E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-7410-0196-3
Verlag: Schüren Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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Bei Romanen kann es von den allerersten Sätzen abhängen, ob jemand weiterliest oder nicht. Dass Zuschauer bereits nach wenigen Minuten reihenweise aus einem Kinosaal flüchten, kommt dagegen eher selten vor. Ob und wie ein Film in Erinnerung bleibt, entscheidet sich mit dem Ende. Deshalb feilschen Produktionsfirmen, Regisseure und Regisseurinnen oft so hartnäckig um den letzten Cut. Mit dem Schluss erhält das Werk seinen finalen Schliff. Der Anfang aber gibt die Richtung vor. Er liefert die Folie, durch die das restliche Geschehen betrachtet und gehört wird. Gute Filmanfänge rütteln das Publikum wach. Sie erzeugen Aufmerksamkeit; sei es mit assoziativen Schlaglichtgewittern à la Danny Boyle oder mit einem Hinkucker wie Scarlett Johanssons Po, der in einem fadenscheinigen, lachsfarbenen Slip steckt und das erste ist, was man in Sofia Coppolas LOST IN TRANSLATION (2003) zu sehen bekommt. Immerhin eine halbe Minute lang. Grandiose Anfänge aber prägen den gesamten Film – und bleiben noch lange danach unvergessen. VERTIGO (USA 1958; Regie: Alfred Hitchcock) Der treibende Sound von Bernard Herrmanns Score; Hände auf einer Feuerleiter; eine Verfolgungsjagd über Dächer. Und Hollywoodstar James Stewart, der an einer Dachrinne baumelt. Der Auftakt von Hitchcocks VERTIGO hat eigentlich alles, was ein Thriller braucht. Der heimliche Star aber ist Stewarts Blick in die Tiefe bzw. die Technik, mit der dieser inszeniert wurde. Beim Dolly-Zoom fährt die Kamera auf Schienen, während gleichzeitig in die gegenläufige Richtung gezoomt wird. Herauskommt ein schwindelerregender Eindruck, dem Hitchcocks Film seinen Namen gab: der Vertigo-Effekt. SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD (I/USA 1968; Regie: Sergio Leone) Auf einen Zug zu warten, ist oft öde. Manchmal aber auch ungemein aufregend. Je nachdem, wer im Zug sitzt. Aber anderen beim Warten zuschauen? Zu Beginn von SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD beweist Sergio Leone, dass auch das hochgradig spannend sein kann. Dabei passiert fast nichts. Männer mit Cowboyhüten kucken grimmig. Einer fängt mit seinem Revolver eine Fliege. Ein anderer trinkt Wasser aus der Hutkrempe. Aber all das geschieht so quälend langsam, dass die Atmosphäre bis zum Zerreißen gespannt ist, als endlich der Zug eintrifft und Charles Bronson auf der Mundharmonika spielt. Dann geht alles ganz schnell. 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM (GB/USA 1968; Regie: Stanley Kubrick) Einer der legendärsten Filmanfänge ist streng genommen gar keiner. Satte 19 Minuten nämlich dauert es in 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM bis zum wahrscheinlich berühmtesten Match Cut der Kinogeschichte. Ein affenartiger Vormensch wirft einen Knochen in die Luft, Tausende Jahre später treibt eine Raumstation durchs Weltall. Dazwischen: nur ein Schnitt. Vor diesem legendären Sprung durch Raum und Zeit lässt es Kubrick allerdings ruhig angehen. Drei Minuten lang präsentiert er nichts als sattes Schwarz zu den sphärischen Klängen von György Ligeti. Danach: ein Sonnenaufgang aus kosmischer Perspektive, ein angriffslustiger Leopard, Urmenschen streiten um ein Wasserloch. Scheinbar aus dem Nichts taucht über Nacht ein schwarzer Monolith auf. Einer unserer Urahnen knüppelt mit einem Knochen auf das Skelett eines Tapirs ein. Und als man sich allmählich fragt, was das ganze Gekreische, Gehüpfe und Armgeschlenker im Affenpelz eigentlich soll, wischt Kubrick mit einem epochalen Schnitt alle Zweifel beiseite. Natürlich, genau so musste man das erzählen! Mit «Also sprach Zarathustra» und «An der schönen blauen Donau», mit Richard und Johann Strauss. In Zeitlupe. Ohne Worte. THE WILD BUNCH (USA 1969; Regie: Sam Peckinpah) Peckinpahs Spätwestern räumt von Beginn an mit dem romantischen Hollywoodbild vom verwegenen Outlaw auf. Der Film eröffnet mit einer der bis dahin längsten und brutalsten Schießereien des Genres. Gnadenlos ballern sich Pike Bishop (William Holden) und seine Männer nach einem Banküberfall den Weg frei. Sie belästigen Frauen und nehmen auch auf Kinder keinerlei Rücksicht. Als der Streifen 1969 in die US-Kinos kam, war eine derart harsche, ungeschönte Gewaltdarstellung für viele Zuschauer ein Schock. UHRWERK ORANGE (GB/USA 1971; Regie: Stanley Kubrick) Hier also kommt Alex (Malcolm McDowell). Nicht etwa Campino, sondern Wendy Carlos ist es, die mit ihrer elektronischen Synthesizerversion von Henry Purcells «Music for the Funeral of Queen Mary» in Kubricks Burgess-Verfilmung den bedrohlich unterkühlten Klangteppich für den ersten Auftritt von Alex auslegt: Sein Gesicht in Großaufnahme. Ohne Schirm und Charme, dafür mit Melone und Hosenträgern, künstlichen Wimpern am rechten Auge und einem schrägen Grinsen. Den eisblauen Blick frontal in die Kamera gerichtet. Wortlos, reglos verharrt er, während mit abnehmender Brennweite allmählich auch seine Kumpels ins Bild geraten. Ganz in weiß uniformiert, abgesehen von den schwarzen Bowler-Hüten und ihren Springerstiefeln. Und fast so starr wie die porzellanweiß-nackten Frauenfiguren, die in obszöner Brückenhaltung als Tische und Fußablage dienen. Willkommen in der Korova-Milchbar! Aus dem Off stellt Alex jetzt seine «Droogs» vor: Pete, Georgie und Dim, die sich mit einem Glas «Moloko-Plus» in Stimmung bringen «für ein wenig Ultra-Brutale». DER WEISSE HAI (USA 1975; Regie: Steven Spielberg) In dieser legendären Auftaktszene wird Chrissie Watkins (Susan Backlinie) das erste Opfer des (noch unsichtbaren) Killerfisches. Ein junges Pärchen trinkt und flirtet am Strand. Plötzlich springt das Mädchen auf und hüpft ins Wasser. Unterwegs reißt sie sich noch das Shirt vom Leib. Der junge Kerl stolpert hinterher, will wissen, wie sie nochmal heiße. «Chrissie», ruft sie und später «Komm ins Wasser» und noch später «Oh Gott hilf mir! Argh!» Aber da ist Tom Cassidy (Jonathan Filley) schon sturzbetrunken am Strand eingeschlafen. KRIEG DER STERNE (USA 1977; Regie: George Lucas) Bananengelbe Buchstaben rollen über eine schwarze Leinwand, auf der kleine helle Sprenkel einen Sternenhimmel andeuten. Fluchtpunktartig verliert sich die Schrift in der Tiefe einer fiktiven Galaxie. Aus dem Off schmettern Fanfaren die von John Williams komponierte Titelmelodie. Daada Dadada Daaada. Dadada Daaada. Dadada Daaaa! Die ersten Sekunden von George Lucas’ STAR WARS haben Filmgeschichte geschrieben, ohne dass dafür auch nur eine einzige Einstellung hätte gedreht werden müssen. APOCALYPSE NOW (USA 1979; Regie: Francis Ford Coppola) Der Sound von Rotoren und den «Doors», dazu der Panoramablick auf den Rand des Dschungels wie auf eine gigantische Fototapete. Gelbe Rauchschwaden wabern vorüber. Und von einer Sekunde auf die nächste geht der Wald in Flammen auf. Das Feuer, den Brand hört man nicht, nur die Rotoren der Helikopter und den Gesang von Jim Morrison: «This is the end …» – als wär’s ein Videoclip. Coppola inszenierte den Napalmeinsatz im Vietnamkrieg zum Auftakt seines Kriegsfilmes so wunderschön, dass er sich damit den Vorwurf der Ästhetisierung einhandelte. Eine wohl durchaus beabsichtigte Provokation. BLUE VELVET (USA 1986; Regie: David Lynch) Behaglich wie eine Picknickdecke breitet David Lynch in der ersten Einstellung von Blue Velvet die Farben der US-amerikanischen Flagge vor seinem Publikum aus. Gemächlich, sommerträge senkt die Kamera ihren Blick. Vor einem weiß getünchten Lattenzaun ragen rote Rosen in den azurblauen Himmel. Jazzsänger Bobby Vinton trällert schmachtend von zärtlichen Seufzern und blauem Samt. Diese Ikonografie einer makellosen Wertegemeinschaft gerät jedoch sogleich in Schieflage. Frederick Elmes’ Kamerafahrt ent-gleitet in die bedrohliche Froschperspektive eines Tierhorrorstreifens hinein. Böses lauert da zwischen den Grashalmen. Wollte man Lynchs gesamtes Filmœuvre auf dreizehn Sekunden einkochen, es müssten diese sein. DIE UNBESTECHLICHEN (USA 1987; Regie: Brian De Palma) Aus der Vogelperspektive senkt sich die Kamera auf einen Mann, der im Frisierstuhl zur Audienz geladen hat. Mafiapate Al Capone (Robert de Niro) ist umringt von Reportern, während er sich rasieren lässt. Er scherzt, alles lacht. Der Barbier klappt das Rasiermesser auf, ein Reporter stellt die Frage nach der Gewalt. Al Capone zuckt zusammen, das Messer ritzt seine Haut. Al Capone blutet, und der Barbier starrt ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Der Mafiaboss zögert, dann beschwichtigt er. Gewalt sei schlecht fürs Geschäft, behauptet er. Blut klebt ihm dabei an den Fingern. In nicht mal zwei Minuten ist das Spannungsfeld zwischen freundlicher Fassade und lauernder Gewalt damit erst einmal...