es war ein Tagesritt bis in die Fabrikstadt am Parson’s Gap, und er hatte Zeit sparen wollen, indem er direkt über den nächsten Kamm ritt. Ein Wildwechsel schlängelte sich hinauf, dem würde er folgen und der Stute das Tempo überlassen. Er war schon ein Dutzend Mal mit ihr heraufgekommen, sie kannte den Geruch von Puma und Bär, also würde er sie im Schritt gehen lassen, rauchen und die Landschaft betrachten. Als sie genug getrunken hatte, lenkte er sie aus dem Bach und nach Norden, zum Beginn des Pfades. Sie folgte ihm problemlos, und die Erinnerung an warme...


Herzke, Ingo
Ingo Herzke, Jahrgang 1966, hat Klassische Philologie, Anglistik und Geschichte in Göttingen und Glasgow studiert. Seit 1999 lebt er mit seiner Familie in Hamburg und übersetzt neben Gary Shteyngart u. a. Alan Bennett, Nick Hornby, A. L. Kennedy, Kate de Goldi, Joshua Cohen und A. M. Homes.

Wagamese, Richard
Richard Wagamese, geboren 1955 im Nordwesten Ontarios, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Kanadas und indigenen Stimmen der First Nations. Er veröffentlichte 15 Bücher, für die er vielfach ausgezeichnet wurde, u.a. mit dem Publikumspreis des Canada-Reads-Programms des staatlichen Rundfunks für den Roman "Der gefrorene Himmel", dessen von Clint Eastwood produzierte Verfilmung ebenfalls preisgekrönt wurde. Als Kind von seinen Eltern getrennt, aufgewachsen in Heimen und bei Pflegefamilien, die ihm eine Beziehung zu seinen indigenen Wurzeln verboten, wurde Wagamese erst im Alter von 23 Jahren wieder mit seiner Familie vereint. Er ließ sich in Kamloops, British Columbia, nieder, wo ihm später von der Thompson Rivers University die Ehrendoktorwürde verliehen wurde. Richard Wagamese verstarb im Jahr 2017.


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