Velickovic / Velickovic | Nachtgäste | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Velickovic / Velickovic Nachtgäste

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99027-314-2
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-99027-314-2
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Mit entwaffnendem Humor entlarvt dieses Buch die Logik der ErwachsenenweltMaja ist achtzehn Jahre alt, sie sollte Besseres zu tun haben, als in einem Keller zu sitzen und zu schreiben. Aber draußen ist Krieg, ständig kracht es irgendwo, Granaten regnen auf Sarajevo. Und drinnen, im Untergeschoß eines Museums, hat sich eine Notgemeinschaft zusammengefunden, die dem Schrecken trotzt: die vegetarische Mutter mit einem Hang zur Esoterik, die Großmutter und ihr eifersüchtig gehüteter Koffer, der Halbbruder und seine schwangere Frau, die ihre Hypochondrie pflegt, der Vater als Direktor des Museums, zwei Partisanen und der Hund Sniffy. Den Zumutungen ihrer Lage begegnet Maja mit entwaffnendem Humor und Scharfsinn. Und sie nimmt sich auch kein Blatt vor den Mund, wann immer ihr die Erwachsenen mit Worthülsen, Phrasen und Vorurteilen die Welt erklären wollen.Nenad Veli?kovi?s gefeierter Roman, vor dreißig Jahren erstmals erschienen, nimmt dem Krieg jede Heroik und setzt seiner Heimatstadt Sarajevo zugleich ein Denkmal. Es ist ansteckend komisch und tief berührend zu sehen, wie sich aus der vermeintlich naiven, offenherzigen Perspektive seiner Hauptfigur der Horror des Krieges in etwas verwandelt, das uns Mut machen kann.

NENAD VELIC?KOVIC? wurde 1962 in Sarajevo geboren, wo er als Autor, Universita?tsdozent fu?r Literatur und Publizist noch heute lebt. Zu seinen Vero?ffentlichungen za?hlen mehrere Romane und Erza?hlba?nde, einige sind in deutscher, italienischer, ungarischer, mazedonischer, bulgarischer, englischer, polnischer, slowakischer und slowenischer U?bersetzung erschienen. Als Initiator, Redakteur und Beitra?ger hat er an zahlreichen Zeitschriften mitgewirkt, außerdem war er Mitinhaber der Literaturwerkstatt Omnibus.Zuletzt auf Deutsch: Der Vater meiner Tochter (2016).
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ERSTES KAPITEL


Wie wir Nachtgäste wurden · Die Zone der vierten Dimension · Die ersten Zeichen des Konflikts: der Taschenminenwerfer, Großmutters Köfferchen, die Wette

Bis zum April dieses Jahres neunzehnhundertzweiundneunzig war Sarajevo international durch drei Dinge bekannt: die Olympiade, das Attentat, die Cevapcici, die Cafés, die New Primitives, den Fußball, Makarska, den Burek und die Raja. Seit April ist es nur durch eines bekannt. Den Krieg. Obwohl niemand weiß, wann er angefangen hat (ich erinnere mich an ein Gespräch in Dávors Jugo. Dávor sagte, die Armee steht an der Grenze, Sanja fragte, welche Armee, und ich, welche Grenze), gilt der vierte April als offizielles Datum. An dem Tag waren wir in unserer Wohnung im Stadtteil Dobrinja, Mama, Großmutter und ich. Papa übernachtete im Museum getreu der Überlieferung, dass der Direktor als letzter die brennende Institution verlässt. Da jedoch nicht das Museum brannte, sondern unsere Wohnung, zogen wir in letzter Minute zu Papa um und wurden seine Gäste.

Die Telefone funktionierten nicht mehr, und ich verlor den Kontakt zu meinen Freundinnen. Das Stadtviertel wurde abgesperrt, niemand konnte herein und hinaus. Es wurde geteilt. Einen Teil nahmen die Serben. Dort blieb auch mein Literaturprofessor. Als ich ihn das letzte Mal sprach und sagte, ich weiß nicht, was ich machen soll, sagte er, schreib. Also schreibe ich.

Im Museum trafen wir auch meinen Bruder Dávor und seine gebenedeite Gattin Sanja an. Ihre Geschichte ist einfach. Im April wurden Leute ausgeflogen, die Angst bekamen, als sich der Krieg um die Stadt einnistete. Das waren Militärflugzeuge, in denen man am Boden sitzen musste. Die meisten flogen nach Belgrad. Dann wurde der Flughafen geschlossen. Mein Bruder überredete die Gebenedeite nicht mehr, an einen anderen Ort des Planeten zu übersiedeln. Sie wollte sich nicht von ihren Ärzten trennen. Später sollte sie erfahren, dass die Ärzte sich von ihr getrennt hatten. Einer war verwundet, der zweite ausgeflogen und der dritte auf der serbischen Seite geblieben. Das junge Untermieterehepaar kam ins Museum, weil der Hausherr ihre Kellerwohnung beanspruchte. Wegen der Granaten, die in diesen Tagen wie Konfetti auf die Stadt rieselten, waren die Keller auf einmal der begehrteste Wohnraum.

Sie brachten auch ihr erstes Kind mit, den Hund Sniffy, einen zweijährigen aristokratischen Dalmatiner. Aristokrat sage ich, weil Mama einmal festgestellt hat, dass man die Reihe seiner Ahnen weiter zurückverfolgen kann als die jedes anderen Museumsbewohners.

Außer unserer Familie, von der ich auf den folgenden Seiten etwas mehr berichten werde, gehören zum Klub der Nachtgäste noch der Pförtner Brkic und sein Freund Julio. Beide waren im vorigen Krieg Partisanen.

Ich heiße Maja. Was ich schreibe, wird ein Roman in Form eines Tagebuchs oder vielleicht ein Tagebuch in Form eines Romans. Das ist vorerst offen. Ich schreibe das, weil mir nichts anderes geblieben ist. Wir gehen nicht zur Schule, wir sehen nicht fern, wir verlassen den Keller nicht. Den Keller verlassen wir nicht, weil oben Krieg ist. Er wird zwischen Serben, Kroaten und Muslimen geführt. Dávor sagt, der Krieg wird geführt, weil die Kroaten Kroatien haben, die Serben Serbien, aber die Muslime kein Muslimien. Alle denken, dass sie es haben sollten, doch sie können sich nicht über seine Grenzen einigen. Papa sagt, dass Dávor ein Esel ist und der Krieg deshalb geführt wird, weil Serben und Kroaten Bosnien unter sich aufteilen und die Muslime umbringen und vertreiben wollen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Einiges ist mir nicht klar. Warum zum Beispiel nennen die Serben die bewaffneten Muslime, die rote Fese tragen, grüne Barette? Oder warum nennen die Muslime die Serben, die rote Barette tragen, weiße Adler? Was ist der Unterschied zwischen Ustaschen und Tschetniks? (Die Tschetniks tragen ihre Bärte wie Kinderlätzchen. Sie sehen aus wie orthodoxe Popen, nur dass die Popen dickere Bäuche haben. Und die Ustaschen sehen aus wie Schornsteinfeger.)

Nein! Ich glaube, ich bin nicht imstande, einem ausländischen Durchschnittsleser zu erklären, warum hier Krieg geführt wird. Wahrscheinlich geht es wie in jedem Krieg um die Eroberung von Territorien und um Plünderung. Aber warum eine Halbmillionenstadt Tag und Nacht von den umliegenden Bergen bombardiert wird, dafür habe ich kein wahrscheinlich. Warum sollte jemand (in diesem Fall die serbische Artillerie) Häuser zerstören, Bibliotheken in Brand stecken, Minarette und die sie umgebenden Pappeln knicken?

Warum sammeln in diesem Frühjahr die Kinder Granatsplitter und tauschen sie wie Papierservietten, Lackbilder oder Abzeichen? Warum schließlich, wenn wir schon im Museum leben, schlafen wir nicht in den Betten der Begs und reichen Bürger, sondern im kalten und feuchten Keller auf den Tragen der Zivilverteidigung? (Auf die letzte Frage habe ich eine Antwort: Weil Papa die Fensternischen mit Decken und Matratzen ausgestopft hat, als Schutz vor unerwartetem Granatbeschuss.)

Mein Papa ist fünfzig Jahre alt und hat einen der breitesten Scheitel in der Stadt (Stilfigur: Euphemismus). Er hat kräftige und etwas gebeugte Schultern und ist so abgemagert, dass die Kleidung um ihn schlottert. Deshalb sieht er unordentlich aus, obwohl er einer der wenigen Männer in diesem Krieg und der einzige im Museum ist, der sich regelmäßig rasiert (spart er so viel Zeit, weil er sich selten kämmt?). In den ersten Kriegstagen stoppte er auf seinem Weg zwischen Museum und Zuhause Feuerwehr- und Müllautos, damit sie ihn und Trauben anderer verrückter Fußgänger durch Kreuzfeuer und rauchende Minenkrater transportierten. Deshalb stellte ich mir den Beginn des Krieges wie eine Maiparade zum Leben erwachter Denkmale vor, auf denen sich Partisanen aus Bronze und Marmor mit gegrätschten Beinen bemühen, nicht vom Podest zu fallen.

Die zweite interessante Persönlichkeit ist meine Mama. Sie ist Vegetarierin vom Orden der Makrobiotiker, allerdings sündigt sie manchmal mit einer Zigarette zum Kaffee. Schlank ist sie dank Joga. (Joga ist die Angewohnheit, sich mit den Zehen in den Ohren zu bohren und dabei die Sonne zu begrüßen, lange bevor sie aufgeht.) Sie steht als erste auf und geht als letzte zu Bett (daher vermute ich nur, dass sie überhaupt schläft). In diesen paar Wochen? (Monaten, Jahren?) hat sie aus dem Museum eine Heimstatt gemacht.

Die dritte interessante Persönlichkeit ist mein Bruder, der Sohn meiner Mama, aber nicht meines Papas. Mama hat nämlich mehr als ein und weniger als drei Mal geheiratet. Mein Bruder Dávor arbeitet beim Rundfunk als Hörspielregisseur, obwohl er Filmregie studiert hat. Ein Hörspiel ist das, was man im Radio hören kann, wenn der Fernseher kaputt ist und im ersten Programm klassische und im zweiten ernste Musik läuft. Von seinen Sachen gefällt mir am besten die Serie Phantom, wo er selbst aufgetreten ist und mächtig Sprüche geklopft hat. Zum Beispiel wollte er eine Aktion zur Aufnahme neukomponierter Volkslieder in die Lesebücher starten. Ein Lied habe ich mir gemerkt: In des Cafés Dunkel traf ich einen Jungen. Setzt einen Ring mir auf, macht mich zur Braut. Ganz gehüllt hat mich mein Raif in Seide und Kadaif.

Das zitiere ich, um einen seiner Charakterzüge, die Ironie, zu betonen. Er ist immer gegen alles, findet in allem etwas Garstiges, Dummes, Primitives. Deshalb ist er manchmal lästig. Er ist groß, mager, trägt eine Brille, und wenn er nicht beim Rundfunk arbeitet, hat er die Aufgabe, seiner Gattin zu dienen und meinem Papa auf die Nerven zu gehen.

Da ich schon meine Schwägerin erwähnt habe: Sie ist im vierten Monat. Und das kam so: Als Diplom-Architektin fand sie Arbeit bei einer Tankstelle, wo sie an einem schönen sonnigen Tag die Scheibenwischer wegklappte, die krepierten Fliegen abkratzte und das Gesicht ihres künftigen Gatten erblickte, der ihr in diesem Moment auch seine Brille reichte. Später gestand sie mir, dass ihr seine Kuhaugen gefallen hätten (ich würde sagen Ochsenaugen). Es war zugleich das letzte Mal, dass sie in seiner Gegenwart ein Stück Glas putzte.

Mamas Mama, Greta, sieht viel älter aus, als sie ist, benimmt sich aber, als wäre sie viel jünger. Was man vor allem bei Tisch merkt, wo sie sich als erste auftut, laut schlürft, sich um Brotkanten reisst, obwohl sie keine Zähne hat, und immer die besten Bissen erwischt, halbblind, wie sie ist. Das gibt ihr das Recht, ihre Nase in jede Schüssel zu stecken. Sie trennt sich nie von ihrem alten Koffer, der eigentlich kein Koffer ist, sondern etwas zwischen Schatulle, Blechkassette und postmodernem Damen-Necessaire.

Großmutter also sieht kaum etwas, aber dafür hört sie fast nichts. Deshalb redet sie so, dass nur geübte Hörer sie verstehen können. Der Satz: Ich war heute Zeitungen kaufen, würde sich bei ihr etwa so anhören: War Zeitungen, war Zeitungen kaufen kaufen heute (für meine Leser werde ich ihre Repliken simultan übersetzen). Seltsam, dass sie, wenn sie einem direkt ins Gesicht blickt, ausgezeichnet versteht, was man ihr sagt.

Meine Großmutter ist nicht die älteste Museumsbewohnerin. Noch älter sind Brkic und Julio. Beide sind groß, knochig und grauhaarig. Brkic trägt Pullover und Anorak, Julio Anzug und Mantel. Brkic lässt seinen Bart wuchern, Julio pflegt den seinigen. Brkic redet wenig, Julio viel. Brkic hat schon vor dem Krieg als Nachtwächter im Museum gearbeitet. Julio kam erst, nachdem eine Granate seinen Kühlschrank, drei Zimmer und das Manuskript seiner...


Velickovic, Nenad
NENAD VELIC?KOVIC´ wurde 1962 in Sarajevo geboren, wo er als Autor, Universita¨tsdozent fu¨r Literatur und Publizist noch heute lebt. Zu seinen Vero¨ffentlichungen za¨hlen mehrere Romane und Erza¨hlba¨nde, einige sind in deutscher, italienischer, ungarischer, mazedonischer, bulgarischer, englischer, polnischer, slowakischer und slowenischer U¨bersetzung erschienen. Als Initiator, Redakteur und Beitra¨ger hat er an zahlreichen Zeitschriften mitgewirkt, außerdem war er Mitinhaber der Literaturwerkstatt Omnibus.Zuletzt auf Deutsch: Der Vater meiner Tochter (2016).

NENAD VELICKOVIC wurde 1962 in Sarajevo geboren, wo er als Autor, Universitätsdozent für Literatur und Publizist noch heute lebt. Zu seinen Veröffentlichungen zählen mehrere Romane und Erzählbände, einige sind in deutscher, italienischer, ungarischer, mazedonischer, bulgarischer, englischer, polnischer, slowakischer und slowenischer Übersetzung erschienen. Als Initiator, Redakteur und Beiträger hat er an zahlreichen Zeitschriften mitgewirkt, außerdem war er Mitinhaber der Literaturwerkstatt Omnibus.Zuletzt auf Deutsch: Der Vater meiner Tochter (2016).



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