E-Book, Deutsch, Band 10, 106 Seiten
Reihe: QueerWelten
E-Book, Deutsch, Band 10, 106 Seiten
Reihe: QueerWelten
ISBN: 978-3-95869-529-0
Verlag: Ach je Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
In dieser Ausgabe:
No Filter von Melanie Vogltanz (Kurzgeschichte)
Brunnenlied von Eleanor Bardilac (Kurzgeschichte)
Der Seelenpartnertest von Simon Klemp (Kurzgeschichte)
Zwischentöne von Eva-Maria Obermann (Gedicht)
Unterschied von Jol Rosenberg (Kurzgeschichte)
Sarah von Clara Maj Dahlke (Kurzgeschichte)
Auf Nimmerwiedersehen, Mittelerde von T. B. Persson (Essay)
Zum Jubiläum: Ein Blick hinter die Kulissen von Queer*Welten von der Queer*Welten-Redaktion (Essay)
Sonderausschreibung: Postkarten aus Queeren Welten
Der Queertalsbericht 01/2023
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Brunnenlied von Eleanor Bardilac Inhaltshinweise Selbstverschuldeter Verlust einer Partnerschaft, Verlustbewältigung, Sprachlosigkeit Tags Wildniswelt mit Kuppelstädten, Mensch-Tier-Symbiose, Caring Community, Solarpunk, Iwein-Adaption OUVERTÜRE: WER IN TRÄUMEN STIRBT Jemand ruft deinen Namen und holt dich mit einer Berührung in deinen Körper zurück, macht aus dem dualen Ihr wieder ein singuläres Du. Du blinzelst die letzten Reste Schlaf aus den Augen, aber die soeben durchstreifte Wildnis hängt noch an dir, und noch begreifst du die Welt mit Newas Sinnen. Träumt Newa in Worten, wenn ihr untrennbar seid, so wie du in Gerüchen und Farben träumst? Was sind Worte, wenn nicht Lieder? Was sind Lieder, wenn nicht – Wer da deine Schulter berührt, bringt Regenluft und Waldbodengeruch. Der Weiße Hirsch ist in die Stadt Landuc gekommen, um nach dir zu sehen. Du kennst sein Geheimnis: Die Wildnis steckt in seinen Knochen und entweicht seinem Atem. Er ist nur nicht von den Flüsternden, die die Wildnis bändigen können, weil er ihr nicht zuhört. Das ungezähmte Draußen vor den Toren der Stadt, in dem das Leben für die meisten unmöglich ist, ist einfach ein Teil von ihm. Nicht umsonst hat er die Wandersterne ins Leben gerufen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Wege durch das mitunter bedrohliche Chaos der Wildnis zu finden und kuppelumschlossene Städte miteinander zu verbinden. Du hast vom Weißen Hirsch geträumt, und die Dämmerung hat ihn real gemacht: dein Name auf seinen Lippen. Seine Hand auf deiner Schulter. Blaue Augen hinter der silbernen Hirschmaske, die er bei Besuchen in der Stadt immer trägt. Der Weiße Hirsch sucht Tarnung in seinem künstlichen Geweih. Stattdessen wird er davon gekrönt. Ein König in einer Welt, die keine Könige mehr kennt. Wildnis, in fremdbestimmte Form gegossen. In deinen Träumen hast du den Weißen Hirsch sterben sehen. Seit deiner Verbindung zu der Löwin Newa ist es nicht das erste Mal, dass du einen Blick auf das geworfen hast, was vielleicht noch kommen wird. Noch nicht jetzt, denkt Newa, und was Newa denkt, denkst auch du. Durch den Neurolink wird das Ihr immer stärker sein als das Du, auch wenn das Du gelegentlich daraus hervortritt. Früher hat dir das Angst gemacht. Jetzt ist es nur gegeben: Gegeben wie die Zeit, und die Wildnis vor den schimmernden Holokuppeln, die Städte wie diese vor dem Chaos schützen sollen. Noch nicht jetzt, denkt Newa, und du spürst, du weißt, dass Newa Recht hat. Alles ist ein Kreislauf, Zeit und die Wildnis und das, was lebt. Newa hat ein besseres Gefühl dafür als du. Es kommt instinktiver für ein Geschöpf, das in und von der Wildnis geboren und nicht nur von ihr gefunden wurde. In deinen Träumen hast du den Weißen Hirsch sterben sehen. Aber es wird noch viele Mondzyklen dauern, bis dieser Traum seiner dünnen Schale entschlüpft und zum neuen Jetzt wird. Im alten Jetzt, in diesem Jetzt, ist der Weiße Hirsch schön und stark, und die Wildnis in seinen Knochen singt zu dir, zu euch, als er einen Korb neben euch stellt. Darin, sorgsam eingebettet wie Vogeleier: Zahnwurzelkraut; ungeduldig gestrickte Handschuhe; Brot; Butter; eine Thermoskanne voll Tee; eine silbrig glitzernde, hauchdünne Isolierdecke; ein Kamm. „Es wird kalt, Iwein“, sagt der Weiße Hirsch. Seine Stimme: das Gleiten von seidigem Fell über dichtes Gestrüpp, Hell und Dunkel dicht beisammen. „Ich will dich nicht fortreißen von hier, aber wenn du mit mir kommen und neu anfangen willst, dann werde ich da sein.“ Du schüttelst den Kopf, deutest auf Newa. Es ist eine Ausrede, das wisst ihr alle drei. Doch der Weiße Hirsch ist weder entmutigt noch frustriert. Er nickt nur und lächelt, und seine sanften Hände streicheln Newas schweren Kopf. Das von der Holokuppel abgemilderte Sonnenlicht glänzt auf seinem Geweih. „Du weißt, dass wir nichts gegen Chimären haben“, sagt er. „Alle mit Wildnis in sich sind bei uns genauso willkommen wie der Rest. Und du bist noch dazu Familie.“ Er weiß nicht um das Geheimnis in seinen Knochen, aber oft denkst du, dass er es ahnt. Du bewahrst Schweigen darüber. Es ist nicht deine Aufgabe, Antworten zu geben: Die Zeit wird alle liefern, die er braucht. Wildnis. Nanobots. Chimären. Cyborgs. Androiden. Menschen. Worte, Worte, sie zerrinnen im Sonnenlicht, ihre Bedeutung zerlaufendes Glitzern auf Wasserflächen. Was sind Worte, wenn nicht Liebe? Was ist Liebe, wenn nicht – Wie immer gibst du ihm keine Antwort auf seine Aufforderung. Noch ist es nicht Zeit. Noch ruft der Brunnen nach dir, der den Stadtplatz beherrscht. Der Weiße Hirsch geht. Er kommt wieder, so wie die Nacht und der Sommer wieder kommen. Du kaust an der Wurzel, du isst vom Brot, ihr streckt euch, ihr lasst die Gaben des Weißen Hirschs in ihrem Korb zurück in dem großen Fass, in dem ihr schlaft. Niemand wird sie nehmen, und wenn doch, wurden sie anderswo wohl dringender benötigt. Der Weiße Hirsch ist fort, hat deinen Namen mit sich genommen, und aus dem Du wird wieder ein Ihr, während ihr aus dem Fass kriecht und langsam über den Platz zum Brunnen geht. CHOR: WEN DIE WOLKEN WIEGEN Der Platz ist rund, rund ist auch der zentrale Brunnen: Ein mächtiges Werk, das den ganzen Stadtteil tränkt. Menschen und Tiere und alles dazwischen, sie kommen hierher, um Wasser zu schöpfen und Worte zu wechseln. Natürlich wissen sie alle, wer der Mensch ist, der jeden Tag mit ruhigem Schritt und begleitet von einer wildnisverseuchten Löwin zum Brunnen schreitet, nach den Farben greift und die weiß gespachtelten Wände bemalt. Manchmal wissen sie es sogar besser als er selbst, oder meinen zumindest, es zu tun. Seine Bilder sind nicht für sie und gehören doch allen. Sein Leben gehört nur ihm und ist doch eine Geschichte geworden. Der Mensch, der den Brunnen bemalt, hat kein Wort gesprochen, seit er hierher zurückgekehrt ist. Vielleicht liegt die Ursache dafür in der Löwin an seiner Seite. Vielleicht hat sein Verlust ihm auch nur die Stimme geraubt. Die anderen Menschen am Brunnen sorgen für ihn auf ihre Art: Sie flicken seine Kleidung und Schuhe, bringen Tee mit, versorgen Schrammen und Kratzer. Wenn er schläft, waschen sie seine Kleidung. Wacht er auf, wurde, wann immer nötig, die Malfarbe aufgestockt. Ein Heim bieten sie ihm nicht an, auch wenn in dieser neuen Weltordnung niemand mehr heimatlos sein muss: Das tut schon der geweihgekrönte Wanderstern, den die Dämmerung immer wieder in die Stadt Landuc spült. Er ist es auch, der den unsichtbaren Abstand zwischen dem Löwenmensch und allen anderen überwindet, kurzes Schreckzucken überdauert und mit Liedern auf den Lippen die Haare und Fingernägel des Löwenmenschen schneidet. Die Kinder – weil sie Kinder sind – haben Fragen, auf die sie auch Antworten wollen. Während sie zwischen den Pfoten der Löwin spielen und mit eingezogenen Krallen träge nach ihnen getastet wird, suchen sie also danach. Und weil der Mensch, der den Brunnen bemalt, nur seine Bilder sprechen lässt, die die Kinder nicht verstehen, fragen sie die Erwachsenen, die mit ihnen am Brunnen sind. Die Erwachsenen nämlich wissen mehr als sie oder glauben zumindest, es zu tun. Haben sie recht? Wer weiß das schon. Mensch und Löwin schweigen und malen, und sie lauschen stumm den Stimmen, die ihre Geschichte in Fragmenten erzählen: Wieso spricht der Löwenmensch nicht? Früher hat er gesprochen. Wir glauben, die Wildnis nahm ihm die Worte. oder vielleicht war es auch nur die Liebe. Die Liebe? Wie kann die Liebe stumm machen? Die Liebe kann alles. Liebe lässt uns füreinander sorgen. Liebe lässt uns in wilder Zärtlichkeit verzweifeln, hebt uns in die höchsten Höhen und kann alle Worte mit sich reißen, wenn ihr Lied verklingt. Welches Lied ist hier verklungen? Bevor der Löwenmensch auch Löwin war traf er Laudine mit dem goldenen Haar voll Asche der alten Welt. In dieser Asche grub sie, von einem Wunsch getrieben: um Mensch und Tier zu tränken Landuc diesen Brunnen zu schenken. Und der Löwenmensch kam, sie zu lieben? Sie liebten einander, durch Wasser und Wind. und doch – Und doch? Was ist zu erwarten von Menschen, die sich in die Wildnis verlieben? Wurde nicht Laudine geliebt? Ja, Laudine wurde geliebt - feurige Laudine von den Flüsternden, mit einem Ohr stets am Puls der Welt. Alte Asche auf ihrem goldenen Haar. An dieser Stelle nicken die Kinder zumeist mit bedeutungsvollen Mienen. Die meisten kennen keine Flüsternden außer Laudine. Laudine aber ist fort, und zuvor hielt sie sich immer zurück für ihren Traum von Landuc; ein Tiger, der die Krallen freiwillig verborgen hielt. Aber alle Kinder kennen Geschichten. Die Flüsternden, das sind jene, die nicht nur an der Wildnis genippt haben, wie es der Löwenmensch getan hat. Er ging eine neurale Verbindung mit der Löwin ein, und diese Verbindung lässt ihre Gedanken, Gefühle und Sinne ineinander und umeinander fließen. Doch...