Medienkombination, Deutsch, 305 Seiten, gebunden, Format (B × H): 130 mm x 193 mm, Gewicht: 380 g
Die schweren Körper von Simone Weil und Jean Améry
Medienkombination, Deutsch, 305 Seiten, gebunden, Format (B × H): 130 mm x 193 mm, Gewicht: 380 g
ISBN: 978-3-9501814-3-2
Verlag: Achinoam Verlag
Zielgruppe
Studierende der Philosophie, Theologie und Judaistik; Interessierte an Shoa
Autoren/Hrsg.
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INHALT
7 Vorwort
11 Zwei dünne, schwere Körper
22 Platons bleigewichtiger Leib und federleichte Seele
46 Simone Weil
49 Sklavenhaltung, Machtkritik, Selbstbegrenzung als Solidarität
65 Der schwere Körper der Arbeit
94 Gottes Ohnmacht
124 Dürrer Feigenbaum
138 Platons Auferstehung im abgemagerten Menschen
159 Resignation und Tod
192 Jean Améry
197 Et verbum caro factum est: Auschwitz
221 Rückkehr, Hunger, „Autodemolition“
229 Altersidyll, Körperverfall, Todesvirus
240 Échec und „Urkontradiktion“
246 Die letzte Rebellion an der Schwelle
270 Schlusswort
290 Personenregister
293 Literaturliste
Zwei dünne, schwere Körper
Zwei Menschen zur gleichen Zeit, in ähnlichem Lebensalter, jüdisches Leben im Hintergrund und doppelt entfremdet – dem eigenen Herkommen und der Welt, in der sie leben mussten –, dem Französischen verbunden, durch Herkunft oder durch Widerwillen dem Deutschen gegenüber: Simone Weil und Jean Améry, der seinen herkommenden Namen Hans Maier frankisierte, um hinter sich zu lassen, was ihn in den Abgrund getrieben hatte.
Simone Weil wurde 24. August 1909 in Paris geboren, Jean Améry 31. Oktober 1912 in Wien, zwei Städte, denen ihre Herrscher eine architektonische Pracht gegeben haben, die bis heute die Stadtkerne einander ähnlich sein lässt. Diesen beiden Menschen wurden die 1930er und 1940er Jahre zu physischen Tragödien. Obwohl von dünner Gestalt, fühlten sie die Schwere ihrer Leiber in entscheidenden Augenblicken. Was diesen Leibern widerfuhr, machte sie zu Körpern, zu unhäuslichen Organismen, in denen Qual, Schmerz, Atemnot, Sterben sich ausbreiteten.
Um diese beiden dünnen Menschen geht es hier. Hunger kannten sie, die Reduktion auf den Magen, der begehrt und aufbegehrt; Sklaventum kannten sie, die Entmenschung zum unterworfenen Material, das ausgepresst wird in Fabriken und Lagern. Im Sommer 1943 verhungerte Simone Weil in England, einen Monat nachdem Jean Amérys Lebenshunger in einem Folterkeller in Belgien zersplitterte. Als Weil tot war, begann für Améry die Zeit in Todeslagern, in den berüchtigtsten, die die Nationalsozialisten erbaut hatten: Bergen-Belsen, Auschwitz. Auschwitznummer 172364 am Unterarm. Am Überlebenden hingen die von irgendwoher zusammengekommenen Kleider wie an einem Gerippe formlos herab. Ausgestoßen und langsam zur Shoa-Ware gemacht, erlebt er den langsamen Verfall seines ohnedem schmalen Körpers als einen Schrecken, der eine Kapitulation aufzwingt oder das letzte „schmetternde Nein“, widersinnig zwar wie jene, aber wenigstens noch ein Akt der Verneinung, die dem passiven Geschick sich nicht ergibt.
Was beide dachten, ist in manchmal unheimlichem Sinn weit gespannt und abgründig; was überall aber durchdringt, weist, selbst wenn es platonisch gekreuzt wird wie oftmals bei Simone Weil, ans Physische und organisch Faktische, das sich in beider Denken einträgt. Wo Erlebtes, Erlittenes, Widerfahrenes von beiden bedacht wird, taucht das sonst im hohen Denkgeist fast ausgemerzte Physische und Körperliche auf, unterdrückt, rebellisch, verfallend, schrecklich, hungernd, in leerer, lang schon enttäuschter Sehnsucht.
So kommen in dieser kleinen Schrift hauptsächlich die Arbeiten in Betracht, in denen Simone Weil und Jean Améry von Erfahrenem her nachgedacht und sich nicht in dialektischen Künsten verloren haben, die in anämischer Transzendentalität oder Existentialität den Geist zum Spieler und den Körper zum Ignotum gemacht haben seit Platons Tagen. Simone Weils Cahiers, v. a. ihre Aufzeichnungen aus den letzten zweieinhalb Jahren ihres Lebens, werden ebenso zentral wie Jean Amérys Essays Über das Altern, Hand an sich legen und sein Aufsatz Die Tortur. In diesen Schriften liegen zugleich schwergewichtige religiöse und theologische Fragen, körperhafter und massiver, als zu erwarten ist. Daher sei hier sogleich ausgeschlossen, dass es um eine heute durchaus modische Revitalisierung des Körpers ginge, der etwa liturgisch wiederentdeckt wird; es geht auch nicht um das schöne Haus des Geistes Gottes, das der Mensch sein soll (1 Kor 3,16), sondern um die einzige Wirklichkeit des Menschen, in der er seit jeher stellig gemacht wird, vor allem durch betäubende Schmerzen, Notdurft, Versagung und schließlich, wenn es hinreicht an Jahren, durch den Schrecken, der langsam in die Knochen zieht und zu oft den Schmerz zum Synonym des Alterns macht. Im Schatten malträtierter Körper, wie sie Simone Weil und Jean Améry sind, verdunkeln sich die schneidigen Theodizeeversuche, die christlichen und christologischen vor allem, die ihre Abstraktheiten so lange zurüsten, bis sie vom Leiblichen nicht mehr angefallen werden können. Wo solches Körperleiden in die Nähe rückt, wie Simone Weil und Jean Améry es erlebt und bedacht haben, lässt sich systematisch nichts mehr entwickeln, was nicht denen zuarbeitet, die solches verursacht haben. Im Schatten derselben Körper wird auch die Beschwörung des Himmels im Schrei, den ausstößt, wer von solchem Leiden gar nichts ahnt, zu einer Farce, die die Frommen und die Gedankenspieler über das Faktische hinwegträgt und täuscht zugleich: Kein Gott hat je vom Himmel her Einhalt geboten, wenn Menschen übereinander herfielen; damit blieb der Mensch immer noch allein vor solcher Transzendenz. Darum stacheln solche Körper wie die Simone Weils und Jean Amérys weniger irgendetwas Religiöses an, sondern ziehen das religiös Gewohnte unter schweren Verdacht, von dem der billigste und einfachste der ist, dass jenes nichts (mehr) besagt. Was Simone Weil und Jean Améry anfeuern, sind rebellische Neinsage zu dem, was gegen die Leiber der Menschen läuft, und religiöser Protest gegen religiöse Chimären, die durch das trösten, was an Erfindungen und Spiegelwelten kontrafaktisch, d. h. kontrasomatisch behauptet wird. Darum wird an diesen Stellen auch eine fundamentale und fundamentaltheologische Läuterung und Umkehr wenigstens anzudeuten sein, nicht auf der Flugbahn einer distanzierten Reflexion, in der sich gut kohärente Begriffe gegeneinander abstützen können, um einem Widersinn zu trotzen, von dem sie in Wirklichkeit gar nicht angerührt sind, sondern im Modus einer subjektiven oder subjektbezogenen Begegnung, die stärker ist als das, was von ihr gefasst werden kann und worüber doch zu handeln ist. Und wenn man damit gedanklich auch erliegt und zugrunde geht – was bedeutet das schon? Immer noch ist es biblisch aufrichtiger, mit den Untergehenden unterzugehen (vgl. 1 Kor 9,19-23) als sich mit idealistischen oder ästhetischen Systemen zu panzern und den Schrecken im Denken nur noch als rhetorische Phrase aufzuheben.
In aller Nähe zwischen Simone Weil und Jean Améry klafft doch ein grundlegender Hiatus auf: Simone Weil ließ von Religion niemals ab und modellierte ihre Schau von Christentum, indem sie dieses mit einigen Motiven asiatischer, v. a. indischer Religiosität, überwiegend jedoch mit platonischer Relécture verband; gleichzeitig setzte sie das, was sie vom Christentum sich aneignete, von einem Judentum ab, dessen Lesart sie in die Nähe des frühen Gnostizismus des 2. und 3. Jhdt. n. C. führte. In solcher Nähe, so peripher sie sich eingestellt haben mag und so wenig sie durchgängig ansichtig bleibt, liegt höchst Bedeutsames: Denn diesen Gnostizismus verband Simone Weil mit einem platonisch gelesenen Christentum, in dem die Inkarnation ein Vorübergehendes wird, durch das Gott sich allen Übeln menschlichen Dasein verbindet, um diese durch deren Vernichtung und durch den Tod endgültig zu verlassen.
An so etwas rührte Jean Améry nie. Ihm war radikaler Agnostizismus eigen, vor und nach der Shoa, der in einen überzeugten Atheismus sich übersetzte, je kürzer seine Lebensfristen wurden. Vom Platonismus wurde er so wenig gestreift wie vom Idealismus Hegels, eher von einer spezifischen Form positivistischer Aufklärung, in der moralischer Zorn Movens von Vernunft wurde, die aufs Faktische sich richtete. Damit lag er gedanklich von Simone Weil so weit als möglich entfernt.
Daher sind die phänomenhaften Ähnlichkeiten der mageren Körper und des Zu-Tode-Kommens durch sich selbst jeweils unterschiedlich angestiftet und vollendet. Die folgende These wird aus diesen Umrissen abgeleitet und in ihren wesentlichen Etappen dann entfaltet:
Simone Weils Leben gegen den Körper und ihr physisch-faktischer Ausstieg aus dem Leben spiegeln einen schroffen asketischen Gnostizismus, der in seiner Abwärtsbewegung, in der langsamen Aushungerung und Vernichtung des Leibes das individualisiert, was bei Valentinus das fallende Absolute mittels der Sophia und des Pleroma vollzieht: Ausstieg aus dem Materialen als dem Unbändigen und Bösen. Simone Weil erfährt, was jedem zur Erfahrung wird: Am Körper wird der Mensch stellig und haftbar; solange dem Körper gegeben wird, was er zum Leben braucht, ist Entkommen unmöglich. Erlösung geschieht ihr im Geleit des Platon-Christus, also einer platonisch transformierten Christusfigur, die es nie gegeben hat und die mit Israel auch nichts mehr zu tun hat. Daher vernichtet dieser Platon-Christus seinen Körper (der jüdisch war ), steigt geistig aus dem Körperende hoch und wird zum Urbild und zur Grundbewegung des Erlösungsweges Simone Weils. Dem Körper zu entfliehen, ist Prinzip solcher Erlösung. – Genau diese missliche, tragische Körpererfahrung, jedoch ganz ungetröstet durch den Platon-Christus, ist auch die Basis der materialistisch-agnostischen Grunderfahrung Jean Amérys: Der physische Echéc, der physische Schrecken, der in die Resignation zwingt, bohrt sich in den Körper des Menschen und bricht in ihn ein, bei Jean Améry gesteigert durch die Folter, die seinem Körper unvergesslich geblieben ist und beigebracht hat: Kein Entkommen des physisch Haftbaren ist möglich und real außer in radikaler Verneinung eben dieses Physischen als des einzig Realen; diese ließ ihn nicht verhungern, sondern abspringen in ein Ignotum, in dem auch er zum Ignotum wurde: eine weithin unbekannte, durch ein paar Zitate oder Schlagworte da und dort vielleicht noch präsente, aber missverstandene Randnotiz aus dem 20. Jhdt., die wegen ihrer Radikalität dumpfen Schrecken hinterlassen hat und sich wie ein Person gewordenes Tabu ausnimmt.
Randnotizen sind beide geblieben, Simone Weil und Jean Améry. Mit ihren offenen Stilen in Denken, Leben und Schreiben nicht einzuordnen, fallen sie durch alle Schemata der Wissenschaften, der Kultur und des Religiösen durch und verlieren sich langsam in der Vergesslichkeit, die jedes dieser Ordnungsschemata von selbst erzeugt.
Simone Weil und Jean Améry entsprechend soll auch hier sprachlich und sachlich offen verfahren werden. Formal aber soll diese kleine Schrift übersichtlich sein. Daher wird den beiden Teilen über Simone Weil und Jean Améry eine knappe Skizze vorangestellt über einige Grundzüge von Platons Leiberfahrung und ihren Folgen, soweit sie für Simone Weil und Jean Améry bedeutsam sind: für Simone Weils Einwilligung in den Erlösungsbotschafter Platon-Christus und für Jean Amérys fundamentale Verweigerung alles dessen, was geistige Trostbilder für die physische Misere bereithält.