E-Book, Deutsch, 190 Seiten
Erfahrungsbericht und Ratgeber
E-Book, Deutsch, 190 Seiten
ISBN: 978-3-7534-7454-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dipl.-Wirtschaftsingenieurin (FH) für Verlagswesen, Mutter von drei erwachsenen Töchtern. Setzt sich seit 20 Jahren intensiv mit dem Thema Sprachbehinderung auseinander. Sie begleitet und unterstützt ihre jüngste Tochter dabei, die vielen Herausforderungen einer unsichtbaren Behinderung zu meistern. Mit diesem Buch möchte sie einen Beitrag zur Aufklärung über SSES und AVWS leisten.
Autoren/Hrsg.
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Medizinische Grundlagen
1 Was ist eine Sprachentwicklungsstörung?
Bei der normalen Sprachentwicklung gibt es eine große individuelle Variationsbreite. Sie verläuft bei jedem Kind unterschiedlich schnell, weshalb man in den ersten 3 Lebensjahren bei Auffälligkeiten von einer Sprachentwicklungsverzögerung (Late Talker) spricht. Definition Die Fachleute sind sich einig, dass ein sprachgesundes Kind sich im Alter von 4 Jahren in seiner Muttersprache grammatikalisch korrekt und gut verständlich ausdrücken kann. Es hat keine Probleme, andere zu verstehen. Erst wenn dies nicht der Fall ist, sollte man von einer Sprachentwicklungsstörung sprechen. Bei einer Sprachentwicklungsstörung unterscheidet man (AWMF-Leitlinie 2016): Spezifische Sprachentwicklungsstörungen (SSES), auch umschriebene Sprachentwicklungsstörung (USES) genannt, bei ihnen lassen sich keine Ursachen für die Störung nachweisen. (Viele Wissenschaftler verwenden den Begriff SSES. Wir auch.) Sprachentwicklungsstörungen (SES) im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen, die die Störung erklären können Andere Störungen des Sprech- und Spracherwerbs, z. B. Redeflussstörungen wie Stottern Bei der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES) beginnt das Kind im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern auffallend spät mit dem Sprechen. Auch die weitere Sprachentwicklung ist langsam und kann stagnieren. In schweren Fällen spricht das Kind gar nicht. Die gesprochene Sprache und das Sprachverständnis des Kindes liegen deutlich unter seinem sonstigen Entwicklungs- und Intelligenzniveau. Dabei hat das Kind keine körperlichen oder psychischen Erkrankungen, die die Sprachentwicklungsstörung erklären könnten. Häufigkeit In der Fachliteratur liegen die Angaben über die Häufigkeit von Sprachentwicklungsstörungen zwischen 2 und 15 %. Die meisten Studien gehen von 6 – 8 % aller Kinder aus. Dabei fällt auf, dass Jungen etwa doppelt so häufig betroffen sind wie Mädchen. Mögliche Ursachen Man geht heute davon aus, dass die Spezifische Sprachentwicklungsstörung angeboren ist und multifaktoriell vererbt wird. Vermutlich sind mehrere Gen-Orte an der Störung beteiligt. Dazu passt auch, dass die Störung in manchen Familien gehäuft auftritt. Umwelteinflüsse, z. B. eine zu geringe Sprachanregung des Kindes durch sein familiäres Umfeld, reichen als alleinige Ursache der SSES nicht aus. Symptome Die Störung führt zu einer unzureichenden Verarbeitung von Sprache im zentralen Nervensystem. Kinder mit SSES fallen in der Regel schon im Alter von 2 Jahren auf. Die Symptome sind individuell unterschiedlich und hängen vom Ausmaß der Störung ab. Typische Anzeichen bis zu einem Alter von 24 Monaten: Besorgnis enger Bezugspersonen bzgl. der Sprachentwicklung Später bzw. ausbleibender Beginn des Sprechens Keine oder nur einzelne selbstkreierte Wörter, z. B. Nunu für Schokolade Erste Wörter deutlich später als mit 15 Monaten Weniger als 50 Wörter produktiv (Late Talker) Keine Wortkombinationen mit 24 Monaten Typische Anzeichen bis zu einem Alter von 36 Monaten: Verlangsamter Verlauf oder Stagnation der Sprachentwicklung Kein Aufholen bis zu einem Alter von 36 Monaten Nur Ein- bis Zweiwortäußerungen (Quelle: AWMF-Leitlinie „Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen“ 2016, AWMF-Register-Nr. 049/006) 40 – 75 % der Kinder mit SSES haben auch im weiteren Leben Schwierigkeiten mit dem Umgang und der Verarbeitung von Sprache. Sie verstehen sprachlich vermittelte Informationen schlechter, was in der Regel auch das Lernen in der Schule erschwert. Das Risiko, eine Lese- und Rechtschreibstörung zu entwickeln, ist bei den betroffenen Kindern erhöht. Manche entwickeln auch eine Aufmerksamkeitsstörung oder eine Störung des Sozialverhaltens. Alle diese Faktoren haben in der Regel deutliche negative Auswirkungen auf die schulische Laufbahn des Kindes, sie erschweren die spätere Berufswahl und den Einstieg in die Berufstätigkeit. Diagnostik Beim Verdacht auf eine Störung der Sprachentwicklung ist eine differenzierte interdisziplinäre Diagnostik notwendig. Zur Diagnostik und zur Abgrenzung anderer Ursachen gehören eine ausführliche Befragung der Eltern über die Vorgeschichte (Anamnese) sowie medizinische, psychologische und sprachtherapeutische/logopädische Untersuchungen. Eine Hörprüfung steht immer am Anfang der medizinischen Diagnostik, um körperliche Ursachen der gestörten Sprachentwicklung auszuschließen. Erst danach erfolgt die Sprachdiagnostik. Die einzelnen Untersuchungen werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt. Sie richten sich individuell nach den Symptomen des Kindes. Das Ausmaß der Störung kann durch spezielle Testverfahren ermittelt werden. Eine sichere Diagnose ist aber erst möglich, wenn das Kind mindestens 4 Jahre alt ist. Bei der Diagnostik und der Betreuung der betroffenen Kinder und ihrer Eltern ist eine gute Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den beteiligten Berufsgruppen in den Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) und in spezialisierten Kinderkliniken (Pädaudiologie, Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie) wichtig. Das Ziel aller diagnostischen Maßnahmen besteht darin, jedes Kind bzw. seine Eltern individuell zu beraten, die Betroffenen optimal zu fördern und ggf. eine störungsspezifische Therapie (z. B. eine spezielle Sprachtherapie oder ein frühpädagogisches Förderprogramm) einleiten zu können. Therapiemöglichkeiten Für die Spezifische Sprachentwicklungsstörung gibt es keine Behandlung, die die Ursachen heilen kann. Im Rahmen individuell abgestimmter Therapiemaßnahmen können jedoch sprachliche Symptome und Defizite abgeschwächt und Kompensationsstrategien erlernt werden. Dazu gehören z. B.: Gezielte Sprachförderung ab dem Kleinkindalter (Frühförderung) Intensive Sprachtherapie (Logopädie) Ergotherapie (Förderung von Wahrnehmung, Merkfähigkeit, Handlungsplanung, psychischer Stabilität, Geschicklichkeit u.a.) Sprachfördernde Begleitung durch die Eltern Eine ausführliche Beratung der Eltern ist sehr wichtig, damit sie lernen, mit der Sprachentwicklungsstörung ihres Kindes umzugehen und ihr Kind gezielt im Alltag zu fördern. Auch wenn die Diagnose einer Sprachentwicklungsstörung nach der derzeitigen Lehrmeinung erst ab dem Alter von 4 Jahren sicher gestellt werden kann, sollten notwendige Therapien möglichst früh beginnen. Eine frühe Sprachtherapie in Verdachtsfällen, z. B. bereits im 2. und 3. Lebensjahr, kann die sprachlichen Leistungen des Kindes nachweisbar verbessern und mögliche psychosoziale Folgen der Störung mildern (Dannenbauer 2001, 2002). Prognose Obwohl die meisten betroffenen Kinder im Jugendalter von Außenstehenden als unauffällig wahrgenommen werden, bestehen weiterhin sprachliche Defizite wie z.B. eine nichtflüssige Sprache, Mehrfachansätze beim Erklären, Wortfindungsprobleme und ein eingeschränktes Verständnis von komplexeren Texten und Diskussionen (Dannenbauer 2002). Insbesondere wenn die Jugendlichen und jungen Erwachsenen Aufgaben bewältigen müssen, die von der täglichen Routine abweichen, zeigt sich das tatsächliche Ausmaß der sprachlichen Defizite (Schöler et al. 1998 zit. nach Dannenbauer 2002). „Es wäre illusionär, zu erwarten, dass sich spezifische Sprachentwicklungsstörungen einfach auswachsen‘“ (Dannenbauer 2002). Man muss vielmehr damit rechnen, dass sich die spezifischen Sprachentwicklungsstörungen im Erwachsenenalter in unterschiedlichem Ausmaß fortsetzen werden. Literatur AWMF-Leitlinie „Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen (SES), unter Berücksichtigung umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES), AWMF-Register-Nr. 049/006 vom 16. 12. 2016, https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/049-006l_S2k_Sprachentwicklungsstoerungen_Diagnostik_2013-06-abgelaufen_01.pdf, (Stand: 24. 9. 2020) Dannenbauer F. M. (2001): Chancen der Frühintervention bei spezifischer Sprachentwicklungsstörung. Die Sprachheilarbeit Jg. 46, 103-111 Dannenbauer F. M. (2002): Spezifische Sprachentwicklungsstörung im Jugendalter. Die Sprachheilarbeit Jg. 47, 10-17 Deutscher Bundesverband für Logopädie e. V. (dbl), https:/www.dbl-ev.de/logopaedie/stoerungen-bei-kindern/stoerungsbereiche/sprache/sprach-entwicklungsstoerungen (Zugriff: 24. 9. 2020) Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG),...