Traxler | Die Nacht, in der Kasimir Malewitsch das Schwarze Quadrat klaute... | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 128 Seiten

Traxler Die Nacht, in der Kasimir Malewitsch das Schwarze Quadrat klaute...

Acht Kunstgeschichten
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95614-504-9
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Acht Kunstgeschichten

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

ISBN: 978-3-95614-504-9
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Hans Traxler ist ein Meister der komischen Kunst und ein großer Erzähler, der in diesen acht Kunstgeschichten den Kulturbetrieb auf höchst vergnügliche Weise beleuchtet.

Hätte Kasimir Malewitsch sein legendäres Schwarzes Quadrat geschaffen ohne diese heute vollkommen vergessene Gruppe anarchistischer Malschülerinnen an der Kaiserlichen Akademie zu St. Petersburg? Wäre Piet Mondrian zu solchem Ruhm gekommen, hätte eine gute, aber etwas zerstreute Fee ihm nicht ein Kästchen in die Wiege gelegt mit einem Linealchen, einem rechten Winkel, einem Bleistift, vier Pinseln und vier Fläschchen mit den Farben Rot, Blau, Gelb und Schwarz? Und was ist mit dem kunstinteressierten Mann, der anlässlich einer Retrospektive von Niki de Saint Phalle eine Nacht in einer riesenhaften Nana verbringt und danach von einer fleischgewordenen Nana durch halb Europa verfolgt wird? Ist jeder Mensch ein Künstler (Beuys) oder wird jeder Mensch in Zukunft für eine Viertelstunde berühmt sein (Warhol)? Das darf man nach der Lektüre dieser herrlichen Satiren getrost bezweifeln.

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WIEN 1907
An einem trüben Septembertag, Schlag elf Uhr vormittags, überquert ein junger Mann den Schillerplatz im 1. Bezirk. Er sieht aus, als ob er die Nacht auf einer Parkbank verbracht hätte. Seine Hosenaufschläge sind zerfranst und sein Blick ist fiebrig. Er wirkt gehetzt. Unter dem Arm trägt er eine abgestoßene, mit marmoriertem Velin bezogene Mappe, darin ein Konvolut von zwanzig Zeichnungen auf billigem Papier. Er nähert sich dem Portal der Kunstakademie, einem imperialen Prachtbau des Ringstraßen-Architekten Theophil Hansen. Dort zögert er einen Moment, dann strafft er seine schmächtige Gestalt, als gebe er sich einen Befehl, und steigt entschlossen die Freitreppe hoch. Er durchquert die Eingangshalle, über sich die Deckenfresken des von ihm hochverehrten Romantikers Anselm Feuerbach. Jetzt steht er vor der hohen Tür der Aula, hinter der das Professorenkomitee auf ihn wartet, das über seine Aufnahme in die Akademie entscheiden wird. In Kopfhöhe hängt an einem Messingkettchen ein Schild mit der Aufschrift: »Bitte hier warten, nicht klopfen.« Der junge Mann ist nicht zum ersten Mal hier. Vor einem Jahr stand er schon einmal vor dieser Tür. Ihm läuft eine Gänsehaut über den Rücken, wenn er daran denkt. Es war so peinlich. Nicht einmal zur praktischen Prüfung hatte man ihn zugelassen, dem Zeichnen in der Klausur nach einem vorgegebenen Thema. Einen Postkartenmaler hat ihn einer der Prüfer genannt, und wenn er ehrlich wäre, müsste er zugeben, dass er genau das ist. Im Männerwohnheim in der Brigittenau, wo er in einer Kabine haust, hält er sich seit seiner Flucht aus Linz mit dem Abmalen von Postkartenmotiven über Wasser: Hofburg, Karlskirche, Stephansdom, Schottenkirche, Prater, Schönbrunn, Gänseliesel. Er malt diese Bildchen keineswegs nach der Natur, das kann er nicht. Vielmehr zeichnet er die Ansichten aus einem alten Buch ab. Dem jungen Mann fehlt eine Grundvoraussetzung, die für jeden gilt, der ein Bauwerk oder eine Straßenansicht wiedergeben will: die Fähigkeit, dreidimensional zu zeichnen. Seine Fluchtlinien sind eine Katastrophe, Auf- und Untersicht setzt er nach Belieben. Als ihn sein Zimmergenosse Hanisch darauf aufmerksam macht, bekommt er einen Tobsuchtsanfall. Schaum tritt vor seinen Mund, er fängt an zu schreien, zerreißt den Zeichenblock, wirft ihn auf den Boden und trampelt darauf herum. Von da an hat er nie wieder versucht, nach der Natur zu zeichnen oder zu malen. Dreißig Jahre später, als er längst berühmt ist, werden sich die Sammler um diese Elaborate reißen, bis zu 10.000 Reichsmark werden dafür geboten. Jetzt bekommt er pro Blatt drei oder vier Kronen, und die muss er sich mit seinem Freund Hanisch teilen, der die billige Ware in den Beisln und Kaffeehäusern anbietet, von Tisch zu Tisch gehend wie die Blumenfrauen. Wenn Hanisch spät am Abend mit den unverkauften Blättern zurückkommt, fällt das Nachtmahl aus, wie letzten Abend und den Abend davor. Es fällt ziemlich häufig aus. Diesmal soll alles anders werden. Es ist seine letzte Chance, eine dritte wird es nicht geben. Auf diesen alles entscheidenden Tag hat er sich das ganze Jahr über intensiv vorbereitet. Er will jetzt Bühnenbildner werden. Mehrmals in der Woche, sobald er eine Krone übrig hat, läuft er zur Staatsoper, stellt sich stundenlang in die Warteschlange für die billigen Plätze und hält dann weitere fünf Stunden im Stehparkett die Wagner-Opern durch. Parsifal, Lohengrin, die Meistersinger, den ganzen Ring. Den Tristan hat er, nach eigenem Bekunden, vierzig Mal gesehen. Sein neues Idol ist Alfred Roller, der berühmte Bühnenbildner, zuständig für die Ausstattung der Wagner-Opern, die der noch berühmtere kaiserliche Hofoperndirektor Gustav Mahler dirigiert. Es ist das weltweit Beste, was die Oper in Sachen Richard Wagner in dieser Zeit zu bieten hat. Das Professorenkollegium der Wiener Kunstakademie ist das prestigeträchtigste der ganzen K.-u.-k.-Monarchie. Jeder Einzelne der Prüfer ist eine Legende. Ritter von Pröll, dessen »Tod des Tambours«, eine Begebenheit aus der Schlacht von Solferino, jedes österreichische Schulkind kennt, Hirschbiegel, der die Klasse für Monumentalmalerei leitet und nebenbei die halbe Ringstraße mit riesigen Wandbildern beliefert, Svoboda, der bedeutende Genremaler und Liebling des kaiserlichen Hofes, Wokalek, der Plastische Anatomie lehrt, Waldbauer, der bereits alle Erzherzöge samt ihren Familien in Lebensgröße porträtiert hat, Prokosch, der gefürchtete Leiter der Aktklasse, und die anderen Granden: von Rossmeisl, Hawelka, Tobolski, Kolinski, Sabitzer, Cibulski und nicht zuletzt der alte Professor Sedlatschek, Doyen der Bühnenmaler. Dem Freund, der ihn zur Akademie begleitet hat, hat er geschworen: Sollten diese senilen Trottel wieder nichts begreifen und ihn durchfallen lassen, dann würde etwas ganz Furchtbares geschehen. Dann wäre ihm schon alles gleich, ALLES, verstehst du, schreit er und fängt an, wild zu gestikulieren. Dann würde er aufräumen, ausmerzen, durchgreifen! Oh-ne Gna-de und Barm-her-zig-keit! Alles in Schutt und Asche legen! Sein Schlafgenosse kennt diese Anfälle, und er weiß, wie er damit umgehen muss. Bloß nicht widersprechen, dann wird er sich schon wieder beruhigen. Nun wartet der Prüfling seit einer halben Stunde vor der Tür zur Aula, hinter der es verdächtig ruhig ist. Nur ab und zu ein unterdrücktes Schluchzen, gefolgt von einem begütigenden Murmeln. Dann schwingt die Tür auf. Eine junge Frau im grauen Malerkittel stürzt heraus, mit geröteten Augen und Haaren, die wirr um ihren Kopf herumstehen, und stolpert die Treppe hinunter. Eine weniger, denkt er. Malweiber! Er hat sie schon immer verachtet. Wenn er etwas zu sagen hätte … Dann tritt er vor den Richtertisch, wo jetzt gleich über sein Leben entschieden wird. Genau in diesem Augenblick, da er in die Augen dieser Halbgötter sieht, diese Monumente der klassisch-akademischen Malerei, die er selber ja so sehr verehrt, bricht seine Fassade zusammen. Seine Knie werden weich, er spürt eine Feuchtigkeit am linken Bein entlangrieseln, die Zeichenmappe rutscht ihm aus den Fingern und die Blätter fallen zu Boden. Er bückt sich, kriecht auf den Knien hin und her und sammelt sie mit fliegenden, verschwitzten Händen ein, während die Juroren ihm wortlos, aber mit wachsender Ungeduld zusehen. Eigentlich sollten sie ja längst im Café Bräunerhof sitzen, bei einem kleinen Gulasch, frisch gemacht, mit Nockerln und einem Iglauer Bier vom Fass. Ihr Hunger macht sie doppelt missmutig. Schließlich hält es den Historienmaler Professor Sabitzer nicht länger. »Warum sind’s denn so nervös? Sie brauchen doch net so nervös zu sein! Man wird Sie schon nicht fressen!«, raunzt er den Prüfling an. Dann greift der Professor Prokosch ein. Er sucht den Blick des Saaldieners Joseph und nickt ihm zu. Der führt den Prüfling hinaus vor die Tür und zu den Toiletten, wo für derartige Zwischenfälle neue Unterwäsche bereitliegt. Dann kehrt er in die Aula zurück, sammelt die Zeichnungen ein und verteilt sie auf dem Richtertisch. Die Professoren schieben die Blätter hin und her, ab und zu wird eines herausgegriffen und nahe an die Augen geführt. Der Monumentalmaler Hirschbiegel hat’s als Erster gemerkt: »Das sind ja alles Bühnenbilder! Wieso sind denn das alles Bühnenbilder?« Bühnenausstatter stehen in der kaiserlichen Akademie der bildenden Künste in keinem hohen Ansehen. Eigentlich gehören die ja gar nicht hierher, diese Gebrauchskünstler. Die gehören in die Kunstgewerbeschule. Und so führen sie ein Schattendasein, mit wenigen Studenten, unter der Anleitung des alten Professors Sedlatschek, der schon nicht mehr ganz bei sich ist und der Pensionierung entgegendämmert. »Wo ist denn überhaupt der Sedlatschek?«, ruft der Schlachtenmaler Ritter von Pröll. »Wo steckt er denn wieder?« Allgemeine Ratlosigkeit. Keiner hat den Sedlatschek gesehen. Höchst fatal, die Sache, aber ohne den alten Bühnenmaler ist das Gremium nicht beschlussfähig. Der alte Joseph wird auf die Suche geschickt, während die Juroren sich mit knurrenden Mägen in ihre Ateliers zurückziehen. Professor Sedlatschek, der in letzter Zeit des Öfteren Anzeichen von Geistesabwesenheit gezeigt hat, ist in der Tramway unterwegs. Statt in der Mariahilfer Straße umzusteigen, ist er weiter und immer weiter...


Hans Traxler wurde 1929 in Herrlich, einem Ort in Nordböhmen, geboren und ist als Cartoonist, Illustrator und Autor tätig. Er war langjähriger Mitarbeiter der Satirezeitschriften Pardon und Titanic, die er mitbegründete. Traxlers Arbeiten erschienen außerdem im ZEIT Magazin sowie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung. Für sein Lebenswerk wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2015 mit dem Wilhelm-Busch-Preis und zuletzt mit dem Prix Livrentête 2021.



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