E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 210 mm
Mami Bini und die Familien von casayohana
E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 210 mm
ISBN: 978-3-7655-7680-5
Verlag: Brunnen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Elend behinderter Kinder und misshandelter Frauen in den Hochanden Perus macht Sabine "Bine" Vogel sprachlos. Kinder mit Behinderung werden aus Scham in Abstellkammern versteckt. Acht von zehn Frauen werden regelmäßig von ihren Männern misshandelt. Herausgefordert von der Not beschließt die gelernte Kinderkrankenschwester und Seelsorgerin zu helfen. 2014 gründet sie dafür den Verein und das Hilfsprojekt "casayohana" und bietet therapeutische Hilfe, vor allem für behinderte Kinder und misshandelte Frauen.
Was sie antreibt ist der tiefe Wunsch, diesen Menschen zu vermitteln, dass sie von Gott geliebt und wertvoll sind und gesehen werden. Heute betreut sie gemeinsam mit ihrem Team etwa 200 Familien.
Autoren/Hrsg.
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EPILOG
Yohana – Das Mädchen in der Hütte
Woher kam dieses Geräusch? Es war ein Röcheln, so, als würde jemand nach Luft schnappen. Wen hatte Pastor Jacinto hinten in der Ecke versteckt? Wer sollte nicht gesehen werden? Es wurden doch immer alle vorgestellt, die zu Hause waren. Oder doch nicht? Ich bin gelernte Kinderintensivschwester und manche Geräusche versetzen mich augenblicklich in Alarmbereitschaft. So war es auch an diesem Nachmittag in der Hütte von Pastor Jacinto, hoch in den Anden Perus. Auf der einen Seite der Hütte war ein ungebrannter Lehm-Ofen. Das Feuer darunter loderte. Darüber stand ein Topf. Der gestampfte Lehmboden war nicht fest und überall liefen die Meerschweinchen herum. Die Nager werden hier zum Verzehr gezüchtet und nicht wie bei uns in Deutschland als Haustiere. Wohnraum, Schlafraum, Küche und Stall – die Hütte war alles in einem. Wir saßen auf Baumstümpfen um das Feuer. Die Gastfreundschaft hier oben ist überwältigend. Die Menschen haben fast gar nichts. Aber das Wenige, was sie haben, teilen sie. Der Pastor hatte uns sein Gemeindehaus zur Verfügung gestellt. Wir waren unterwegs, um eine Schulung für Frauen einer kleinen evangelischen Kirche anzubieten. Jetzt genossen wir noch Pastor Jacintos Gastfreundschaft. Es gab Tee, Kartoffeln und eine Suppe. Der Rauch des Feuers brannte in den Augen. Die Hütte hatte absichtlich keine Fenster und auch keinen Rauchabzug. Hier auf 4000 Metern Höhe ist es krach-kalt, und da es keine Heizungen gibt und Brennholz Mangelware ist, wird der Rauch, der beim Kochen entsteht, in der Hütte gehalten. Es war also stockdunkel, der Rauch stand in der Luft, aber es war einigermaßen warm. Pastor Jacinto ist ein einfacher Mann. Er ist Bauer, wie jeder hier im Dorf, und zusammen mit seiner Frau und dem Rest der Familie verbringt er den ganzen Tag auf dem Feld. So sichern sie ihr Überleben. Er sah aus wie 70, war aber 37 Jahre alt, wie ich später erfahren sollte. Ihm fehlten viele Zähne und die harte Arbeit auf dem Feld lässt hier oben, nahe an der Sonne, die Haut schnell altern. Jacinto ist nebenberuflich Pastor, aber ob er schreiben oder lesen kann, weiß ich nicht. Theologie hat er jedenfalls nie studiert. Jemand aus der Kirche wird von den Brüdern ausgewählt, um die Gemeinde zu leiten. Er hatte sich wohl bewährt – Pastor Jacinto. Wir saßen also in seiner Hütte und haben nicht viel geredet. Er konnte nur wenig Spanisch, ich sprach kein Quechua. Wir saßen einfach beieinander. Doch plötzlich hörte ich – hinten im Eck – das besagte Geräusch, dieses Röcheln. Ich konnte nichts sehen, da es in der Hütte ja duster war. Aber das Röcheln war mir vertraut. Kinder mit spastischen Lähmungen röcheln so, wenn sie Schleim im Rachen haben und ihn nicht selbst lösen können. Infantile Cerebralparese, kurz ICP, ist die medizinische Bezeichnung für eine solche Behinderung. In meiner Ausbildung habe ich damit Erfahrungen gemacht. Lag dort hinten jemand, der Hilfe brauchte? Ich wollte fragen, aber ich wusste nicht, ob ich Pastor Jacinto damit beschäme. Ich kannte die Kultur noch nicht gut genug. Erst später lernte ich, dass Kinder mit Behinderungen hier ein Fluch sind und Männer sich dafür schämen. Viele lehnen es ab, Vater eines solchen Kindes zu sein. Sie sagen, es sei von einem anderen Mann – die Frau sei fremdgegangen, viele verlassen gar die Familie. Eine Behinderung ist ein Zeichen der Schwäche – ein Makel, der zeigt, dass man kein richtiger Mann ist. Und manche verstecken das Kind. Hatte Pastor Jacinto jemanden versteckt? Lag da hinten jemand? Ich musste etwas sagen: „Mensch, Pastor Jacinto, du hilfst uns, gibst uns deine Kirche. Ich bin Kinderkrankenschwester. Hast du einen Angehörigen, dem ich irgendwie helfen kann?“ Ich merkte, dass ihn meine Frage überforderte. Es kämpfte in ihm. Soll er vor mir, der Gringa – so werden Weiße in Peru genannt –, den Schein wahren? Oder sollte ihm sein Ansehen egal sein und wäre die Liebe zu dem, was da dahinten lag, wichtiger? Dann stand er auf und führte mich in das dunkle Eck, aus dem die Geräusche kamen. Ich griff nach meinem Handy, um mit der eingebauten Taschenlampe etwas zu erkennen. Da stand ein selbst gezimmertes Gestell. Anstelle einer Matratze lagen alte Decken und ein Schaffell darauf. Es sah nicht gemütlich aus. Ich konnte ein Kind erkennen, vielleicht 80 cm groß und so um die fünf bis sechs Kilo schwer. Ich habe mich so erschrocken. Auf meine Frage, wie alt es ist, kam die leise Antwort: „Zwölf.“ Ich war fassungslos. Es gibt Bilder aus den Konzentrationslagern mit all diesen abgemagerten Menschen. Bilder, auf denen die Haut nur noch Knochen umhüllt. So sah das Kind im Bett aus. Dieser Moment hat mir das Herz zerrissen. Vor lauter Versteifung lagen die Knie an den Schultern. Und die Hände waren nach hinten geklappt. Das Kind war klatschnass von Speichel und Urin, denn die Familie hatte kein Geld für Windeln. Es stank wie die Pest. Als ich das Mädchen auf den Arm nahm, merkte ich, dass es eiskalt war. Pastor Jacinto strahlte: „Das ist Yohana. Ich habe letzte Woche geträumt, dass sie mit dreizehn über die Wiese laufen wird. Sie wird springen, singen und tanzen. Und jetzt kommst du und willst helfen. Das ist Gottes Geschenk.“ Ich stand da, mit meinem deutschen Krankenschwesterhirn, hab mir das Kind angeschaut und habe gedacht: „Gott ist groß. Das steht außer Frage. Der kann das. Aber nach menschlichem Ermessen, wenn wir es schaffen, dass Yohana nicht mehr friert, nicht mehr hungert, keine Schmerzen hat – vielleicht mal etwas wahrnimmt –, dann sind wir echt gut.“ Diese Gedanken habe ich für mich behalten. „Pastor Jacinto, wir schauen, was wir tun können.“ Das war alles, was ich sagen konnte. Dass ich Yohana so in den Arm nehmen konnte, hat mich im Nachhinein überrascht. Während meiner Ausbildung musste ich auch den Bereich für Kinder mit ICP kennenlernen. Ich habe zu diesen Kindern keine Verbindung aufbauen können. Sie waren verkrampft, immer verschwitzt und verspeichelt und als 19-Jährige war es mir schwergefallen, das zu ignorieren. Ich hatte einfach keinen Zugang zu ihnen bekommen, hatte keine Liebe für sie empfunden. Vor Yohanas Bett hat sich das dann schlagartig geändert. Mein Herz zerfloss vor Liebe zu diesem Kind. Gott hatte einen Schalter umgelegt. Yohana war nicht deshalb in diesem Zustand, weil Pastor Jacinto kein guter Vater war. Er hat sie geliebt, denn sonst hätte er sie nicht zwölf Jahre lang gepflegt und ernährt, auch wenn er sie aus Scham versteckt hat. Dann erzählte er mir ihre Geschichte. Als Yohana ein Säugling war, fiel der Familie auf, dass sie wenig schrie. Aber an der Brust trank sie. Erst als das Mädchen mit drei Jahren abgestillt werden sollte und sie von der Konsistenz etwas festere Nahrung zugeführt bekam, verschluckte sie sich oft und litt dabei so heftig, als würde sie bald ersticken. Die Familie brauchte Zeit, um Geld zusammenzulegen, bis sie sich einen Arztbesuch in Andahuaylas leisten konnte. Ein halbes Jahr lang haben sie Geld gesammelt. Ein halbes Jahr lebten sie mit der Angst, dass Yohana erstickte. Als sie dann endlich den Termin hatten, gab es jedoch keine Diagnose, sondern nur eine Demütigung. Die Worte des Arztes waren schlimm, erinnerte sich Pastor Jacinto: „Er hat Yohana angeschaut. Dann hat er mich angeschaut. Dann wieder Yohana. Und dann kam er auf mich zu und hat mich von oben bis unten gemustert. Hat an mir gerochen und dann abfällig gesagt: „Na, woher kommst du? Wie viele Kinder habt ihr denn da oben? Acht, zehn, elf? Ach! Nimm sie mit und lass sie sterben.“ Diese Worte schlugen ein. Pastor Jacinto schämte sich, denn er hatte den Arzt mit solch einem Kind belästigt und seine Zeit vergeudet. Yohana würde nicht lange leben. Jacinto glaubte dem Arzt. Außerdem: Sie hatten ja gesunde Kinder. Auch damit hatte der Arzt recht. Die Eltern gingen zurück nach Chaccrampa und dachten, dass ihre Tochter sterben würde. Doch bis das so weit war, sollte Yohana trotzdem umsorgt werden. Schließlich liebten sie ihre Tochter. Sie wollten sie nicht einfach sterben lassen. Nur, wie ernährt man ein dem Tod geweihtes Kind? Milch konnte sich die Familie nur ganz selten leisten. Brühe hat die Konsistenz von Milch, so ihre Überlegung. Und sie ist ja irgendwie nahrhaft. Dass die nötigen Vitamine, Mineralien, Eiweiße, die ein Kind wie Yohana braucht, nicht in der Brühe enthalten sind, wusste die Familie nicht. Woher auch? Sie taten aus Liebe das Beste. Das Kind bekam jeden Tag Brühe. Yohana sollte leben – länger als gedacht. Wochen und Monate vergingen, Jahre zogen ins Land. So lange es noch ging und die Versteifungen noch nicht sehr fortgeschritten waren, wurde sie jeden Tag in einem Tuch auf dem Rücken auf das Feld mitgenommen. Dann wuchs sie und wurde zu groß, schwer und ihre Gelenke versteiften sich immer weiter, sodass der Aufwand nicht mehr zu stemmen war. Vor Sonnenaufgang stand die Familie auf, die Brühe wurde gekocht und Yohana...