Das unorthodoxe Leben des Leo Trepp
E-Book, Deutsch, 284 Seiten
ISBN: 978-3-8062-3832-7
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seine Autobiographie blieb unvollendet - und so trägt seine Frau, die Autorin Gunda Trepp, die Erinnerungen zusammen, ergänzt, kommentiert und erzählt mit Liebe und Wärme von diesem tief religiösen und doch so un-orthodoxen deutsch-jüdischen Leben.
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Inhalt
Vorwort von Johannes Gerster 7
Einleitung 11
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters 21
Ach, du wunderschöner Rhein 21
Kaiser, Krieg und Vaterland 32
Leben in zwei Kulturen 47
Vom Glück des Lernens 57
2. Kapitel: Mittendrin und außenvor 73
Ein klimperkleines Dorf mit Juden 73
Die Grenze ist geschlossen - und das Glück grenzenlos 84
Abschied von der Kindheit 91
Das Gerücht über die Juden 95
3. Kapitel: Studium im Sauseschritt 107
Orthodox? Liberal? Einheit in der Vielfalt 107
Wer ist schon Albert Einstein?
Außen Universität - Innen NSDAP 111
Ein Bruder in Nöten und ein SA-Mann mit Herz 120
Treueversprechen gegen die Nazis 126
Wer denkt denn da noch an Karriere? 132
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst 139
Mit den Augen der Anderen 139
Aufbauen, abwickeln und trösten - gleichzeitig 145
"Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck" 157
Eine Schule für die Juden 164
Hoffnung ist die Hoffnung ist die Hoffnung 170
"Der Kapitän verlässt das Schiff zuletzt" 176
Das Ende 185
5. Kapitel: Rückkehr 195
"Wo warst du in jener Zeit?" 195
Gestohlene Heimat 203
Neu und verwirrt - ein Deutscher in Amerika 212
Weichen für die Zukunft stellen 228
6. Kapitel: So ist es Mühe und Arbeit gewesen 241
Zwei Frauen und ein emanzipierter Rabbiner 241
"Ohne den Älteren wäre der Jüngere nicht da" 247
Der Gerechtigkeit sollst du nachjagen 259
Über das Abschiednehmen 271
Glossar 278
Bibliographie 282
Einleitung
Die Geschichte unseres Lebens beginnt lange vor unserer Geburt. Unsere Wurzeln reichen tief in unsere Vergangenheit. Von unseren Ahnen erhalten wir unsere geistigen und körperlichen Wesensformen, unsere Intelligenz und Körperkraft. Eltern und Verwandte geben uns unser Wesen durch Vorbild und Erziehung. Die Ströme der Vergangenheit verbinden sich in uns, aus ihnen schöpfend sind wir frei in der Wahl unseres Denkens und unserer Lebensgestaltung. Bestimmung und Freiheit gestalten unser Leben in einer Umwelt, die – sich ständig ändernd – uns zu immer neuen Antworten herausfordert. Auf drei Schauplätzen gestaltete sich die Vorgeschichte meines Lebens und die prägende Geschichte meiner Kindheits- und Jugendjahre. Fulda, Oberlauringen und Mainz. Das sind die Worte, mit denen Rabbiner Leo Trepp z’l seine Lebenserinnerungen begonnen hat. Allerdings wendete er sich dann zügig dem Erzählen zu und bemerkte: „Gute Einleitungen schreibt man am Schluss.“ Doch er selbst hat seine Autobiographie nicht mehr beendet. Am zweiten September 2010, dem 24. Tag im Monat Elul 5770 im jüdischen Kalender, ist mein Mann für immer eingeschlafen. Er hinterließ die fertig geschriebenen Seiten seiner Autobiographie, besprochene Tonträger und Hunderte von Aufzeichnungen, die er für Vorlesungen, Vorträge oder Bücher angefertigt hatte. Hinzu kommen mindestens ebenso viele Gespräche, viele von ihnen aufgenommen, in denen er aus seinem Leben erzählt, seine Philosophie erklärt und dem Hörer vor allem das Judentum in allen seinen Facetten und aller seiner Schönheit nahebringt. Wenn wir uns in den letzten Jahren unterhielten, habe ich Aussagen, die mir interessant erschienen, unmittelbar danach aufgeschrieben, und zwischendurch hat er mir immer wieder Epsioden erzählt, entweder auf Band oder mit der Bitte, sie für ihn aufzuschreiben. Material gab es also ausreichend. Wie hätte es auch anders sein können in einem 97-jährigen Leben, das geprägt war vom Ersten Weltkrieg, den Hoffnungen der Weimarer Republik, von der Wirtschaftskrise und schließlich der Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden? Er berichtet von seiner Zeit als junger Landesrabbiner in Oldenburg, einem Landkreis, in dem die Bürger schon vor der Machtergreifung der Nazis eine nationalsozialistische Regierung wählten, und von seinen Versuchen, eine Gemeinschaft zu erhalten, die spätestens in der Nacht des 9. November 1938 die letzte Hoffnung verlor. Und er spricht von seiner Zeit im Konzentrationslager, von der er später sagen wird, „danach war alles Streben, alle Hoffnung dahin.“ Und doch wollte er nicht die Erinnerungen eines Überlebenden schreiben, oder besser: Er wollte nicht nur die Erinnerungen eines Überlebenden schreiben. Er erinnert sich an seine Familie, Freunde, Nachbarn, die, einer anderen Religion als die Mehrheit angehörend, vor allem Deutsche waren. Er erzählt von unterfränkischen Viehhändlern, die am Schabbat von der Synagoge aus ins Wirtshaus gingen, ihr Bier tranken, sich auf dem Marktplatz rangelten, um sich dann die Kleider abzustauben und zum Nachmittagsgebet zurück in die Synagoge zu gehen. Von tief frommen Männern in Mainz, die nach dem Gottesdienst in die Oper eilten oder ins Konzert. Er erzählt vom Gemeindemitglied Isidor Reiling, der in Mainz begraben ist, und dessen Tochter, Anna Seghers, eine bedeutende Rolle in der Exilliteratur spielen sollte, von dem Onkel von Henry Kissinger, mit dem er begann, die Tora zu lernen, als er sechs war. Und immer wieder erzählt er von seinem Vater, der die Wurzeln für viele seiner Überzeugungen legte und wohl den bedeutendsten Einfluss darauf hatte, dass mein Mann zu dem tief religiösen, liberalen und menschenliebenden Denker und Lehrer wurde, der er war. Als Philosoph, als Lehrer und als Autor hat sich Leo Trepp mit unterschiedlichsten Fragen auseinandergesetzt, die für das deutsche Judentum und die jüdische Religion von Bedeutung waren. Auf Papier und in Gesprächen reflektiert er, wie sich seine orthodoxe Haltung über die Jahre veränderte und was Orthodoxie im Vorkriegsdeutschland bedeutete. Er spricht von Rabbinern und Freunden, die ihn inspiriert haben und die er inspiriert hat, obgleich und weil sie aus verschiedenen Richtungen kamen. Von dem orthodoxen und dem liberalen Rabbiner in Mainz, die sich respektierten und sich in ihrer Arbeit gegenseitig befruchteten. Von Abraham Heschel, der später viele Gedanken eines offenen, pluralistischen Judentums in die Vereinigten Staaten trug und dort ein enger Freund Martin Luther Kings wurde. Oder von Mordecai Kaplan, dem Begründer des Rekonstruktionismus, einer Strömung, die wie Leo Trepp das Judentum in einer ständigen Weiterentwicklung sieht. Er beschreibt eine Welt, deren intellektuelle Fülle und Freiheit heute kaum noch vorstellbar sind. Oft jedoch sind seine Aufzeichnungen geprägt von einer Grundtrauer, von einer Stimmung der Vergeblichkeit, in der Erinnerung an schöne Momente schon um das Ende wissend. Um den Tod der Menschen wissend, die er geliebt hat, und um den Untergang des reichen deutschen Judentums. Der Gedanke an die Auslöschung seiner Familie und so vieler anderer Juden hat ihn nie verlassen. Die hebräische Inschrift für seinen Grabstein hat er selbst geschrieben. Sie beginnt mit dem Satz: „Hier ruht unser Lehrer und Rabbiner Jehuda, Sohn von Maier und Zipora Trepp, ein gerettetes Holzscheit vom Feuer.“ Er kam mit „Klimpergeld in der Tasche“, wie er es nannte, in den Vereinigten Staaten an, begann, in Harvard noch einmal zu studieren und als Rabbiner und bald als Professor und Autor zu arbeiten und ein neues Leben aufzubauen in dem Land, dem er bis zuletzt tief dankbar war. Sein Glaube an Gott blieb unerschüttert. Wie er selbst erzählen wird, waren sein Vertrauen in Gott und die Unverbrüchlichkeit dieses Vertrauens eine Notwendigkeit für ihn. Daraus hat er die Kraft für sein Leben geschöpft. Und nach der Flucht bald die Kraft, nach Deutschland zurückzukehren, in „seine gestohlene Heimat“, wie er es nannte. Nicht, um anzuklagen, sondern um die junge Generation zu lehren, was sie dem Geschehenen und der Zukunft schulde. Die Schoah war für ihn die Kulmination eines stets vorhandenen Antisemitismus, der sich in Nuancen änderte, doch dessen Antrieb und Grundlage über die Jahrhunderte gleich blieben: ein irrationaler Judenhass, den zu beeinflussen die Juden selbst außerstande waren. Doch wenn er auch überzeugt war, dass die Schoah und deren Opfer nicht vergessen werden dürften, richtete sich diese Mahnung immer an die nichtjüdische Seite. Nie anklagend, sondern im Gegenteil darauf hinweisend, dass die nichtjüdischen Deutschen der neuen Generation den Worten der Tora nach keine Schuld trügen, doch sie verpflichtet seien, die Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Dazu gehörte für ihn auch, etwas über das Judentum zu lernen. Deutsche sollen wissen, wer die Juden sind und was ihre Religion und Kultur repräsentieren. Darum vor allem lehrte er in Deutschland, hielt dort Vorträge und schrieb Bücher zum Judentum auf deutsch. Wenn überhaupt, so konnte aus seiner Sicht nur Wissen vor neuen Vorurteilen schützen. Jüdische Hörer und Leser, so war er überzeugt, würden nie aufgefordert werden müssen, das Geschehene zu erinnern. „Kein Jude wird die Schoah je vergessen“, sagte er einmal in einem Vortrag. Im Gegenteil war er besorgt, dass manche das Judentum so stark mit der Ermordung der Juden verbanden, dass die Schoah zu einem tragenden Element für ihr Jüdischsein werden könnte. Für ihn dagegen war die einzig mögliche Reaktion der Juden auf die Verbrechen, die jüdische Gemeinschaft zu festigen und zu stärken. Die Verfolgung der Juden und die Erinnerung daran wurden so für ihn in erster Linie zur Mahnung, den lebenden Juden ihr Jüdischsein bewusster zu machen, sie zu unterrichten, sie zu lehren, durch das Judentum ein volleres und erfüllteres Leben zu gestalten, für sich und für andere. Wenngleich diese Gedanken seine tiefen religiösen Überzeugungen ausdrücken, haben sie ihm auch geholfen, das Geschehene zu verarbeiten, oder genauer: auszuhalten, es nicht verarbeiten zu können. Einmal habe ich ihn gefragt, ob er je um seine Mutter geweint habe, die, zusammen mit ihrer Schwester, im Ghetto Lublin ermordet wurde. „Ich kann es nicht“, antwortete er, „wenn ich einmal beginnen würde, könnte ich nicht mehr aufhören.“ Doch in den letzten Jahren bedrängten ihn die Erinnerungen an diese Zeit immer stärker. Was sollte ich tun mit diesem Material? Mit der Geschichte eines deutschen Juden? Eines Rabbiners, der unter den Nationalsozialisten amtiert? Eines Amerikaners, den der Verlust der Heimat bis zuletzt schmerzt? Eines Philosophen, der in seinen Schriften und Vorlesungen ausführt, dass Judentum jeden einzelnen Juden verpflichtet? Mir war schnell klar, dass ich nicht nur die Verantwortung, sondern die Verpflichtung trug, dieses Werk zu beenden. Kann ich wirklich sagen ‚beenden’? Natürlich nicht, denn ich weiß nicht, welche Papiere mein Mann gewählt hätte, wie er seine Erzählungen angeordnet hätte. Es konnte keine Autobiographie mehr werden. Doch es konnte immer noch eine...