E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Servus Krimi
Ein Brixen-Krimi
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Servus Krimi
ISBN: 978-3-7104-5055-6
Verlag: Servus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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FREITAG
ENDLICH RUHE
Lovis’ Herz hüpfte vor Freude, als er an diesem warmen Junitag mit seinem alten Wagen den Wald hinter sich ließ und sich der Blick über die Almlandschaft eröffnete. Grüne Matten, von Alpenrosenbüschen und Latschen durchsetzt, dahinter die überwältigenden Felsmassive der Aferer Geisler und des Peitler Kofls, die nordwestlichen Ausläufer der Dolomiten, die sich strahlend vor dem tiefblauen Sommerhimmel abhoben. Hier durfte Lovis die nächsten Wochen verbringen, und er freute sich darauf, wie ein kleiner Junge. Sein Knecht Paul hatte seine wachsende Verzweiflung über die temperamentvollen Gäste auf dem Messner Hof nicht mehr mitansehen können und ihn in die »Sommerfrische« geschickt. Wahrscheinlich wissen sie nicht einmal, was sie mir für ein Geschenk machen mit dieser Sommerfrische, dachte Lovis und musste an sich halten, um nicht mit einem lautstarken Juchiza seiner Freude Ausdruck zu verleihen. Noch war er nicht an Ort und Stelle. Der Almweg war jetzt holprig, immer wieder zwangen ihn tiefe Schlaglöcher dazu, seine Fahrt zu verlangsamen und mehr als einmal knallte die Ölwanne seines vollbepackten VW Golf, Baujahr ’77, und damit gleich alt wie er selbst, auf einen hervorstehenden Stein. Er manövrierte den Wagen an Wanderern vorbei, die entrüstet hustend auf die von ihm im Vorüberfahren aufgewirbelten Staubwolken reagierten, wich blöde glotzenden Kühen aus und erreichte endlich die kleine Almhütte, die sich in eine schattige Mulde schmiegte und in den nächsten Wochen sein Zuhause sein würde. Er stellte den Motor ab und horchte. Es war … still. Der überhitzte Motor gab ein leises Ticken von sich, aber sonst war außer dem Summen einiger Insekten nichts zu hören. Stille. Lovis atmete tief durch, ließ die würzige Luft in seine Lungen strömen und schickte ein stilles Dankeschön an Paul, der die fantastische Idee für diese Auszeit gehabt hatte. Zusammen mit den trächtigen Kühen und den Kalbinnen, die es allerdings bis jetzt auch ohne Lovis da oben überlebt hatten. Die Burgi, eine Bäuerin des nahe gelegenen, ganzjährig bewirtschafteten Hofes, trieb sie jeden Morgen zusammen mit ihren eigenen Kühen hoch zu einer Almwiese. Abends brachte sie Lovis’ Kühe dann wieder zu seiner Almhütte, neben der sie in einem kleinen umzäunten Grundstück einen Unterstand für die Nacht fanden. Pauls Vorschlag war natürlich nicht ganz uneigennützig gewesen, denn er hatte Lovis gleichzeitig gebeten, einen Ermittlungsauftrag für seinen Freund, den Förster Waldner zu übernehmen, der einem Waldvandalen auf die Spur kommen wollte. »Und die hier nimmst du auch mit«, hatte Angelika gesagt und auf die Kiste mit Hannes Krimis gezeigt. Hanne Wiedenhof, eine deutsche Urlauberin, war vor ein paar Wochen überstürzt abgereist und hatte ihre gesamte Bibliothek – eine Kiste voller Alpenkrimis – auf dem Messner Hof gelassen. Jetzt freute sich Lovis auf ein paar Wochen ungestörte Lesezeit, auch wenn er Angelika vermissen würde. Seit sie ihn vor zwei Wochen endlich geküsst hatte, war er ihr noch mehr verfallen als zuvor. Er stieg aus, öffnete den Kofferraum seines Wagens und hievte die Bücherkiste heraus. »So, so. Eine Leseratte ist der Nachfolger vom Waschtl«, hörte er da eine Stimme hinter sich. Er fuhr herum. Ein etwa Fünfzigjähriger stand grinsend hinter ihm. Der ungepflegte Dreitagebart und das schulterlange, strähnige Haar bildeten einen seltsamen Kontrast zu seiner Bekleidung. Seine Jacke stammte von einer teuren Marke, seine Hose ebenso. Auch die Sonnenbrille, die er sich nachlässig nach oben geschoben hatte, war von einem bekannten Label. »Ich bin der Sandro. Bergführer im Sommer, Pistenwart im Winter. Hab grad wieder eine Gruppe Touris ins Tal gebracht und jetzt geht’s hinauf zum Schorsch. Hüttenzauber. Kommst mit?« Lovis wusste, dass Schorsch, sein Freund aus Jugendtagen und der Wirt der Dorfkneipe, sein Tätigkeitsfeld für den Sommer immer auf die Alm verlegte, und hatte einen Besuch bei ihm schon fest eingeplant. Trotzdem deutete er auf seinen Wagen, der bis obenhin mit allem möglichen Kram beladen war. »Ich muss erst ausladen.« »Ich helf dir. Hab eh nix zu tun und auf der Alm, da hilft ma zamm.« Der Bergführer packte gleich die nächste Kiste und stemmte sie hoch. Lebensmittel für drei Wochen. »Wo soll das hin?« Beinahe überrumpelt von der Hilfsbereitschaft des Kerls ging Lovis voraus, kramte in seiner Hosentasche nach dem handgeschmiedeten Schlüssel und öffnete die Tür. »Da muss wohl zuerst einmal gründlich geputzt werden«, stellte Sandro amüsiert fest. Er hatte recht. In dem Sonnenstrahl, der durch das halbblinde Fenster hereinfiel, tanzten Millionen von Staubkörnchen, feine Spinnweben hatten sich an den Deckenbalken festgenistet und auf dem Esstisch waren Mäuseköttel. Die Almhütte bestand aus einem einzigen Raum und war mit der obligatorischen, hölzernen Eckbank und einem alten Bauernherd, über dem eine Eisenpfanne hing, eingerichtet. Daneben war ein Waschbecken und die Kredenz, auf der ein ausgetrockneter Knoblauch lag. Hier war ein Grundputz bitter notwendig. Aber nicht jetzt. »Hüttenzauber hast du gesagt?« »Ja, wenn die Touris alle im Tal sind, geht’s beim Schorsch hoch her. Also? Kommst mit?« »Na, der Carabiniere! Hat’s dich jetzt auch vom Tal auf den Berg versprengt?« Schorsch lachte dröhnend und schlug Lovis kräftig auf die Schulter. »Bist im Rückwärtsgang heraufgefahren?« »Wieso das?«, wunderte sich Sandro. »Weil er ja nicht wissen hat können, ob er auf dem Berg einen Platz zum Wenden findet und als Carabiniere dann bestimmt lieber gleich im Rückwärtsgang raufgefahren ist.« Sandro fiel in das Gelächter des Hüttenwirts mit ein und die anderen in der Hütte versammelten Männer sahen neugierig zu ihnen herüber. Erstens bin ich kein Carabiniere und zweitens nie einer gewesen, lag es Lovis auf der Zunge, aber dann ließ er es bleiben. Schorsch wusste genau, dass er bei der italienischen Staatspolizei gewesen war, was ein kleiner, aber feiner Unterschied zu den Carabinieri war. Während die einen dem Innenministerium unterstanden, waren die Carabinieri ursprünglich Teil des italienischen Heeres und dem Verteidigungsministerium zugeordnet. Erst vor etwa zwanzig Jahren waren sie ebenfalls dem Innenministerium unterstellt worden, was das Chaos im italienischen Polizeiwesen aber nicht verringert hatte. Lovis seufzte. Das alles lag zum Glück hinter ihm. Vor ein paar Monaten hatte er seinen Dienst bei der italienischen Staatspolizei gekündigt und den Hof seines Onkels Sebastian übernommen, um dann festzustellen, dass dieser hoch verschuldet war. Die Kreditraten würden ihn noch lange Zeit begleiten oder ihm früher oder später den Hals brechen. Weiterhin flatterten neue Schuldscheine oder Mahnungen ins Haus. Noch einmal entfuhr Lovis ein tiefer Seufzer, der von Schorsch mit einem Glucksen quittiert wurde. »So ernst, Lovis?«, fragte er. Lovis nickte. »Weißt eh.« »Ein Enzian gegen den Weltschmerz?« Ohne Lovis’ Zustimmung abzuwarten, griff Schorsch nach einer Glasflasche, die mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt war. »Hat die Moidl letztes Jahr angesetzt.« »Jetzt weiß ich, warum keine Enzian mehr wachsen …«, sagte Lovis, nahm das Stamperle, das Schnapsglas jedoch gern an. »… wenn ihr für euren Enzian alle Wurzeln ausgrabt.« Schorsch schüttelte den Kopf. »Da nimmt man eh nicht den blauen Enzian dafür, sondern den gelben, und die Wurzeln holt die Moidl aus der Apotheke. Außerdem kriegen nur meine Spezialgäste den selbst angesetzten.« Er sah zu, wie Lovis den Hochprozentigen hinunterstürzte, anerkennend das Gesicht verzog und füllte das Stamperle noch einmal nach. »Und was machst du da heroben? Kommst den Kartenspielern ihr Spiel verderben?« »He, so schlecht spiel ich nicht«, begehrte Lovis auf und erntete ein Kichern von einem Tisch, an dem vier Männer das typische Südtiroler Kartenspiel Watten spielten. Zwei davon kannte er aus dem Dorf, und zwar den Karl, Leiter der Dorfkapelle, und den Gunsch, einen Bauern, dessen Apfelfeld im Tal an Lovis’ Galawiese grenzte. Sie verbrachten alle das Wochenende auf der Alm, weil beinahe zu jedem Hof auch ein Stück vom Berg gehörte. »Man könnt sagen, du hast inzwischen was dazugelernt«, feixte Gunsch. Zeit zu grüßen, dachte Lovis und ging zu den Männern hin. »Sagt einmal, ist überhaupt noch irgendwer im Dorf?« Karl zuckte mit den Schultern. »Ist eh nur heiß da...