oder Der liebevolle Jägersmann
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-908778-79-0
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
geboren 1893. Ihr Debütroman Lolly Willowes erschien 1926 mit großem Erfolg. Schon 1927 veröffentlichte sie ihren zweiten Roman, Mr. Fortune's Maggot. Im Laufe ihrer langjährigen Karriere als Schriftstellerin schrieb sie für den New Yorker und veröffentlichte zahlreiche Werke. Ab 1930 lebte sie mit ihrer Partnerin Valentine Ackland zusammen, war zeitweise Mitglied der Kommunistischen Partei und unterstützte das Rote Kreuz während des Spanischen Bürgerkriegs. Sie starb am 1. Mai 1978.
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Teil 1 Als ihr Vater starb, zog Laura Willowes nach London zu ihrem älteren Bruder und seiner Familie. »Natürlich wirst du«, sagte Caroline, »bei uns wohnen.« »Aber das bringt all eure Pläne durcheinander. Es macht doch solche Umstände. Bist du sicher, dass ihr mich haben wollt?« »Aber, Liebste, ja.« Caroline sprach voll Zuneigung, aber in Gedanken war sie woanders. Sie war bereits nach London zurückgekehrt, um ein Federbett für das kleine Gästezimmer zu kaufen. Wenn man den Waschtisch zur Tür hinrücken würde, wäre dann neben dem Kamin noch Platz für den Schreibtisch? Vielleicht wäre auch eine Kommode der zusätzlichen Schubladen wegen günstiger? Ja, das war’s. Lolly konnte den kleinen Sekretär aus Walnussholz mit den falschen Griffen auf der einen Seite und mit dem Deckel, der aufsprang, wenn man die Feder neben dem Tintenfass berührte, mitbringen. Er hatte Lollys Mutter gehört, und Lolly hatte ihn immer benutzt, weshalb Sibyl keine Einwände erheben konnte. Sibyl hatte eigentlich überhaupt keinen Anspruch auf ihn. Sie war erst seit zwei Jahren mit James verheiratet, und falls der Sekretär auf der Tapete im Damenzimmer Ränder hinterlassen sollte, so konnte sie doch leicht ein anderes Möbelstück davorstellen. Ein Gestell mit Farnen und anderen Topfpflanzen würde sich dort gut machen. Lolly hatte ein sanftes Wesen, und die kleinen Mädchen liebten sie – sie würde sich bald in ihrem neuen Zuhause einleben. Das große Gästezimmer konnten sie Lolly nicht geben, und das kleine Zimmer war das praktischere von beiden für gewöhnlichen Besuch. Es schien übertrieben, ein Paar großer Leintücher für einen einzigen Gast zu waschen, der nur wenige Nächte blieb. Aber so war es nun einmal, und Henry hatte recht – Lolly sollte zu ihnen ziehen, London würde eine schöne Abwechslung für sie sein. Sie würde nette Menschen kennenlernen, und ihre Chance zu heiraten wäre in London größer. Lolly war achtundzwanzig. Sie würde sich beeilen müssen, wenn sie noch einen Mann finden wollte, bevor sie dreißig war. Arme Lolly! Schwarz stand ihr überhaupt nicht. Sie sah fahl aus, und ihre blassen grauen Augen waren noch blasser und auffallender als sonst unter diesem völlig unkleidsamen, schwarzen Pilzhut. Trauerkleider sahen nie vorteilhaft aus, wenn man sie in der Provinz kaufte. Während Caroline diese Gedanken durch den Kopf gingen, dachte Laura an gar nichts. Sie hatte eine rote Geranie gepflückt und betupfte ihr linkes Handgelenk mit dem Saft der zerdrückten Blütenblätter. So hatte sie, als sie jünger war, ihre blassen Wangen gefärbt und sich dann über die Regentonne am Gewächshaus gebeugt, um zu schauen, wie sie aussah. Aber das Spiegelbild zeigte nur eine dunkle, verschwommene Lolly, sehr dunkel und sanft wie die Dame auf dem alten Heiligenbild, welches im Esszimmer hing und als der Leonardo bezeichnet wurde. »Die Mädchen werden sich sehr freuen«, sagte Caroline. Laura riss sich zusammen. Es war also alles entschieden, und sie würde in London mit Henry und Caroline, seiner Frau, und Fancy und Marion, seinen Töchtern, leben. Sie würde von nun an das hohe Haus in der Apsley Terrace bewohnen, wo sie bisher nur als Schwägerin vom Land zu Besuch gewesen war. Sie würde etwas Besonderes an der Hausfassade entdecken, sodass sie sicheren Schrittes davor würde anhalten können, ohne auf die Nummer oder den Türklopfer zu schauen. Drinnen würde sie ohne Zögern wissen, welche der braunen, polierten Türen wohin führte, und die Lage der Zisterne, die sie einst so sehr verwirrt hatte, als sie eines Nachts wach gelegen und versucht hatte, den Grundriss des Hauses zusammenzusetzen, würde ihr ziemlich gleichgültig werden. Sie würden im Hyde Park spazieren gehen und die Kinder auf ihren Ponys beobachten und die modisch aufgeputzten Damen die Rotten Row entlangreiten sehen, und sie würde mit der Kutsche ins Theater fahren. Das Londoner Leben war sehr abwechslungsreich und aufregend. Es gab viele Geschäfte, Umzüge der königlichen Familie und der Arbeitslosen, den goldenen Tunnel von Whiteleys und das Glitzern der Straßen bei Nacht. Sie dachte an die Straßenlaternen, die so unparteiisch, so unerschütterlich in ihren erhabenen Leuchtzirkeln schienen, und fühlte sich beschämt vor deren prüfendem Blick. Jede würde sie weitergeben, sie und ihren Schatten, wenn sie die unbekannten Straßen und Plätze beschritt – aber sie wären ihr ja dann vertraut –, und folgte damit geheimen Befehlen der Zukunft. Und bald würde sie die Laternen für so selbstverständlich halten, wie die anderen Londoner es taten. Aber in London würde es kein Gewächshaus mit schimmerndem Wasserbecken geben und keine Apfelkammer und keinen Gartenschuppen, erdig und warm, in dem Mohnblumen in Bündeln von der Decke hingen, keine Sonnenblumenkerne in einer Holzkiste und Zwiebeln in dicken Papiertüten und Stränge geteerter Schnur und Lavendel, der auf einem Tablett langsam trocknete. Sie musste das alles zurücklassen oder sich nur noch als Besucherin daran erfreuen, es sei denn, James und Sibyl wären wie Henry und Caroline der Meinung, dass sie natürlich bei ihnen wohnen müsse. Sibyl sagte: »Liebste Lolly! Du wirst also bei Henry und Caroline wohnen … Wir werden dich mehr vermissen, als ich sagen kann, aber natürlich willst du lieber nach London. Das gute alte London mit seinem malerischen Nebel und den interessanten Leuten und überhaupt. Ich beneide dich sehr. Aber du darfst Lady Place nicht ganz vergessen. Du musst uns häufig besuchen, damit Tito seine Tante nicht vergisst.« »Wirst du mich vermissen, Tito?«, fragte Laura und beugte sich hinab, um ihr Gesicht gegen sein stachliges Lätzchen und an seinen zarten, warmen Kopf zu lehnen. Tito umschloss ihren Finger mit seiner Hand. »Ich bin sicher, er wird deinen Ring vermissen, Lolly«, sagte Sibyl. »Du musst dir die restlichen Zähnchen an der schäbigen alten Koralle ausbeißen, wenn Tante Lolly geht, nicht wahr, mein Engel?« »Ich gebe ihm den Ring, wenn du meinst, dass er ihn wirklich vermissen wird, Sibyl.« Sibyls Augen leuchteten auf, aber sie sagte: »Oh nein, Lolly, das könnte ich nicht annehmen. Ach, es ist doch der Familienring.« Als Fancy Willowes herangewachsen und verheiratet war und ihren Mann im Krieg verloren und einen Lastwagen für das Vaterland gefahren und aus patriotischen Gründen wieder geheiratet hatte, sagte sie zu Owen Wolf-Saunders, ihrem zweiten Mann: »Wie wenig unternehmungslustig die Frauen früher waren! Nimm zum Beispiel Tante Lolly. Großvater hinterließ ihr fünfhundert Pfund im Jahr, und sie war beinahe dreißig, als er starb, und trotzdem fiel ihr nichts Besseres ein, als zu Mum und Dad zu ziehen und dort zu bleiben.« »Die Situation der alleinstehenden Frau war vor zwanzig Jahren noch ganz anders«, antwortete Mr. Wolf-Saunders. »Feme sole, weißt du, und feme covert und all der Quatsch.« Bereits 1902 gab es einige fortschrittliche Geister, die sich wunderten, warum Miss Willowes, der es ganz gut ging und die wahrscheinlich nicht mehr heiraten würde, sich nicht einen eigenen Hausstand einrichtete und etwas Künstlerisches oder Emanzipiertes anfing. Lauras Verwandten allerdings kam so etwas nicht in den Sinn. Kaum dass ihr Vater gestorben war, hielten sie es für selbstverständlich, dass sie ganz in dem Haushalt des einen oder anderen Bruders aufgehen würde. Und Laura, die sich vorkam wie ein Stück Familienbesitz, das im Testament vergessen worden war, war bereit, über sich verfügen zu lassen, wie es die anderen für das Beste hielten. Diese Ansicht war altmodisch, aber die Willowes waren eine konservative Familie und blieben ihren altmodischen Ansichten treu. Sie hielten der Vergangenheit aus Vorliebe, nicht aus Vorurteil die Treue. Sie schliefen in Betten und saßen auf Stühlen, deren Bequemlichkeit sie unmerklich dazu brachte, den gesunden Menschenverstand ihrer Vorfahren zu respektieren. Nachdem sie herausgefunden hatten, dass gut ausgewähltes Holz und gut ausgewählter Wein durch Lagern immer besser wurden, waren sie der Meinung, dass dasselbe Gesetz auch auf gut ausgewählte Gewohnheiten zuträfe. Mäßigung, gesittetes Reden, Muße und eine großzügige Schlichtheit waren Verhaltensregeln, die ihnen das Beispiel ihrer Vorfahren vorschrieben. Indem sie diese Richtlinien beachtet hatten, hatte kein Mitglied der Familie je große Bedeutung erlangt. Vielleicht war es nur Urgroßtante Salome gelungen, dem Ruhm etwas näher zu kommen. Die Familie war sehr stolz darauf, dass Urgroßtante Salomes Blätterteigpasteten von König George III. gelobt worden waren. Und Urgroßtante Salomes Gebetbuch, das die Messen für König Charles, den Märtyrer, und für die Wiedereinsetzung der königlichen Familie und für das Wohlergehen des Hauses Hannover – ein schönes Beispiel unparteiischer Pietät – enthielt, fand stets bei der Ehefrau des Familienoberhauptes Verwendung. Salome, wenngleich mit einem Domherrn aus Salisbury verheiratet, hatte ihre bestickten Glacéhandschuhe ausgezogen, ihre Ärmel hochgeschoben und war in die Küche gegangen, um für den Tisch seiner Majestät den Teig zu kneten, wobei ihre venezianischen Spitzenbänder in der mehligen Schüssel hingen. Sie war ein treuer Untertan, eine gläubige Kirchgängerin und eine gute Hausfrau, und die Willowes waren zu Recht stolz auf sie. Titus, ihr Vater, hatte eine Fahrt zu den Westindischen Inseln gemacht und von dort einen grünen Halsbandsittich mitgebracht, der erste seiner Art, der je in Dorset gesehen wurde. Der Sittich wurde Ratafee gerufen und lebte fünfzehn Jahre. Nach seinem Tod wurde er ausgestopft; und wie zu Lebzeiten...