E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4334-1
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwei Frauen beschließen, der Trübsal ihres Lebens und dem Elend der Welt ein Ende zu bereiten und in einer nächtlichen Aktion knapp eine Million Hühner aus einer riesigen Legebatterie in der US-amerikanischen Provinz zu befreien. Für die Umsetzung ihres abenteuerlichen Plans stellen sie ein kurioses Team aus lauter schrägen Figuren zusammen: von militanten Tieraktivisten über einen entlassenen Undercover-Ermittlungschef bis zur Großbauerntochter. Aber die Aktion nimmt einen völlig anderen Verlauf als geplant, denn nicht alle Beteiligten halten sich an die Absprachen …
Die Hühnerliebhaberin und -spezialistin Deb Olin Unferth hat einen ebenso philosophischen wie humorvollen, überbordend erfindungsreichen und psychologisch genauen Roman geschrieben. Ein lauter Abgesang auf die Ödnis des Mittleren Westens und den Horror der Agrarindustrie – und eine begeisterte Hymne an Menschen, die ihre Illusionen verloren haben und dennoch oder gerade deswegen die Welt retten wollen.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
2
IN DER NACHT, als die Betriebsprüferinnen zum ersten Mal auftauchten, saß Dill im Dunkeln am Erkerfenster und dachte, dass er alles verloren hatte. Da lag er jedoch falsch. Er sollte noch sehr viel mehr verlieren. Tatsächlich verlor er mit jeder Nacht, in der die Betriebsprüferinnen auftauchten, ein bisschen mehr, so dass jeder nächtliche Besuch die Zeit strukturierte, jeder ein Schritt abwärts war, denn dieses Jahr war Dills Verderben. Die Außenhaut, die ihn hielt, löste sich in Schichten, die sich lockerten und abfielen, und als das äußere Gewebe weg war, zerlegte es ihn selbst, ein Stück nach dem anderen wurde demontiert und abtransportiert. Als die Betriebsprüferinnen zum ersten Mal aufkreuzten (damals wusste er noch nicht, wer sie waren), brachten die Autoscheinwerfer den aufgewirbelten Kiesstaub auf der Zufahrt zum Leuchten, was wie eine nahende Rauchwolke aussah. Er saß allein am Fenster, während sein Mann und die Hunde und die anderen Tiere im Haus schliefen. Bis dahin hatte er lediglich seinen Job als Chef der Undercover-Ermittlungen verloren; arbeitslos war er jetzt seit ein paar Wochen und hatte sich beinahe daran gewöhnt, ungebraucht, ungenutzt, unbeachtet zu sein. Allerdings war er ein paar Stunden zuvor am Ortsbüro Iowa vorbeigefahren und hatte gesehen, dass das Schild weg war. Das erst ließ es real werden: Sie machten anderswo ohne ihn weiter. Er spähte aus der Dunkelheit des Zimmers nach dem Fahrzeug, das auf halbem Weg zum Haus anhielt. Zwei Gestalten sprangen heraus und zerrten irgendwelche Kisten vom Rücksitz. Wahrscheinlich zwei seiner Ermittler, die Bescheid wussten oder auch nicht. Vielleicht auch ehemalige Ermittler auf der Durchreise. Vielleicht sogar die ganz alten Ermittler, von der ursprünglichen Gang, die kamen, um Partei zu ergreifen, für ihn. Acht Jahre lang hatte Dill die ungestüme Kraft verdeckter Ermittler überwacht und gesteuert, die sich als Farmmitarbeiter tarnten und heimlich mit der Kamera die verschiedenen Kategorien routinemäßiger Misshandlung und Vernachlässigung von Tieren dokumentierten. Inzwischen war er nicht mehr geblendet und erkannte an ihren Bewegungen – es waren nur Silhouetten sichtbar –, dass sie keine Ermittler waren. Kein Ermittler stand so da. Außerdem tauchten Ermittler nie zu zweit auf; sie waren Einzelwesen, mehr Frankensteins Monster als Don Quijote. Er hatte keine Ahnung, wer diese Leute waren. Sie stellten ihre Kisten einfach in den Hof, zwischen Bäumen, unter sternenklarem Himmel, bei Kälte und nächtlichem Tau. Sie stiegen wieder ins Auto und fuhren davon. Als sie eine Woche später zum zweiten Mal auftauchten, waren sie dreister, und er, Dill, war noch schlechterer Stimmung. Sie fuhren bis vors Haus, ließen ihre Scheinwerfer durch die Fenster leuchten. Einige Hunde (insgesamt gab es sieben) hoben den Kopf von den Fliesen. Die übrigen träumten weiter, mit zuckenden Pfoten. Miserable Wachhunde. Dill stand vom Küchentisch auf und ging hinaus, weil sein Mann, ein Banker, mit dem er seit sechs Jahren verheiratet war, die Nase voll hatte von Dills »irren Tierschützern«, aber noch nicht ganz von Dill selbst; das kam erst in der dritten Nacht, in der die Betriebsprüferinnen auftauchten. In dieser zweiten Nacht fragte sich Dill, ob es dieselben Arschlöcher waren wie letzte Woche, die ihm Kisten mit verbrauchten Hennen hingestellt hatten, damit er sich darum kümmerte, oder ob es neue Arschlöcher waren. Er trat auf die Veranda hinaus, wo die eine Gestalt, eine junge Frau, mit ihrer Kiste schon halb die Treppe heraufgekommen war. Sie erstarrte. Er hob eine Hand. »Lady, egal, was Sie mir andrehen wollen, ich lehne ab.« Das war doch ein Gackern, was da aus der Kiste kam? Es waren also dieselben Arschlöcher. Sie hob das Kinn über die Kiste. »Die Mädels hier sind ausgerissen.« »Wir sind kein Wohlfahrtsverein.« Und endlich zählte er zwei und zwei zusammen. Das waren dieselben Arschlöcher, die ihm ständig Hennen vors Büro gestellt hatten. Natürlich. In letzter Zeit war er wohl ein bisschen unkonzentriert. Er trat näher und sah sich die beiden genauer an. Die andere, älter, stieg jetzt aus dem Auto. Sie hatten Uniformen an, aber keine Farmarbeiteruniformen. Diese hier waren keine Ermittlerinnen, auch keine Informantinnen, keine von der üblichen Kundschaft, die zu beliebigen Tages- und Nachtzeiten aufkreuzte und herumprotzte oder klagte oder weinte. Oh, jetzt war’s ihm klar. Beschissene Betriebsprüferinnen. Verdammte Scheiße. »Haltet bloß das Maul«, sagte er und entwand ihr die Kiste. »Ihr weckt das ganze Haus auf.« Er verschwand im Haus und warf die Tür hinter sich zu. Er trug die Kiste durch die Küche, um die Hennen durch die Hintertür hinauszubringen. Als sie zum dritten Mal auftauchten und die Scheinwerfer ins Schlafzimmer leuchteten, stahl sich Dill aus dem Bett, wo er sich schlafend gestellt hatte, Normalität und Zurechnungsfähigkeit mimend – ein verzweifelter Trick, den der Banker ihm ohnehin nicht glaubte –, und zuckte zusammen, weil der Banker auf Anhieb erwachte und sich geblendet die Augen beschirmte. »Wieder Freunde von dir?« Dill rannte hinaus auf die Veranda, zog währenddessen seine Jacke an und wedelte mit den Armen, aus, aus, damit sie ihr Scheißlicht ausmachten, und dann wedelte er weiter, hintenrum, hinters Haus, Idioten, und folgte zu Fuß dem Auto bis zum Stall und zur Scheune, wohin der Banker im Verlauf des Abends Dill und seine Habseligkeiten und zumal seine elf Tiere zu verbannen gedroht hatte, Begründung: »Kein Mensch auf der Welt kann noch mehr davon ertragen.« »Noch mehr von was?«, fragte Dill, denn wenn er wusste, welcher Teil der schlimmste war, konnte er ihn ja vielleicht zum Schweigen bringen oder abschaffen oder aufgeben. »Mehr von dir.« Was wirklich unfreundlich war. Des Bankers Wertschätzung befand sich in unaufhaltsamem Niedergang. Das Ausgangsniveau war allerdings so hoch gewesen und der Abstieg so langsam (nach Dills Vermutung hatte er wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung begonnen), dass sie viele Jahre gebraucht hatten, um am gegenwärtigen Punkt anzulangen. Selbst wenn Dill es fertiggebracht hätte, sich der praktisch übernatürlichen Version seiner selbst, die sich der Banker bei ihrem Kennenlernen zurechtgelegt hatte, wenigstens halbwegs anzunähern, wäre ein gewisser Höhenverlust unausweichlich gewesen. Man kennt das. Dazu kam, dass Dill damals auf dem Zenit seiner beruflichen (und daher sexuellen) Kraft gewesen und noch nicht durchgeknallt war – zum Ermittlungsleiter in genau dem Monat ernannt, in dem er und Annabelle sechs neue Ermittlungen abgeschlossen hatten und auf allen Nachrichtenkanälen gewesen waren. In jenem Jahr war ihr Team eine kleine, frische, handverlesene Rebellentruppe gewesen, nicht ganz ehrenwert, aber auch besser als ehrenwert. Hammermäßig erfolgreich. Nach jenem glanzvollen Monat, während ihre kleine Truppe wuchs, sich ausdehnte, an Stärke gewann, sich organisierte, sich unter ihm hervorarbeitete und zu einem gigantischen Nonprofit-Godzilla entwickelte, begann Dill seine Zugkraft zu verlieren, und es war ein entsetzlich langer Abstieg von dem, was der Banker zu bekommen geglaubt hatte. Die anhaltende (wahrscheinlich lebenslange) Enttäuschung, die Dill dem Banker bereitet hatte, kann man sich nur vorstellen. Seinetwegen würde der Banker die Welt fortan anders und schlechter sehen, als etwas, in dem Schönheit verdächtig ist und Liebe voller Mängel. Tja, blöd gelaufen, dachte Dill. Willkommen in der Welt, Arschloch. Ich hab nie von dir verlangt, mich auf diese Weise zu lieben. Deshalb wähnte er sich beim dritten Auftauchen der Betriebsprüferinnen wirklich ganz unten angekommen, auf dem Meeresboden, tiefer, dachte er, ginge es nicht: Vom Platz geschickt, mit Sack und Pack in Schande des Hauses verwiesen, ein Häufchen Asche in den Augen des Bankers, stand er vor der Vertreibung aus dem (zugegeben: felsigen) Paradies seiner Ehe. Diesmal wusste er genau, wer sie waren – Cleveland Smith, 34, und Janey Flores, 20 –, denn er hatte seine Recherchen gemacht und ihre Autonummern gecheckt; schließlich war er nach wie vor ein verdammter Profi. Immerhin war er nicht mehr auf Droge. Das musste für irgendwas gut sein. Kein Sockel, kein Sponsor. Sich unterzuordnen war noch nie seine Sache gewesen. Aussöhnung kam nicht infrage: Für den Banker war es endgültig, soviel hatte er ihm klargemacht. Verzeihung konnte Dill allenfalls von der größeren Öffentlichkeit zuteilwerden, sofern sie dazu bereit war. Dill hatte geglaubt, clean zu sein machte es besser. Weit gefehlt: Schlimmer konnte es jetzt nicht mehr werden. Aber da lag er immer noch falsch. Er ging hinüber zur Scheune, in der Annabelle einst die neuen Ermittler trainiert hatte, indem sie Hohlblocksteine nach ihnen warf; was der Zweck dieser Übung gewesen war, konnte Dill rückblickend nicht mehr sagen. Sie stiegen aus dem Auto. Echte Betriebsprüferinnen – Annabelle hätte sich gekringelt vor Lachen! Ob sie getarnte FBI-Leute waren? Allerdings – was konnte das FBI noch von ihm wollen? Früher vielleicht, als er noch in allen Farmen Ermittler postiert hatte, aber heute … Außerdem schienen die beiden nicht zu wissen, dass man ihn rausgeschmissen hatte, und deshalb konnte das jetzt nur die unfähige Agrargroßindustrie sein, nicht das FBI. »Noch ein paar für eure Revolution«, sagte die Ältere, Cleveland Smith. Sie dachte, sie hätte es mit dem Boss zu tun, und Dill fiel es im Traum nicht ein, ihr die Illusion zu nehmen. Wozu? »Seit wann macht die Betriebsprüfung...