E-Book, Deutsch, 213 Seiten
von Wirth / Döpfner ADHS in der Lerntherapie
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8444-3111-7
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein verhaltenstherapeutischer Praxisleitfaden
E-Book, Deutsch, 213 Seiten
ISBN: 978-3-8444-3111-7
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zeigen häufig Probleme in der Selbststeuerung, die zu Lernschwierigkeiten führen können. Zudem leiden Kinder mit einer ADHS nicht selten an einer Lese-Rechtschreibstörung (Dyslexie) oder Rechenstörung (Dyskalkulie). In der Lerntherapie fällt es den Betroffenen jedoch oft schwer, über einen längeren Zeitraum still zu sitzen und Aufgaben sorgfältig zu bearbeiten. Häufig sind sie leicht abgelenkt, unruhig und reagieren schnell frustriert, wenn ihnen etwas nicht gelingt. Dieser Praxisleitfaden unterstützt Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten beim Umgang mit hyperaktiven, unaufmerksamen und impulsiven, aber auch oppositionell-verweigernden Verhaltensweisen. Ausgehend von einem verhaltenstherapeutischen Modell werden konkrete und leicht umsetzbare Handlungsempfehlungen vorgestellt. Dazu gehören u.a. die Gestaltung der Rahmenbedingungen in der Lerntherapie, die Einführung von Regeln und Routinen, der Einsatz positiver und negativer Konsequenzen und die Etablierung von Token-Systemen (Belohnungsplänen) sowie Strategien zur Verbesserung der Handlungsplanung in Lernsituationen. Ausführlich wird zudem beschrieben, wie die Zusammenarbeit mit den Eltern konstruktiv gestaltet werden kann. Die vorgestellten Handlungsempfehlungen wurden in der psychotherapeutischen Arbeit mit Familien und Lehrkräften entwickelt und haben sich in vielen Studien als wirksam erwiesen. Anschauliche Beispiele, leicht verständliche Schritt-für-Schritt-Anleitungen sowie zahlreiche Arbeitsblätter und Checklisten helfen dabei, die Strategien auf individuelle Problemsituationen in der Lerntherapie zu übertragen.
Zielgruppe
Lerntherapeut_innen, Ergotherapeut_innen, Sonderpädagog_innen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Pädagogik Teildisziplinen der Pädagogik Sonderpädagogik, Heilpädagogik Lernschwierigkeiten, Legasthenie, ADHS
- Sozialwissenschaften Pädagogik Pädagogik Pädagogische Psychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Entwicklungspsychologie Pädagogische Psychologie
Weitere Infos & Material
|43|2 Der verhaltenstherapeutische Ansatz
Die in diesem Praxisleitfaden beschriebenen Interventionen basieren auf einem verhaltenstherapeutischen Ansatz. Das bedeutet, dass das Ziel der Interventionen der Aufbau oder die Zunahme von erwünschten Verhaltensweisen ist (z.?B. konzentriertes Bearbeiten von Übungsaufgaben), während als problematisch empfundenes Verhalten (z.?B. häufiges Aufstehen oder Arbeitsverweigerung) reduziert werden soll. Bei expansiven Verhaltensproblemen liegt ein wesentlicher Schwerpunkt der Verhaltenstherapie darin, das erwünschte Verhalten des Kindes systematisch zu verstärken und förderliche Rahmenbedingungen herzustellen, also die Situation, in der das problematische Verhalten auftritt, zu verändern. Auch kindzentrierte Interventionen (z.?B. Selbstinstruktions- und Selbstmanagementtrainings) sind häufig Bestandteil eines verhaltenstherapeutischen Behandlungskonzeptes (siehe Abbildung 1). |44|Um Ansatzpunkte für Veränderungen zu finden, wird in der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen zunächst möglichst konkret und situationsbezogen definiert, welches Verhalten als problematisch empfunden wird (Problemdefinition) und welche Einflussfaktoren dazu beitragen, dass das Kind dieses Verhalten zeigt. In dieser sogenannten Verhaltensanalyse werden neben den Merkmalen des Kindes (Persönlichkeitsmerkmale, Temperament, Erkrankungen, Belastungen, aber auch Ressourcen und Stärken) auch die Merkmale der spezifischen Situationen, in denen das Verhalten auftritt (Rahmenbedingungen), betrachtet sowie die positiven oder negativen Konsequenzen, die auf das Verhalten folgen (siehe z.?B. Wittchen & Hoyer, 2011). Basierend auf den Ergebnissen der Verhaltensanalyse werden dann passende Interventionen gewählt, die dem Kind oder der Jugendlichen bzw. dem Jugendlichen helfen, ein zuvor definiertes Zielverhalten zu zeigen oder zu erlernen. 2.1 Positive und negative Konsequenzen
Der amerikanische Psychologe Burrhus F. Skinner (1904?–?1990) beobachtete, dass Verhalten nicht nur durch vorhergehende Stimuli beeinflusst wird (wie etwa beim klassischen Konditionieren), sondern dass die Häufigkeit von Verhalten auch durch seine Konsequenzen bestimmt wird. Als Verstärker bezeichnete er eine Konsequenz, die die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens erhöht, während eine Bestrafung die Auftretenswahrscheinlichkeit verringert. Diese Beobachtung, die Skinner als operante Konditionierung bezeichnete, bildete die Grundlage für die vielfältigen operanten Methoden, mit denen heute in der Verhaltenstherapie gearbeitet wird. Meist wirken positive Konsequenzen verstärkend. Ein Kind wird ein bestimmtes Verhalten demnach häufiger (oder verstärkt) zeigen, wenn auf das Verhalten eine angenehme Konsequenz folgt, wie z.?B. Anerkennung, Zuwendung oder ein anderes schönes Ereignis. Man nennt dies positive Verstärkung. Auch das Wegfallen oder Entfernen eines unangenehmen Ereignisses oder Zustandes, wie z.?B. der Abbruch oder die Vermeidung einer schwierigen Aufgabe, kann als angenehm empfunden werden und verstärkend wirken. Diese sogenannte negative Verstärkung kann gezielt eingesetzt werden, um erwünschte Verhaltensweisen aufzubauen, z.?B., wenn eine Lehrperson einem Kind sagt, dass es keine Hausaufgaben aufbekommt, wenn es ihm gelingt, 15 Minuten konzentriert zu arbeiten. Negative Verstärkungsprozesse können aber auch ungeplant stattfinden und werden oft als Erklärungsmodell für Vermeidungsverhalten herangezogen. Man geht davon aus, dass die Vermeidung einer schwierigen Aufgabe oder einer angstauslösenden Situation zu einer kurzfristigen Reduktion von Angst und Spannung führt, welche als erleichternd und angenehm empfunden wird. Dadurch tritt das Vermeidungsverhalten immer häufiger auf, und das Kind macht nicht (oder nur sehr selten) die Erfahrung, die Situation meistern zu können. Langfristig bleiben Erfahrungen der Selbstwirksamkeit daher aus und die Angst vor der Situation wird immer größer. |45|Als negativ oder unangenehm erlebte Konsequenzen führen meist dazu, dass ein Verhalten seltener auftritt. Eine negative Konsequenz kann darin bestehen, dass ein unangenehmes Ereignis auf das Verhalten folgt, z.?B., wenn ein Kind das verschüttete Wasser wieder aufwischen muss. Eine negative Konsequenz kann aber auch darin bestehen, dass etwas Schönes weggenommen oder entfernt wird, z.?B., wenn ein Kind wegen eines Regelverstoßes während der Pause nicht auf den Schulhof darf. In vielen Situationen hat ein Verhalten nicht nur eine, sondern mehrere, teils unterschiedliche Konsequenzen. Manche Konsequenzen folgen direkt auf das Verhalten (kurzfristige Konsequenzen), andere zeigen sich erst später (langfristige Konsequenzen). Ein Schüler, der die Schule schwänzt, erlebt z.?B. kurzfristig angenehme Folgen seines Verhaltens: Die Angst vor dem Unterricht nimmt ab oder verschwindet, er hat freie Zeit und erfährt eventuell sogar Anerkennung durch seine Mitschülerinnen und Mitschüler. Langfristig überwiegen oft die negativen Folgen: Die Eltern schimpfen, die Lehrer geben schlechte Noten und ggf. muss der Schüler die Schule auch verlassen. Kinder mit ADHS sprechen auf kleine und unmittelbare Belohnungen besser an als auf größere Belohnungen, die ihnen zu einem späteren Zeitpunkt in Aussicht gestellt werden (Jackson & MacKillop, 2016; Marx et al, 2021). Diese Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben, ist bei Kindern generell geringer ausgeprägt als bei Jugendlichen oder Erwachsenen (Oerter & Montada, 2008). Kinder mit ADHS sind jedoch besonders empfänglich für zeitnahe Belohnungen. Studien haben gezeigt, dass eine direkte Verstärkung bei Kindern mit ADHS zu einer Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit bei kognitiven Aufgaben führt. Interessanterweise ist dieser Effekt bei Kindern mit ADHS stärker ausgeprägt als bei Gleichaltrigen ohne ADHS (siehe Ma, van Duijvenvoorde & Scheres, 2016). Diese Beobachtung können Sie sich bei der Behandlung von Kindern mit ADHS oder ADHS-Symptomen zunutze machen, indem Sie erwünschtes Verhalten unverzüglich durch ein Lob oder eine kleine, attraktive Belohnung verstärken. Die Wirksamkeit von systematischer Verstärkung und anderen operanten Verfahren ist bei Kindern mit expansiven Verhaltensproblemen gut belegt (Coles et al., 2020; Daley et al., 2018; De Meyer, Becker, Tripp & van der Oord, 2019; Waschbusch et al., 2020). In Kapitel 4.2 (Systematisch belohnen) stellen wir dar, wie Sie erwünschtes Verhalten im lerntherapeutischen Setting verstärken können. Obwohl es Hinweise darauf gibt, dass negative Konsequenzen bei Kindern mit ADHS und anderen expansiven Verhaltensproblemen weniger wirksam sind als bei Gleichaltrigen ohne expansive Verhaltensprobleme (Groen, Gaastra, Lewis-Evans & Tucha, 2013; Humphreys & Lee, 2011), können diese aus unserer Sicht unter ganz bestimmten Voraussetzungen angemessen sein. In Kapitel 4.3 (Negative Konsequenzen) beschreiben wir daher auch, wie Sie im lerntherapeutischen Setting negative Konsequenzen setzen können. |46|2.2 Problem- und Zieldefinition im lerntherapeutischen Kontext
Um passende Interventionen für ein bestimmtes Kind oder eine Jugendliche bzw. einen Jugendlichen auszuwählen, ist es wichtig, dass Sie sich vorab bewusst machen, welche Verhaltensweisen des Kindes oder der bzw. des Jugendlichen Sie als problematisch empfinden, da sie die Durchführung von Übungsaufgaben erschweren (Problemverhalten), und welche Verhaltensweisen die Durchführung von Übungsaufgaben erleichtern oder erst ermöglichen würden (Zielverhalten). Versuchen Sie sich bei der Definition des Problemverhaltens anfangs auf einige wenige problematische Verhaltensweisen zu fokussieren, die Sie als belastend für das Kind oder die Jugendliche bzw. den Jugendlichen oder sich selbst erleben und die Sie als veränderbar einschätzen. So vermeiden Sie, dass an zu vielen Problemen gleichzeitig gearbeitet wird und nicht nur Sie, sondern auch das Kind oder die bzw. der Jugendliche sich überfordert fühlen. Bei der Problemdefinition ist es außerdem wichtig, dass das als problematisch empfundene Verhalten möglichst konkret und situationsspezifisch formuliert wird. Dabei können die folgenden Fragen hilfreich sein: Was genau macht das...