Roman.
E-Book, Deutsch, 350 Seiten
ISBN: 978-3-86334-712-3
Verlag: adeo Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fabian Vogt erzählt die inspirierende und herausfordernde Geschichte von 2017 mit literarischem Feingefühl und großer Leidenschaft. Der Leser wird in die atemberaubende Dynamik eines geistlichen Aufbruchs mit hineingenommen. In eine Zeit voller Segen und Fluch, Jubel und Anfeindung, Angst und Zärtlichkeit.
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Mittwoch, 10. September 2042
Verehrte Festgäste,
liebe Geschwister in Christus! Unsere Bewegung hatte im Lauf der Jahre verschiedene, erstaunliche Namen: Ganz am Anfang hieß sie „Faithbook“, dann für kurze Zeit „Teamzone“, später „2017“ oder lässig „Zwanzig-Siebzehn“ (was mir immer noch am sympathischsten ist und am leichtesten über die Zunge geht) und schließlich „Lebendige Kirche“ oder kurz „LK“. Für diesen Titel hat sich nach schier endlosen Diskussionen die Bundessynode entschieden. Im Herbst 2035. Unter anderem wegen der leichten Übersetzbarkeit: Living church. Église vivante. Chiesa viva. Levende Kerk. Iglesia viviente. Klingt ja auch nicht schlecht. Ein Name mit Zukunft. Ein Programm. Eine Marke. Allerdings: Mit dem, was ich ursprünglich wollte, mit meinem vorsichtigen, hoffnungsvollen, so sinnlichen Traum von einer veränderten Kirche hatte das alles schon lange kaum noch etwas zu tun. Oder doch? Ich weiß es nicht. Nicht mehr. Noch immer bekomme ich jeden Tag unzählige Mails, Flashcalls und E-Letters, in denen Menschen sich persönlich dafür bedanken, dass ich die „Lebendige Kirche“ angestoßen habe. Es sind meist schwärmerische, begeisterte Schreiben. Voller überschäumender Begriffe wie „Neugeburt“, „Zeichen des Himmels“, „Hingabe“ oder „Erweckung“. Die Menschen sind zutiefst davon bewegt, dass ich – so formulieren sie sinngemäß – die verkrusteten, institutionalisierten, geistlich verkümmerten Alt-Kirchen überwunden und neue Wege zu einer leidenschaftlichen Spiritualität eröffnet habe. Habe ich das? Habe ich das wirklich getan? Oder habe ich nur dafür gesorgt, dass es nun neben der evangelischen Kirche, der katholischen Kirche und den Freikirchen eben auch noch die „Lebendige Kirche“ gibt? Sodass ich möglicherweise einfach als ein weiterer Kirchenspalter in die Geschichte eingehe. Ich bin mir da sehr unsicher. Oder sagen wir besser: unsicher geworden. Eigentlich wollte ich … Mensch, die ersten Jahre waren so … so wie ein Sog. Was für eine unfassbare Aufbruchsstimmung! Wahnsinn … Es war eine Revolution. Unfassbar. Eine richtige geistliche Revolution. Alles kam in Bewegung. Wirklich alles. Ich hatte frisch meine Thesen veröffentlicht. 2017. Am Reformationstag. Natürlich! Es sollte so etwas wie ein Gedankenspiel sein. Eine Anregung. Eine Reminiszenz an Martin Luther. Und unter uns: Es war auch viel Übermut dabei. Jugendlicher Übermut. Lust an der Provokation. Spaß am kreativen Experimentieren. Ich wollte die Kirche ein wenig kitzeln. Herausfordern. Sie in Fahrt bringen. Aber die Leute haben diese Thesen, meine Thesen, ernst genommen. Viel ernster als ich. Nein, so kann man es nicht sagen. Natürlich war und ist mir die Kirche ein Herzensanliegen. Ein großes sogar. Aber ich hätte damals nie gedacht, dass sich daraus eine solche Bewegung entwickeln würde, eine Bewegung, die die religiöse Landschaft inzwischen von Grund auf umgekrempelt hat. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa – ja, auf der ganzen Welt. Offensichtlich war die Zeit reif für eine Erneuerung. Nun, jedes Mal, wenn ich wieder die euphorische Mail eines zur „Lebendigen Kirche“ konvertierten oder frisch in ihr bekehrten Menschen lese, muss ich an diese turbulenten frühen Jahre denken. Das ist und bleibt ein Glücksgefühl. Allerdings werde ich meist ganz schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Dann, wenn ich – was mindestens genauso häufig vorkommt – eine Nachricht mit wüsten Beschimpfungen oder gar mit Morddrohungen öffne. Ja, seit mehr als 20 Jahren stehe ich unter Personenschutz. Kein Wunder. Fanatische Gläubige aller Konfessionen verunglimpfen mich als „Satan“, als „Häretiker“ oder als „Antichristen“. Und mit dem, was man mir schon alles antun wollte, könnte ein geschickter Regisseur mehrere Horrorfilme bestücken. Nein, ganze Serien. Passend für RTL3. Das Schrecklichste an diesen meist ungehobelten, wütenden Pamphleten ist aber, dass ich die Absender verstehen kann. Nicht ihre garstigen Formulierungen, aber ihre Not. Ihre Angst. Ihre Verzweiflung. Ihre unsagbare Verwirrung. Sie fürchten sich vor dem freiheitlichen Ansatz unserer Kirche … Christian van Haewen las noch einmal durch, was er bislang geschrieben hatte. Mit zunehmendem Groll. Dann drückte er Strg + A, markierte damit den gesamten Text und löschte ihn mit einem trotzigen Tastendruck. Entf Weg! Weg damit. So nicht. So ging das auf keinen Fall. Ein derart unstrukturierter Mischmasch aus nostalgischem Rückblick, melancholischen Zweifeln und unverhohlenem Ärger war unbrauchbar. Er trank den kalt gewordenen Kaffee und starrte missmutig auf den Bildschirm. Lange. Er konnte und wollte nicht heucheln. Nicht mehr. Nicht jetzt. Und vor allem nicht an diesem Tag. Darum sollte er sein Grußwort nicht so … so allgemein … so anbiedernd … so scheu formulieren. Aber wie dann? 25 Jahre „Lebendige Kirche“. Das war eine Chance. Seine Chance. Vielleicht die letzte. Beim feierlichen Festakt war es eventuell möglich, noch einmal das Ruder rumzureißen. Mit einer großen Rede, einer Rede, die Augen und Herzen öffnen würde. Mist. Da saß er, der für seine die Realität verändernden Predigten gerühmte Kirchengründer, der Formulierungskünstler, der theologische Poet – und suchte ziellos nach Worten. Nach den richtigen Worten. Nach Worten, die das Unheil würden aufhalten können. Wenn das möglich war. Und wenn es denn überhaupt ein Unheil war. Schluss mit den trüben Gedanken. Think positive. Mann! Wo ist das Vertrauen hin? Der Glaube? Dein Glaube? Vertraue, vertraue einfach … So, und jetzt konzentrier dich! Leichter gesagt als getan. Sollte er ehrlich erwähnen, wie sehr es ihn verletzt hatte, dass man ihn zwar anstandshalber als spirituellen Grußonkel eingeladen hatte …ja, man hatte ihn eingeladen … zur Jubiläumsfeier der Kirche, die er selbst gegründet hatte … was für eine Farce …dass er aber in den Leitungshierarchien der Organisation kaum noch etwas zu melden hatte? Zumindest nicht in den vielen neu gegründeten Gremien und Arbeitsgruppen. Christian war so lange, für manche viel zu lange, der Vordenker der Bewegung gewesen – doch in den letzten Jahren prägten andere, machthungrigere Gestalten die Entwicklung der Kirche. Seiner Kirche. Also: Was, bitteschön, sollte er verkünden beim Jubiläum? Beim „Großen Festakt der LK“? Sollte er, wie es die anderen Grußworte zweifellos machen würden, mit euphorischen Bildern die Erfolgsgeschichte der „Lebendigen Kirche“ in Form einer vorgezogenen Heiligenlegende zelebrieren? Schwärmend? Hingegeben? Mit leicht zitternder Stimme? „Schaut, wie uns Gott gesegnet hat. 25 Jahre voller Glanz und Gloria. Mit Jesus an unserer Seite. Wir machen alles so viel zeitgemäßer als die anderen Kirchen. Wir sind auf dem richtigen Weg. Hört: So wurde aus einer Vision eine neue Wirklichkeit. Halleluja. Preist den Herrn!“ Auf keinen Fall. Er würde ihnen nicht nach dem Mund reden. Obwohl das dem Rat sicher gefallen hätte. Die glaubten nämlich daran. Ernsthaft. Ja, die waren aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass sie, und zwar nur sie, das Heil gefunden hatten. Die kamen gar nicht mehr auf die Idee, die Bewegung an sich infrage zu stellen. Seltsam. Sehr seltsam sogar. Und vor allem so ganz und gar unprotestantisch. Aber das passierte ja immer wieder. Also musste er Klartext reden. Andererseits: Es wäre schon verwegen, wenn er beim Festakt all seine existenziellen Zweifel ausbreiten würde. Ein Stimmungstöter. Der alt und grau gewordene Gründungsvater, der sich auf einmal als Gewissen der Nation aufspielt. Dessen Schwung und Leidenschaft umgeschlagen sind in Sorge. Natürlich würden sie tuscheln: „Wahrscheinlich ist er beleidigt und nutzt das hier für eine billige Retourkutsche. Schade. Früher war er mal wichtig. Schaut euch den müden Miesepeter an.“ Nein. Niemand möchte an einem solchen Feiertag auf die Schwachpunkte seiner Gemeinschaft hingewiesen werden. Oder doch? Wohl kaum. Die wollten feiern. Einfach nur feiern. Und sie hatten ja auch nicht ganz unrecht. Natürlich gab es etwas zu feiern. Für viele Millionen Menschen. Für den Glauben, für die Liebe, für Gott … Die „Lebendige Kirche“ hatte die Welt verändert. Das durfte man auch sagen. In aller Öffentlichkeit. In alle Kameras. Mit einem freudigen Lächeln. Mit einem sakralen Strahlen in den Augen. Hört her: Die „Lebendige Kirche“ hat die an vielen Stellen müde gewordene Glaubensgemeinschaft der westlichen Welt wieder aufgeweckt. Sie hat die Kultur, die Gesellschaft, den Alltag und die Perspektiven ganzer Nationen neu geprägt. Und das geben inzwischen sogar ihre ärgsten Gegner zu: Die phänomenale Entwicklung dieser jungen, begeisterten Glaubensgemeinschaft zwingt seither auch die alten Institutionen, ihre spirituellen Angebote zu überdenken. Bis heute. Ein Segen für die Welt. Christian...