Lebensweisheiten
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-423-43213-9
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tucholsky schimpft auf die Widersprüche des Lebens, dass es eine reine Freude ist!
Autoren/Hrsg.
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Irgendwas ist immer
Dass einer alles hat, ist selten.
SELBSTBESINNUNG
Fort mit der sonst so aktuellen Harfe! Heut pfeif ich mir nach eigenem Bedarfe auf meiner Flöte einen in Cis-Moll von dem, was ist; von dem, was werden soll. Von dem, was ist … Kaum kann uns etwas schrecken. Mars schlägt mit Wucht auf sein verzinktes Becken – laß bluten, was da bluten mag – und er regiert die Stunde und den Tag. Und er regiert die Stunde und das Jahr – bedenk, wer damals noch am Leben war! Und leise spielt – wie waren wir doch jung! – der Leierkasten der Erinnerung. Wie kannst du dich in all dem wiederfinden? Du magst dich mühsam durch Systeme winden, durch Pflichten, die es geben muß und gibt – du siehst dahinter und wirst unbeliebt. Laß dich von keinem Schlagwort kirren! Von keinem Vollbart dich beirren! Es schenkt dir niemand was dazu – bleib, was du warst; bleib immer: Du! Geheimrat Goethe sang nicht minder vom höchsten Glück der Erdenkinder – er war Ministerpräsident und also sicher kompetent. Man kehrt nach aller Schicksalstücke doch immer auf sich selbst zurücke. Drum wünsch ich dir nach dem Gebraus dein altes, starkes, eignes Haus! DAS IDEAL
Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn – aber abends zum Kino hast dus nicht weit. Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit: Neun Zimmer, – nein, doch lieber zehn! Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn, Radio, Zentralheizung, Vakuum, eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm, eine süße Frau voller Rasse und Verve – (und eine fürs Wochenend, zur Reserve) –, eine Bibliothek und drumherum Einsamkeit und Hummelgesumm. Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste, acht Autos, Motorrad – alles lenkste natürlich selber – das wär ja gelacht! Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd. Ja, und das hab ich ganz vergessen: Prima Küche – erstes Essen – alte Weine aus schönem Pokal – und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal. Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion. Und noch ne Million und noch ne Million. Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit. Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit. Ja, das möchste! Aber, wie das so ist hienieden: manchmal scheints so, als sei es beschieden nur pöapö, das irdische Glück. Immer fehlt dir irgendein Stück. Hast du Geld, dann hast du nicht Käten; hast du die Frau, dann fehln dir Moneten – hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer: bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher. Etwas ist immer. Tröste dich Jedes Glück hat einen kleinen Stich. Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. Daß einer alles hat: das ist selten. ABENDLIED
Auf den Bergen liegt der Schatten, und der See ist dunkelgrün. Von den Sechs-Mark-fünfzig-Platten singt Maria Ivogün … Horch, die schöne Melodie: »Tralahü – lahü – lahi!« Dumpf tönts von der Kegelbahn – – – … Was hast du am Tag getan –? Hast du einen Brief geschrieben? Hast du im Büro gepennt? Hast du Unkeuschheit getrieben? Nahmst du 10 ½ Prozent als Bankier der Industrie … Tralahü – lahü – lahi – Singt sie nicht wie Marzipan! … Was hast du am Tag getan? Hast des Staates du im stillen dankbar-demutsvoll gedacht? Hast du Margot Abführpillen, die sie wollte, mitgebracht? Dachtest du, wie Hitler schrie … Tralahü – lahü – lahi – mit dem bierigen Organ – – – Was hast du am Tag getan? Morgen, denkst du, bin ich schlauer. Morgen fang ichs richtig an. Jeder – Städter oder Bauer – ist zur Nacht ein kluger Mann. Aber welche Ironie – Tralahü – lahü – lahi –: Morgen leben alle Leute egalweg genau wie heute. IM KÄFIG
Hinter den dicken Stäben meiner Ideale lauf ich von einer Wand zur andern Wand. Da draußen gehen Kindermädchen, Generale, Frau Lederhändlerswitwe mit dem Herrn Amant … Manchmal sieht einer her. Mit leeren Blicken: Ah so! ein Tiger – ja, das arme Tier … Dann sprechen sie von »Tantchen auch was schicken in Pergamentpapier«. Ich möcht so gern hinaus. Ich streck und dehn mich – die habens gut, mit ihrer großen Zeit! Sie sind gewiß nicht rein, und doch: ich sehn mich nach der Gemeinsamkeit. Der Tiger gähnt. Er käm so gern geloffen … Doch seines Käfigs Stäbe halten dicht. Und ließ der Wärter selbst die Türe offen: Man geht ja nicht. IDEAL UND WIRKLICHKEIT
In stiller Nacht und monogamen Betten denkst du dir aus, was dir am Leben fehlt. Die Nerven knistern. Wenn wir das doch hätten, was uns, weil es nicht da ist, leise quält. Du präparierst dir im Gedankengange das, was du willst – und nachher kriegst dus nie … Man möchte immer eine große Lange, und dann bekommt man eine kleine Dicke – C’est la vie –! Sie muß sich wie in einem Kugellager in ihren Hüften biegen, groß und blond. Ein Pfund zu wenig – und sie wäre mager, wer je in diesen Haaren sich gesonnt … Nachher erliegst du dem verfluchten Hange, der Eile und der Phantasie. Man möchte immer eine große Lange, und dann bekommt man eine kleine Dicke – Ssälawih –! Man möchte eine helle Pfeife kaufen und kauft die dunkle – andere sind nicht da. Man möchte jeden Morgen dauerlaufen und tut es nicht. Beinah … beinah … Wir dachten unter kaiserlichem Zwange an eine Republik … und nun ists die! Man möchte immer eine große Lange, und dann bekommt man eine kleine Dicke – Ssälawih –! MEDIATION, ZUM COUPÉFENSTER HINAUS
Wie die langen Telegrafenstangen jene schwarzen, dünnen Drähte, die grad sich zu erheben angefangen, immer wieder niedergehen, wie diese dunkeln regelmäßigen Stäbe, die das Auf und Ab und Auf und Ab stetig kontrollierend in der Schwebe halten –: also von der Wiege bis zum Grab drückt auch dich, o Mensch, bei allem Streben (seist du Amme, Kanzler, Redakteur), drückt auch dich, o Mensch, im ganzen Leben, nieder, nieder, nieder – das Malheur. GEHEIMNIS
Jüngst betraf mich ein Japaner, und in des Gespräches Wellen, als wir von Matrosen sprachen, ließ er ein klein Wörtlein fallen: ›Skibi‹. »Was bedeutet das, Geehrter?« fragt ich leicht und glatt und höflich. »Nie noch hört ich diese Silben: Skibi –? Ists ein Laster? Ein Gesellschafts- spiel? Kann man es konsumieren? Tun Matrosen es? Mit wem wohl? Skibi –?« Der Japaner nickte höflich, lächelte und schwieg. Und seitdem hockt auf mir der Skibi-Wahnsinn. Skibi! zwitschern alle Spatzen. Skibi-skibi! gellt die Hupe. Und die Stadtbahn-Wagenachsen rattern: Skibi-skibi-skibi …! Skibi! piept die Bodenmaus. Und so sieht die Sonne aus: Traurig krauche ich durchs Leben. Kann mir niemand Rettung geben? Auf, nach Japan laßt mich fahren, seekrank, heiß, mit Möwenscharen, wochenlang in Schiffsbewegung, II. Klasse (mit Verpflegung) – Und ich seh nicht Palästina, Indien nicht an und China – Bombay nicht und nicht Kalkutta, in Port Said die Kuppelmutter … Ungegessen, ungeschlafen, fahr ich. Auf dem Quai im Japan-Hafen spring ich auf den ersten besten, halt ihn an am Knopf der Westen – schreiend frag ich: »Was ist Skibi –?« Der Japaner, kalten Blutes, spricht: »Das fragt man nicht. Man tut es. Skibi-skibi-skibi-skibi –!« In die Heimat fährt ein Greis. Stumm. Zerbrochen. Haar schlohweiß. Geht ins Kloster als...