Ullrich | Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Ullrich Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4340-2
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Muss Kunst heute politisch, fair und klimaneutral sein? Was unterscheidet sie noch von Mode und Design? Kritisch und zugleich kulturoptimistisch: Wolfgang Ullrichs umfassende Analyse eines Paradigmenwechsels, dessen Konsequenzen weit über die Kunst hinausreichen.

Das in der Moderne im Westen vorherrschende Ideal autonomer Kunst ist am Ende. Unterscheidungen zwischen Kunst und Kommerz lösen sich ebenso auf wie fest umrissene Werkgrenzen und Rollenklischees: Jeff Koons entwirft Taschen für Louis Vuitton, Künstler-Labels produzieren 'Art Toys', kollaborative Projekte setzen auf die Mitwirkung vieler, und Protestgruppen fordern mehr soziale Verantwortung der Kunstwelt.

Mit wacher Zeitgenossenschaft führt Wolfgang Ullrich einzelne Phänomene wie beispielsweise Make-up-Fotos auf Instagram, die utopische Malerei von Kerry James Marshall und Takashi Murakamis Sneaker zusammen und entfaltet so das Panorama einer neuen Kunst, die sich mit Aktivismus und Konsum verbündet: einer Kunst, die Kräfte möglichst vieler Disziplinen in sich bündelt, damit aber anderen und mehr Kriterien als früher zu genügen hat.
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Exposition
Fünf Paar Schuhe und Abschied von eineinhalb anderen
Wer sich mit zeitgenössischer Kunst befasst, hat es nicht mehr nur mit Gemälden, Fotografien, Installationen und Performances zu tun. Vielmehr können mittlerweile genauso Möbel, Make-up, Protestkundgebungen oder Handtaschen Spielarten von Kunst sein. Es ließe sich sogar sagen, dass Kunst heute dann besonders geschätzt wird, wenn sie zugleich etwas anderes ist. Die großen Gegensätze der Klassischen Moderne haben hingegen an Bedeutung verloren: Zwischen freier und angewandter Kunst, zwischen high und low oder auch zwischen Kunstwerken und Konsumprodukten wird kaum noch getrennt. Auch Sneakers können Kunst sein und dennoch genauso als Mode verkauft werden. Sie haben dann den Charakter von Skulpturen und erfüllen zugleich die alltäglichen Voraussetzungen funktionaler Laufschuhe. Oder sie sind, zusätzlich zu ihrem Status als exklusive Sammelstücke, mit einem politischen Statement verbunden. Oder sie sind Konzeptkunst und ebenso ein klimaneutrales High-Tech-Produkt. Sie genügen also jeweils den Kriterien mehrerer Bereiche. Zugespitzt formuliert: Nur weil sie nicht bloß Kunst sind, sind sie überhaupt Kunst. Wie unterschiedlich das aussehen kann, sei an fünf Beispielen veranschaulicht. Beispiel 1: Im August 2019 berichtete Takashi Murakami, Japans global bekanntester Künstler, auf seinem Instagram-Account davon, wie »erfüllend« es für ihn war, erstmals in seiner Laufbahn Sneakers zu entwerfen. Zwar war er schon wiederholt von großen Marken eingeladen worden, ein Muster oder eine Verpackung für ein Paar vorzuschlagen, doch nachdem er 2016 beim Besuch der ComplexCon, einem Festival zu Phänomenen der Popkultur, von Fans – sogenannten sneakerheads – bejubelt worden sei, habe er das als Aufforderung empfunden, selbst initiativ zu werden.1 Allerdings habe er zuerst noch eine »Distanz zwischen der Sneakers-Kultur und sich selbst« gespürt. Umso wichtiger sei es ihm gewesen, deren Regeln wirklich zu erfassen, und daher habe er sich voll und ganz auf seine eigene »Sneaker-Reise« eingelassen.2 Zu den Regeln der Sneakers-Kultur gehört es, jeden Schuh in Traditionen und Genealogien wahrzunehmen. Seine Qualität bezieht ein Entwurf nicht daraus, originell zu sein und ein Modell zu präsentieren, das man so noch nie gesehen hat; dafür wächst der Nimbus gewissermaßen mit dem Stammbaum, mit dem man die Sneakers ausstattet, indem man auf berühmte Vorbilder sowie Zeichen und Gestaltungselemente anderer Bereiche zurückgreift. Das hat Murakami verstanden. So bezieht sich das Design seiner Sneakers auf die Kampfroboterfiguren der populären japanischen Anime-Fernsehserie Mobile Suit Gundam (1979). Die olivgrünen Sneakers haben daher die Anmutung militärischer Ausrüstung, die Seitentaschen (die sich sogar auf bis zu vier pro Schuh erweitern lassen) erinnern darüber hinaus an Fahrradtaschen oder Anglerwesten – und damit sogar an Joseph Beuys. Als Partner für die aufgrund unterschiedlicher Materialien aufwändige Produktion wählte Murakami das Label Porter des auf Taschen spezialisierten Unternehmens Yoshida, und der Verpackungskarton ist eine Hommage an SF3D, eine von Ko Yokoyama entworfene Spielfigur der neunziger Jahre. [Abb. 1a–c] Nach eigener Aussage wollte Murakami die Sneakers auf diese Weise mit dem »Otaku-Geschmack«, also mit einer konsumistisch orientierten Fan-Kultur Japans, verknüpfen.3 Das Design enthält aber auch typische Elemente seiner eigenen künstlerischen Motivwelt, etwa in die Sohlen geprägte lachende Blumengesichter. Damit sind die Sneakers zugleich als Artefakte des Künstler-Labels »Murakami« identifizierbar, das mehr als viele andere mit der Kapitalisierung des Kunstbetriebs, mit dem Glamour eines in Rekorde und Superlative verliebten Marktes assoziiert wird. Ein Sneakerhead aus Texas schrieb begeistert, Design und Gedanken hinter Murakamis Entwurf seien nahe an den Traditionen, aus denen er selbst Inspiration beziehe, und im Kunstmagazin artnet wurden die Schuhe und das Verpackungsdesign als »vielschichtiger Liebesbrief an die japanische Fan-Kultur der 1980er Jahre« gewürdigt.4 Dasselbe Objekt, das original rund 600 US-Dollar kostete, fand also in der Sneakers-Szene ebenso Anerkennung wie in der Kunstwelt. 1a–c Takashi Murakami: TZ BS-06s Beispiel 2: Seit November 2020 bietet das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) in seinem Shop Sneakers an, die zusammen mit der Künstlerin Faith Ringgold entwickelt und in Kooperation mit der Marke Vans produziert wurden. [Abb. 2] Mit den Schuhen wird die Würdigung einer lange höchstens in Fachkreisen beachteten Künstlerin fortgesetzt, die bereits bei der Neueröffnung des Museums im Oktober 2019 prominent in Erscheinung treten konnte. So platzierte man ihr Gemälde Die (1967) neben Pablo Picassos Les Demoiselles d’Avignon (1907), einem Hauptwerk der Sammlung, das besonders gut das Weltbild eines weißen Mannes aus der Zeit der Avantgarden repräsentiert. Diese Hängung sollte ein Akt der Wiedergutmachung sein, da Ringgold, selbst Afro-Amerikanerin, sich sowohl in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung engagiert als auch für mehr Gleichberechtigung von Frauen gekämpft hat. Als Aktivistin protestierte sie in den siebziger Jahren gegen die viel zu einseitigen Sammlungen in Museen wie dem MoMA, und als Künstlerin hatte sie sich bereits 1991 innerhalb einer Serie von Quilt-Arbeiten – unter dem Titel The French Collection – kritisch mit Picassos Gemälde befasst. Das Design der Sneakers nimmt Bezug auf Ringgolds 1995 publiziertes Buch Seven Passages to a Flight, in dem sie in handkolorierten Radierungen und kurzen Texten einige ihrer Diskriminierungserfahrungen als Schwarze Frau festhält. Ein Muster verschiedenfarbiger Dreiecke in unterschiedlichen Anordnungen, das auf jeder Buchseite den Rahmen bildet, kehrt nun auf dem Schaft der Sneakers wieder. Und auf die Seitenflächen der Sohle ist ein Satz aus Ringgolds Buch – in ihrer Handschrift – gedruckt, der ihre doppelte Benachteiligung prägnant zum Ausdruck bringt: »My mother said I’d have to work twice as hard to go half as far«. 2 Faith Ringgold X MoMA X Vans Dass die Künstlerin es mit diesem Satz auf ein Produkt von zwei global berühmten Marken geschafft hat, mag aber auch als ein Beleg dafür gelten, dass ein Mehr an Einsatz und Engagement am Ende doch anerkannt wird. Wer Ringgold-Sneakers kauft, empfindet dann vielleicht Freude über die Lebensleistung der Künstlerin und kann sich zugleich zu ihrem Ziel einer diskriminierungsfreien Gesellschaft bekennen. Schließlich mag mit dem Besitz der Schuhe sogar die Hoffnung verknüpft sein, bei sich selbst neue Kräfte freizusetzen. Sie werden zum Ansporn, fungieren gar als Talisman oder als Werkzeuge des Empowerment. War Ringgolds Buch mit einer auf 45 Exemplare limitierten Auflage noch ein exklusives Stück Kunst, werden die Sneakers entsprechend der Nachfrage produziert und zum Preis von rund 100 US-Dollar verkauft. Wer nun unkt, der Weg vom Buch zu den Schuhen sei ein Niedergang von der Hochkultur zu bloßem Merchandising, sollte bedenken, dass Ringgolds Bücher als Preziosen in ein paar Sammlungen verschwanden und kaum Resonanz fanden. Ihre Schuhe hingegen können denen, die sie besitzen, immer wieder Anlass zur Identifikation und damit zu starken Gefühlen bieten, vor allem aber tragen sie die Haltung der Künstlerin buchstäblich in eine breitere Öffentlichkeit. Das Buch war nur Kunst und dadurch ziemlich machtlos, während die Sneakers, gerade weil sie mehr als nur Kunst sind, einen festen Platz im Leben der Menschen einnehmen, eine starke Präsenz entwickeln können. Dass man mit den Schuhen in Bewegung sein kann, sie sich aber auch zeigen sowie auf Bildern in den Sozialen Medien posten lassen, verleiht ihnen zudem den Charakter einer aktivistischen Grundausrüstung. Allerdings wird gerade die politische Glaubwürdigkeit der Sneakers dadurch geschwächt, dass die Auswahl der Kooperationspartner nicht so sorgfältig abgestimmt zu sein scheint wie im Fall Murakamis. Denn die Marke Vans ist vor allem mit der Skater-Szene assoziiert, der aber lange ausschließlich Weiße angehörten und die Schwarzen zum Teil sogar offensiv den Zugang verwehrte. Dass nun gerade Vans den Kampf einer Schwarzen für mehr Gleichberechtigung unterstützen soll, ließe sich zwar als umso größerer Triumph für Ringgold ansehen, zugleich weckt es aber den Verdacht, es könnte sich um ein Marketing-Manöver der Schuhmarke handeln, die so ihr fragwürdiges Image aufpolieren will und vom Museum gar noch darin unterstützt wird. Beispiel 3: Kooperationen zwischen großen Marken wecken generell Misstrauen. Design und Vermarktung sind so professionell, die erzählte Geschichte ist meist so sehr auf ein »Happy End« hin ausgerichtet, dass für Dissonantes kaum Raum bleibt. Viele wollen Optimismus verkaufen, fortschrittlich und cool sein, in eine von den ästhetischen Standards von Instagram und Netflix geprägte Bildwelt passen. Und solange sie sich an der Nachfrage orientieren, wollen sie auch nicht zu stark provozieren, nicht zu viel auf einmal infrage stellen. Dabei fungieren tradierte Ordnungen und Grenzziehungen immer auch als mehr oder minder sichtbare Machtinstrumente, die Hierarchien etablieren und so nicht zuletzt der Ungleichbehandlung von Menschen Vorschub leisten. Wer von einer freieren...


Wolfgang Ullrich, geboren 1967 in München, studierte dort ab 1986 Philosophie, Kunstgeschichte, Logik/Wissenschaftstheorie und Germanistik. 1994 promovierte er mit einer Dissertation über das Spätwerk und Ereignis-Denken Martin Heideggers. Neben Lehraufträgen an verschiedenen Hochschulen war er von 1997–2003 als Assistent am Institut für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in München, 2003/04 war er Gastprofessor für Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Seine Professur für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die er seit 2006 innehatte, legte er 2015 nieder. Seither lebt er als freier Autor in Leipzig. Zahlreiche Publikationen, insbesondere zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, über moderne Bildwelten sowie Wohlstandsphänomene. Er ist Mitherausgeber der Reihe DIGITALE BILDKULTUREN.


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