Andere Blicke auf und aus Brasilien
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-95405-016-1
Verlag: Unrast Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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Inhalt
Widerständigkeiten im ›Land der Zukunft‹ - eine Einleitung
Teil I: Die Säule der brasilianischen Gesellschaft: (k)eine democracia racial
Indigene Amazoniens: Alternative Vergangenheiten, zukünftige Perspektiven
Indigene Völker und indigene Bewegungen im heutigen Brasilien
Zukunftsfähigkeit oder Ausverkauf traditioneller Lebensweisen?
Der Handel mit Emissionsrechtenin indigenen Gebieten Brasiliens
Die Dekonstruktion der democracia racial und der Aufstieg des movimento negro in Brasilien
Quilombos und quilombolas in Brasilien: Widerstand und zukünftige Entwicklungen
»Wir haben doch nicht Widerstand gegen die Sklaverei geleistet, damit wir wieder wie Sklaven auf Plantagen arbeiten.«
Brasilien in Bewegung - Ein Migrationsland zwischen Ungleichheit und Mestizierung
Teil II: Andere Identitäten
O malandro carioca
Literarischer Terrorismus
Queere Konstellationen: Zum aktivistischen Potential brasilianischer Mikropolitiken des Körpers
Glaube und Widerstand: Glauben wir noch an die Zukunft des ›Landes der Zukunft‹?
Fußball und nationale Identität. (Auf der Suche nach der Mehr-Lust)
Ein Fado Tropical mit einer Prise berimbau: Ein Streifzug durch Brasiliens Außenpolitik
Unterwegs im Black Atlantic - capoeira zwischen Anpassung, Aneignung und Widerstand
Teil III: Von der Militärdiktatur zur Demokratie
Zwischen Erinnerung und Geschichtsschreibung: Der Widerstand gegen das brasilianische Militärregime (1964-1985)
Die Macht des Klangs: Avantgarde-Musik und politischer Widerstand in Brasilien
Teil IV: Recht auf Stadt
Metropolitane Weltbühne und Inszenierung der Backstage Rio 2016: Monopoly versus Mensch ärgere dich
Entre flores e fedores »Favelas are not bad places to live«
Favela: Territorium -Widerstand Verdrängung und Widerstand - Der öffentliche Raum als Austragungsort von Widersprüchen
A rua é nossa! Über die kollektive Aneignung von Mauern in Rio de Janeiro
Teil V: Der ländlichen Raum als Kristallisationspunkt von Widersprüchen und Widerständen
Land in Sicht! Die MST und die Taktik des Widerstands
Die Ökonomie der Sklav_innen-Arbeit im heutigen Brasilien
»Dizem que agora é melhor ser índio«
Novo Progresso: ein emblematischer Ort der Widersprüchlichkeiten Amazoniens
Teil VI: Ein alternatives Bild vom ›Land der Zukunft
Brasilien im 22. Jahrhundert
Danksagung/Agradecimentos
Autor_innen und Übersetzer_innen
Camila Loureiro Dias Indigene Amazoniens: Alternative Vergangenheiten, zukünftige Perspektiven
Übersetzt von Sabine Reiter An der Grenze zwischen Brasilien und Peru gibt es, wie 2008 durch die Fotos der FUNAI4 belegt, immer noch isoliert lebende indigene Gemeinschaften. Die Bilder fanden in der internationalen Presse weite Verbreitung und lieferten neuen Stoff für die Diskussion über ›das Indigene‹. In Deutschland griff zum Beispiel die Wochenzeitung Die Zeit diese Fotos auf und beschrieb die abgebildeten Indigenen als Repräsentant_innen einer »alten Welt«, als vermeintliche »Wilde« und »Urvölker«, »verborgen im brasilianischen Urwald«, die noch nie mit irgendeiner »wahren Zivilisation« in Kontakt getreten seien (Die Zeit, 05.06.2008). Der Duktus dieses Artikels ist eher ironisch als ernst. Was er dadurch infrage stellt, ist ein altbekanntes Bild, welches in den Köpfen vieler Menschen bis heute besteht: die Indigenen Brasiliens als Gegenpart zu ›unserer‹ Welt, als lebendige Spur einer verlorengegangenen Zeit und als Teil einer von den »zivilisierten Kulturen« abgetrennten Natur. Die Tatsache, dass viele indigene Gemeinschaften isoliert leben, bedeutet nicht, dass sie niemals mit Nicht-Indigenen in Kontakt gestanden hätten. Vielmehr haben sie sich im Laufe der Zeit dazu entschlossen, den Kontakt mit anderen zu vermeiden, und sich deshalb in die unzugänglicheren Gebiete des Waldes zurückzogen. Aktuell handelt es sich um einige Hundert Menschen, die von beiden Seiten der brasilianisch-peruanischen Grenze unter Druck gesetzt werden und in ihrer Existenz massiv bedroht sind. Dabei zeigen sie, wie auf den Fotos zu sehen ist, die Entschlossenheit und das würdevolle, stolze Auftreten von Menschen, die wissen, was sie wollen – und was sie nicht wollen. Die Situation der indigenen Bevölkerung Brasiliens ist insgesamt sehr vielschichtig. Nach Angaben des Zensus von 2010 leben heute in Brasilien kaum mehr als 800.000 Menschen, die sich als Indigene (índios) bezeichnen – dies entspricht weniger als einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie verteilen sich auf staatlich geschützte oder ungeschützte Gebiete, auf Städte und ländliche Regionen, wobei ein Großteil von ihnen (40 Prozent) in Amazonien lebt (siehe Fotos). Zwischen 1991 und 2000 verzeichneten die Statistiken einen Bevölkerungszuwachs von 150 Prozent und allein im vergangenen Jahrzehnt einen von 10 Prozent.5 Dieser sprunghafte Anstieg mag mit einer erhöhten Geburtenrate verbunden sein. Er ist aber im Wesentlichen auf einen politischen Kontext zurückzuführen, der das Bekenntnis zur indigenen Identität begünstigt hat und im Zuge der Verfassung von 19886 entstanden war. Isoliert lebende Indigene im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet Foto: FUNAI 2008, Fotograf: Gleilson Miranda Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass die Ureinwohner_innen Amerikas, anders als üblicherweise angenommen, keine lebenden Fossilien ihrer eigenen oder einer wilden westlichen Vergangenheit sind. Vielmehr sind ihre aktuelle Bevölkerungsentwicklung, ihre Organisationsstruktur und territoriale Verteilung Ergebnis historischer Prozesse, die im Verlaufe der Jahre immer wieder neu und anders in die Geschichtsschreibung eingegangen sind. Ziel dieses Textes ist aufzuzeigen, welche Veränderungsprozesse die indigenen Gemeinschaften Amazoniens durchliefen, die sie zu dem machten, was sie heute sind. Im ersten Teil zeige ich, wie in den ersten historiographischen Werken über die Indigenen ihre Geschichtlichkeit konstruiert wurde und welche Art der Herangehensweise heute gewählt wird. Auf dieser Basis beschreibe ich im zweiten Teil den Kontext der frühkapitalistischen Expansion ins Amazonasgebiet seit dem 16. Jahrhundert sowie die Reaktionen der indigenen Bevölkerung auf die damit einhergegangenen Veränderungen. Im dritten Teil wende ich mich schließlich dem aktuellen politischen Kontext zu, in den sich sowohl der bereits erwähnte demographische Zuwachs als auch die neuen Parameter zur Beschreibung der brasilianischen indigenen Gesellschaften einfügen. Das Amazonasbecken und die im Text erwähnten Orte und Flüsse Die indigenen Völker Amazoniens Die Dichte der indigenen Bevölkerung an den Ufern der Flüsse des Amazonasgebiets (Abb. 3) beeindruckte alle Europäer, die dieses Gebiet im 16. Jahrhundert bereisten. Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass zu jener Zeit zwischen fünf und sechs Millionen Menschen dort lebten, was einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von ca. 14,6 Einwohnern pro Quadratkilometer entspricht (Denevan 1992: 226). Diese Zahl ist vergleichbar mit der Bevölkerungsdichte auf der Iberischen Halbinsel, die zur damaligen Zeit mit 17 Einwohner_innen pro Quadratkilometer bemessen wurde (Braudel I, 1979: 42). Wer die Reiseberichte aus jener Zeit liest, mag vielleicht meinen, dass es sich hierbei um eine zurückhaltende Schätzung handelt. Die Tatsache, dass sich alle Europäer gleichermaßen über die Anzahl der dort angetroffenen Menschen wunderten, lässt vermuten, dass die Bevölkerungsdichte sogar noch höher war als die auf der Iberischen Halbinsel. Wir wissen es nicht. Sicher ist jedoch, dass die Berichte mit der Zeit einen drastischen Bevölkerungsrückgang verzeichneten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren die beschriebenen Gruppen an den Ufern des Amazonas bereits größtenteils verschwunden, ausgelöscht oder in entlegenere Gebiete des Landesinneren verdrängt. An ihre Stelle traten neue, durch Missionare kontrollierte Siedlungen von Indigenen, die aus den Quellgebieten oder von den Mittelläufen der Nebenflüsse gekommen waren. Diese Bevölkerungsteile können als Ursprung der heutigen mestizischen Bevölkerung an den Flussufern verstanden werden. Der rapide Rückgang der indigenen Bevölkerung betraf den gesamten amerikanischen Doppelkontinent. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass der Hauptgrund hierfür die Infektionskrankheiten waren, die die Europäer mitbrachten: Pocken, Masern, Grippe und die Pest. Diese Krankheiten waren den Amerikaner_innen, die für mindestens 15.000 Jahre isoliert vom Rest der Welt gelebt hatten, bis dahin unbekannt. Ein weiterer Grund für den Bevölkerungsrückgang ist die Destabilisierung der indigenen Gesellschaften durch die merkantilen Strukturen, die die Europäer – neben ihren Krankheiten – eingeführt hatten (vgl. dazu das nachfolgende Unterkapitel). Im Amazonasgebiet begann dieser Prozess mit dem Gewürzhandel im 16. Jahrhundert, setzte sich in den folgenden Jahrhunderten fort und dauerte mindestens bis zum Kautschukboom an, der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts mit der industriellen Revolution einherging. Diese letzte Phase fiel mit der Entstehung der Anthropologie als wissenschaftliche Disziplin zusammen. Zu dieser Zeit bereisten verschiedene deutsche Wissenschaftler die Amazonasregion, um ethnographische Informationen über die einheimische Bevölkerung zu sammeln (Spix und Martius, Karl von den Steinen, Theodor Koch-Grünberg, Curt Nimuendaju). Dabei fanden sie die indigenen Gesellschaften in einem vollkommen anderen Zustand vor, als sie von den Europäern des 16. Jahrhunderts beschrieben wurden. Auf der Basis dieses ethnographischen Materials entstanden die ersten Modelle zur Interpretation der Gesellschaftsformen der amerikanischen Bewohner_innen des Tieflands. Diese Modelle gingen zum einen davon aus, dass die Gesellschaftsstruktur immer so gewesen sei wie im beobachteten Moment (Ribeiro 1988). Zum anderen wurden die indigenen Völker als »Wilde« angesehen, da sie – entsprechend der europäischen Vorstellung von gesellschaftlicher Entwicklung – noch nicht bei der Formation von Staaten angelangt waren. Sie galten vielmehr als lebende Vertreter_innen der Vorfahren des zivilisierten Menschen. Auf diese Weise entstand ein Bild der Indigenen als lebendige Fossilien aus einer wilden Vergangenheit, das bis heute in den Vorstellungen der meisten Menschen – einschließlich der Brasilianer_innen – fortlebt. Neueren Forschungsergebnissen zufolge besaßen die indigenen Völker Amazoniens zur Zeit der Ankunft der ersten Europäer eine ältere und reichere Geschichte als zunächst angenommen. Heute weiß man sicher, dass der Beginn der menschlichen Besiedlung der Amazonasregion mindestens 11.000 Jahre zurückliegt. Die von den Europäern angetroffene Bevölkerung stammte von Gesellschaften ab, die immensen Transformationsprozessen unterlagen, insbesondere in den 500 Jahren zuvor. Dazu gehörten ein starkes Bevölkerungswachstum, Umsiedelungen, Veränderungen in den Siedlungsformen und kulturelle Wandlungsprozesse (Neves 2009: 49-50). Auf der Basis von materiellen Zeugnissen und einer erneuten Lektüre der ersten Reiseberichte wird heute angenommen, dass die ersten Europäer sehr unterschiedliche Sozialgefüge auf lokaler sowie auf regionaler Ebene antrafen, eine signifikante Bevölkerungsdichte und systematische interethnische...