Warum wir postkoloniale Perspektiven brauchen
E-Book, Deutsch, 211 Seiten
ISBN: 978-3-7615-7013-5
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Claudia Währisch-Oblau verbindet theologische Gedanken mit praktischen Erfahrungen und lässt zusammen mit 16 internationalen Co-Autor:innen ein vielschichtiges, herausforderndes und zukunftsfähiges Bild postkolonialer Mission entstehen.
"Mission ist eine Bewegung der Heiligen Geistkraft Gottes und sprengt damit menschliche Programme, Pläne und Machtansprüche. Postkolonial Mission treiben bedeutet, sich darauf einzulassen, Macht abzugeben und Veränderung zuzulassen." (Claudia Währisch-Oblau)
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Kapitel 1 Missionstheologie: Vom imperialen „die Welt für Christus erobern“ zum „gemeinsam mit anderen Christus entdecken“ Was ist eigentlich „Mission“? Wenn ich erzähle, dass ich für die Vereinte Evangelische Mission (VEM) arbeite, kommt oft als erste Rückfrage, wie viele „Missionar*innen“ wir denn hätten. Gemeint sind weiße deutsche Menschen, die im globalen Süden das Evangelium predigen, Gesundheits- und Entwicklungsprojekte aufbauen und ‚einheimische‘ Kirchen in ihrer Arbeit unterstützen. Ja, es gibt in Deutschland noch Missionswerke, die so arbeiten. Aber die Zeit von Mission allein als Bewegung von Nord nach Süd ist lange vorbei. Mission postkolonial – darum geht es in diesem Buch. Es will Ihnen einen Eindruck davon vermitteln, wie Mission im 21. Jahrhundert aussieht und wie Menschen über diese Mission theologisch nachdenken. Aber das geschieht natürlich nicht im leeren Raum. Darum schauen wir in den ersten beiden Kapiteln in die Geschichte: Kapitel 1 beschreibt Entwicklungen in der Missionstheologie und Missionspraxis, und Kapitel 2 reflektiert die Verwicklung der Mission in das koloniale Projekt des globalen Nordens, und was für uns im globalen Norden heute daraus folgt. Der Begriff „Mission“ als ein Projekt europäischer Christ*innen taucht erst im 16. Jahrhundert auf. Belegt ist er in diesem Verständnis zuerst bei Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesuitenordens. Jesuitische Mönche verpflichteten sich zu Armut, Keuschheit, Gehorsam und Mission: Gemeint war damit die Gegenreformation, das Zurückbringen der Menschen in Europa zur richtigen katholischen Lehre und Kirche. Der Begriff „Mission“ hatte also von Anfang an einen Beigeschmack von kirchlicher Selbsterhaltung, Machtausbreitung und rechthaberischer Lehre – und er entstand in einer Zeit, in der die Kirche in einer existentiellen Krise war. Wer aber die Missionsgeschichte mit Ignatius von Loyola beginnt, übersieht, dass das Evangelium ja seit Pfingsten in der Welt ausgebreitet wurde – nur dass vor Ignatius niemand den Begriff „Mission“ gebrauchte. Und auch da ist es wichtig, über Europa hinaus zu blicken. Denn in Europa war die Christianisierung häufig ein gewaltvoller Prozess – man denke nur an die blutige Christianisierung der Sachsen unter Karl dem Großen! Um zu sehen, dass Ausbreitung des Evangeliums und Gewalt nicht notwendig zusammengehören, ist es wichtig, auch die Missionsgeschichte außerhalb Europas wahrzunehmen. Denn da konnte die Ausbreitung des Evangeliums ganz anders aussehen. Ein Beispiel: Im 7. Jahrhundert brachten Mönche der ostsyrischen Kirche aus dem heutigen Iran das Evangelium entlang der Seidenstraße bis nach China. Der Mönch Alopen erreichte die damalige chinesische Hauptstadt Chang’an (heute Xi’an) um 635 und gründete dort mit kaiserlicher Erlaubnis eine christliche Gemeinde. Die kaiserliche Stele, die das beurkundet, kann man bis heute in Xi’an besichtigen. In der Gegend von Xi’an entstanden wenig später die sogenannten Jesus-Sutren, Evangelienparaphrasen in chinesi scher Sprache. Sie sind der Ausdruck eines durch und durch chinesischen Christentums, das sich in buddhistischen und daoistischen Begriffen ausdrückt. Ganz offensichtlich haben die iranischen Mönche intensive interreligiöse Dialoge geführt und dabei viel gelernt. Die Ruine des Klosters Louguantai in Zentralchina wurde erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts als christlich identifiziert – so sehr entsprach die Bildsprache der Wandmalereien daoistischen und buddhistischen Motiven. Umgekehrt finden sich im chinesischen Volksbuddhismus manche Vorstellungen, die womöglich auf einen christlichen Einfluss zurückgehen: So zum Beispiel der Glaube, die Anrufung des Amitofu (Amitabha Buddha) werde die Gläubigen nach ihrem Tod sogleich in das Paradies des Reinen Landes eingehen lassen. Wir haben hier also ein ganz anderes Modell von „Mission“: Nicht etwa eine klar definierte und sich von Fremdem abgrenzende Religion, die im Prozess kolonialer Eroberung auf eine andere trifft und sie ablöst. Sondern eine Basisbewegung von Glaubenden, die im Dialog mit anders Glaubenden ihren eigenen Glauben neu formulieren und dabei nicht nur Menschen für ihren eigenen Glauben gewinnen, sondern auch den Glauben von Menschen anderer Religionen beeinflussen. Es ist schade, dass diese missionarische Praxis in Europa kaum bekannt ist. Doch zurück zur Mission, wie sie heute landläufig verstanden und kritisiert wird. Im 15. und 16. Jahrhundert führten Entwicklungen in Seefahrt und Navigation zur „Entdeckung“ neuer Kontinente. Erstaunt stellten die portugiesischen und spanischen Seefahrer fest, dass die Einwohner dieser Kontinente keine Christ*innen waren. Das konnte die katholische Kirche nicht hinnehmen. Gerade hatte man erst die iberische Halbin sel mit großer Gewalt gegen Muslime und Juden (wieder) christianisiert. Diese Reconquista (Wiedereroberung) setzte sich nun als Conquista in Lateinamerika fort: Mission wurde zur Welteroberung mit allen Mitteln. Dabei war das Ziel vorrangig die Gründung von Kirchen als Anstalt zur Rettung der Seelen der Kolonisierten. Dass die Eroberer die indigene Bevölkerung brutal ausbeuteten, wurde rassistisch damit gerechtfertigt, dass die Indios noch nicht die Entwicklungsstufe der Weißen erreicht hätten. Nur wenige Missionare kritisierten dieses Denken oder forderten vom Evangelium her eine bessere Behandlung für die Kolonisierten ein. Mission wurde zur Welteroberung mit allen Mitteln. Die zweite Hochphase der Mission begann im 19. Jahrhundert. Katholische wie protestantische Kirchen gerieten damals in eine tiefe Krise. Industrialisierung, Säkularisierung, technischer Fortschritt, die Gründung von Nationalstaaten und das Entstehen von Demokratien bedeuteten, dass die kulturellen und politischen Geltungsansprüche der Kirchen immer stärker eingeschränkt wurden. Als Antwort auf diesen Bedeutungsverlust entstand eine neue Missionsbewegung. Sie ging aber interessanterweise nicht von Pfarrern und Kirchenleitenden aus, sondern von der Gemeindebasis. Viele Missionswerke, darunter auch die Rheinische Mission, eine Vorläuferin der VEM, wurden von ‚missionsgesinnten‘ Kaufleuten gegründet. Diese Kaufleute sahen im Kolonialismus nicht nur eine geschäftliche Chance, sondern auch die Möglichkeit, noch nicht christianisierte Menschen mit dem Evangelium zu erreichen. Der Höhepunkt der kolonialen Missionsbewegung war die erste Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910. Die Begeisterung war groß: Die Delegierten glaubten, dass es möglich sei, die gesamte Welt innerhalb einer Generation zu evangelisieren, wenn die Kirchen sich nur ausreichend anstrengten und die richtigen Methoden anwendeten. Denn es war ja nicht hinzunehmen, dass Millionen von Menschen nur deshalb in der Hölle landeten, weil ihnen das Evangelium noch nie nahe gebracht worden war! Aber die Missionsbegeisterung von Edinburgh war durchaus problematisch. Sie war nämlich zutiefst rassistisch geprägt und vom Gedanken an weiße Überlegenheit durchdrungen. Mission war der Auftrag des weißen Mannes – Frauen waren in Edinburgh nicht vertreten, und von über tausend offiziellen Delegierten kamen nur neunzehn aus dem globalen Süden. Evangelisierung bedeutete die Ausbreitung des Christentums, so wie es im globalen Norden verstanden wurde. Christsein bedeutete ‚Zivilisation‘, die denkbar höchste menschliche Entwicklungsstufe, zu der man die anderen Völker erst bringen musste. Man begrüßte die Auflösung traditioneller ‚heidnischer‘ Kulturen; und nicht-christliche Religionen galten schlicht als Hindernisse, die zu überwinden waren. Gedacht und geredet wurde in militärischen Metaphern: Mission war die Eroberung der Welt für Christus und für die westliche Zivilisation. Und ganz pragmatisch wurde überlegt, wie Missionsgesellschaften und Kirchen für dieses Ziel zusammenarbeiten könnten. Evangelisierung bedeutete die Ausbreitung des Christentums, so wie es im globalen Norden verstanden wurde. Doch dann kam der Erste Weltkrieg … und der Gedanke, dass die westliche Zivilisation das Christentum verkörperte, zerbrach – zumindest bei vielen, die theologisch über Mission nachdachten. (In manchen evangelikalen Missionswerken aus dem globalen Norden hat er allerdings bis heute überlebt.) Allerdings blieb das Nachdenken über Mission weiterhin ein weißes Unterfangen; Christ*innen aus dem globalen Süden wurden nicht gehört. Wie lässt sich Mission aber theologisch begründen, wenn man sie nicht mit Welteroberung zusammendenkt? Diese Frage trieb Missionstheologen (Theologinnen sind mir nicht bekannt) in den nächsten Jahrzehnten um. Eine Antwort darauf bahnte sich erst in den fünfziger Jahren an. Sie basiert auf dem theologie- und kirchenkritischen Denken Karl Barths und wurde unter dem Stichwort Missio Dei (Mission Gottes) bekannt. Weil sie theologisch ganz neu ansetzt, muss ich ein bisschen ausholen, um sie zu erklären: Seit dem 16. Jahrhundert war Mission immer als ein Auftrag an die Kirche verstanden worden – sie begann also quasi mit dem „Missionsbefehl“ (Matthäus 28,16–20). Ihr Ziel war die Gründung neuer und die Vergrößerung bestehender Kirchen, damit Menschen neu getauft würden und ihre Seelen damit nach dem Tod in den Himmel kämen. Denkt man aber so, geht es eigentlich immer...