Utlu | Die Ungehaltenen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Utlu Die Ungehaltenen

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0690-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Generationenporträt, Einwandererschicksal, Berlinroman, Road-Novel. Utlu erzählt pointiert und poetisch die Geschichte zweier Berliner Gastarbeiterkinder der zweiten Generation.
Elyas lebt in Kreuzberg, verbringt die Nachmittage bei Veit in der Kneipe und erzählt seiner Mutter irgendwas von Jurastudium. Ihre Anrufe drückt er weg, denn wie es seinem Vater geht, kann er sich selbst denken. Es reicht ihm schon der Blick von Onkel Cemal. Der ist der Einzige, von dem er sich traurige Wahrheiten sagen lässt. Denn Cemal hat sich Mutterwitz bewahrt, obwohl er gleich zweimal seine Heimat verloren hat: die Türkei und nun, nach dem Mauerfall, auch seinen Kiez.
Aber dann trifft Elyas die junge Ärztin Aylin – ausgerechnet auf der offiziellen Feier zum Anwerbeabkommen, wo sich beide wie im falschen Film fühlen. Aylin ist stark und klug, aber auch sie trägt eine Traurigkeit in sich, die die beiden nur gemeinsam loswerden können.
Utlu Die Ungehaltenen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Eins 1 Meine Stadt bestand aus zwei Straßen. Die eine führte ins Hühnerhaus, die andere zu Onkel Cemal. Ich schob die schwere Eingangstür auf und ließ die Hand über das zerkratzte Holzgeländer gleiten. Im Treppenhaus roch es nach Keller und Essen. Onkel Cemals Wohnungstür mit dem absplitternden Lack und dem geschwärzten Guckloch öffnete sich. Der lange, schmale Flur mit hoher Decke und rotbraun überstrichenen Dielen führte ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa lag ein eingedrücktes Kissen. Ein Überwurf war aufgeschlagen. Cemo stellte zwei Teegläser auf den Tisch und knüllte sich das Kissen ins Kreuz. »Elyas, Junge, lass dich nicht hängen.« Onkel Cemals Haar, der Rest, der über den Ohren anfing und bis zum Hinterkopf reichte, war zerzaust. Graue und weiße Stoppeln stachen aus seinem Gesicht, die faltigen Augenlider hingen. In letzter Zeit erzählte Cemo mir häufig – ohne dass ich ihn gefragt hätte –, wie es hier in den Siebzigern war. »Da, wo du jetzt sitzt, saß dein Vater. Er war nicht viel älter als du heute«, sagte er, »gerade aus Köln hierhergezogen, deine Mutter wohnte noch dort. Damals war hier vieles anders. Zwei Straßen weiter stand die Mauer. Sie war nicht schön, aber es war ruhiger mit ihr. Wir haben sie niedergerissen. Kaum war sie weg, wollte man, dass auch wir weggingen. Das ganze Land feierte die Einheit, aber niemand fragte uns. Dabei waren wir am meisten betroffen. Wir hatten unsere Jahre an dieser Mauer verbracht. Dein Vater ist ein guter Mann. Sein Herz ist rein.« Ich nahm das heiße Glas in die Hand und atmete den scharfen Geruch schwarzen Tees ein. Onkel Cemal stellte sich vor mir auf und richtete seinen Finger auf mich. »Junge, du bist jung. Wie alt? Dreiundzwanzig? Vierundzwanzig? Was ihr durchmacht, du und deine Mutter, ist nicht einfach.« Ich hörte den Teekessel in der Küche scheppern. Onkel Cemal legte die Hand auf meinen Kopf, und ich bemerkte, dass ich mir die Augen rieb. »Wenn du so weitermachst, hängen dir die Lider bis zu den Knien, bevor du dreißig bist.« Ich vergaß oft zu essen und ernährte mich hauptsächlich von Leitungswasser oder stopfte mir Socken in den Mund und spuckte sie wieder aus, sobald ich mich an den Flusen verschluckte. Wenn ich mich an meinen Hunger erinnerte, zog ich eine Jogginghose und einen Kapuzenpullover an, lief die Straße runter zum Hühnerhaus und bestellte ein halbes Hähnchen mit Pommes. Ich hatte mir die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und eben ein fettes Stück von einer Keule gerissen, da hörte ich Veits Stimme: »Alter«, sagte er, »Kreuzberg ist tot.« Ich sah ihn zwischen Kapuzenzipfel und Hähnchenkeule. Ich hatte seine Stimme lange nicht mehr gehört. Sie war rau vom vielen Rauchen, aber sie war auch sanft. Vielleicht weil er langsam sprach oder immer gerade so laut, dass man ihn hörte. Ich sagte: »Du bist tot, Alter.« Wir grinsten uns an, er warf sich ein paar Pommes zwischen die Zähne. »Aber du machst auch nicht grad einen lebendigen Eindruck.« »Warte, bis ich aufgegessen habe.« Nach der Trennung von Fiona und der Nachricht, Vater habe Krebs, hatte ich mich zwei Monate lang nirgends blicken lassen. Erst hatte ich mich weniger blicken lassen, weil ich mit Fiona mein Gefühl für Zeit verlor, und dann gar nicht mehr, weil ich mich selber verlor. Fiona und ich hatten uns auf einer Vernissage in Mitte kennengelernt. Ich kannte den Fotografen. Veit hatte ihn mir vorgestellt, weil ich damals nach einem Künstler suchte: Ich hatte Mao Tse-tungs Theorie des Guerillakrieges zwischen der Brigitte und dem Focus in einem Asia-Imbiss in der Lausitzer Straße entdeckt und sie in der Form eines interaktiven Fotoromans auf Berlin übertragen. Einige Bilder aus dem Fotoroman wurden ausgestellt, und ich war so etwas wie ein Ehrengast. Ich hatte vorher fünf Wodka-Shots gekippt, um Berlin-Mitte mit der nötigen Gelassenheit zu begegnen. Fiona und ich waren die einzigen Betrunkenen auf der Vernissage. Ich sagte zu ihr: »Man sieht vom anderen Ende des Raumes, dass es dich viel Kraft kostet, nicht zu taumeln.« Sie sagte: »Und ich frage mich die ganze Zeit, warum du eine Hornbrille trägst, wenn du dich dafür schämst.« Ich sagte: »Weil ich kleinen Mädchen wie dir damit imponieren möchte.« Sie: »Du näherst dich deiner Kastration.« Ich: »Super, das ging schneller, als ich dachte.« Ich war einundzwanzig Jahre alt, Fiona war drei Jahre älter. Ich wollte ihr die Kleider vom Leib reißen, ihre engen Jeans, ihre Lederbluse. Alles. Vorher würde ich nicht nach Hause fahren. Und ich blieb. Wir hatten tagelang Sex. Und tagelang Krieg. Wir liefen erschöpft vom Ficken durch Kreuzberg und blätterten in alten Büchern, die wir in Antiquariaten fanden. Wenn ich krank war, band sie mir einen Schal um den Hals. Wenn sie krank war, durfte ich sie nicht sehen. Es hätte immer so weitergehen können. Aber eines Tages rief Mutter an, Vater habe Krebs. Fiona fand, dass es ein guter Zeitpunkt sei, mir zu sagen, dass sie mir in Zukunft keinen Schal um den Hals binden werde, wenn ich krank sein sollte, und verpisste sich, bevor es ernst wurde. Ich schlug die Seitenspiegel von fünf Autos ab und sprach in den nächsten Wochen lieber mit Figuren, die ich aus Büroklammern bog, und nicht mit Menschen. »Machst du eigentlich immer noch so kreative Geschichten?«, fragte Veit. »Kannst du das irgendwie anders formulieren, mir wird schlecht.« »Wenn ich einen Laden aufmache, brauche ich jemanden, der das Ding designt, die Homepage macht, Flyer und so.« Veit hatte gesagt: Hier ist die Kohle. Lass dir Zeit. Mein Laden ist dein Laden. Tagelang stand ich alleine in der ehemaligen Schlachterei und haute Kacheln von den Wänden. Ich hatte keinen Bock aufs Studium. Ich kaufte Vogelkäfige in den Prinzessinnengärten und hängte sie unter die Lampen. Ich bohrte ein Pissoir an die Wand und schrieb mit Edding Whiskysorten drauf: Talisker, Lagavulin, Caol Ila. Veit sagte: cool. Ich griff nach einem Hammer und schlug faustgroße Löcher in den Putz. Veit sagte: cool. Ich sprühte mit einer Spraydose »Your Own Personal Jesus« an die Wand. Er sagte: cool. Veit fing eine Ratte und nagelte sie an die Wand. Mir wurde übel. Zur Eröffnung gab es eine riesige Party. Mein Platz an der Bar war in der Ecke des Raumes, wo der Tresen einen Bogen machte. Mit dem Rücken zur Tür. Am Geräuschpegel, an der Intensität des Zigarettenqualms, der wie ein Nebel aufstieg, an Bier- und Weinpfützen auf dem lackierten Tresenholz, an Veits beschleunigten Bewegungen, wenn er Kronkorken von Bierflaschen abklopfte und über die Schulter in eine Vase warf, an den immer glasigeren Augen der Partygäste, wenn sie neben mir auf den Tresen fielen und unbeirrt weiter Gin Tonic oder Wodka Redbull tranken, erriet ich die Uhrzeit. Gegen fünf lagen zwei Typen auf dem Ledersofa neben dem Pissoir und aßen sich auf. Eine Frau rauchte schweigend an der Bar, ihre Freundin tanzte alleine und beinah bewegungslos davor. Ich lehnte mich gegen den Tresen, mir fielen die Augen zu. Ich öffnete sie wieder, aber das Mädchen war verschwunden. Auf dem Sofa lag niemand mehr. Die Frau an der Bar schlief. Ich fläzte mich aufs Sofa und ließ den Finger am Pissoir die Whiskynamen entlanggleiten, bis Veit mir ein Zeichen gab: Caol Ila. Er drückte mir ein Glas in die Hand und blieb vor mir stehen. Er grinste, seine Zähne waren lang und gelb und schief. Trotzdem hatte sein Lächeln etwas Inniges. Jedenfalls für mich. Er hob das Glas, wir stießen an, dann brannte der Caol Ila rauchig auf der Zunge. Veit setzte sich neben mich. Unsere Köpfe fielen auf die Lehne, und wir versuchten im Käfig, den ich an die Decke über dem Sofa gehängt hatte, die Zukunft zu lesen. Manchmal dachte ich, Veit hatte mich die Bar designen lassen, weil er glaubte, eine Ergotherapie würde mir bekommen. »Du bist ein guter Junge!«, murmelte ich. Er grinste mich an und sagte: »Falsch. Meine Seele ist so rein wie die Pisse eines Säufers.« Ich sagte: »Wenigstens hast du eine.« »Du nicht?« »Kermit der Frosch hat sie gegessen.« »Meine hätte ihm nicht geschmeckt.« »Meine hat er wieder ausgekotzt.« Er riss die Wodkaflasche aus dem Regal, wir grölten Trinksprüche. Bis die Frau, die am Tresen eingeschlafen war, aufwachte. Veit strich ihr mit der Hand übers Gesicht – zum ersten Mal fiel mir auf, wie groß seine Hände waren, die Fingernägel. Sie setzte sich mit einem Glas Wodka-Kirsch zu mir, sagte sie heiße Lara. Sie hatte große, runde braune Augen. Unter dem rechten Lid tropfte ihr ein schwarzes Muttermal über die Haut wie eine Träne. »Veit ist so cool«, sagte sie. »Der Beste«, sagte ich. Wir taumelten zu dritt durch Kreuzberg. Kurz vor Tagesanbruch war wenig geblieben von den Touristen und Zugezogenen mit engen Hosen, Jacketts, Seitenscheiteln und Schnauzbärten. Von den Punks, den Transvestiten, den türkischen Jugendlichen, die ihre neuesten Verse rappten, den Familienvätern, die Sonnenblumenkerne mit den Schneidezähnen aufbissen und die leeren Hülsen auf den Boden schnippten, von den Frauen mit Lederstiefeln, die bis über die Knie reichten. Der Blumenladen hatte noch geöffnet, aber niemand kaufte hier Blumen. Ich deutete auf die...


Utlu, Deniz
Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, ist der Autor zahlreicher Essays und Erzählungen sowie der Romane Die Ungehaltenen (2014) und Gegen Morgen 2019). Gemeinsam mit Sasha Marianna Salzmann gründete er 2003 das Magazin freitext; erkuratiert zudem die Literaturreihe Prosa der Verhältnisse im Maxim Gorki Theater. Deniz Utlu lebt und arbeitet in Berlin.

Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, lebt in Berlin. VWL-Studium in Berlin und Paris. Herausgeber des Kulturmagazins "freitext"; twittert dreisprachig zu politischen und kulturellen Themen. (twitter.com/DenizUtlu). Kuratiert seit 2013 an der Studiobühne des Gorki-Theaters eine neue Lesereihe.
"Die Ungehaltenen" ist sein erster Roman.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.