Tillier / Binding | Mein Onkel Benjamin | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 315 Seiten

Tillier / Binding Mein Onkel Benjamin

E-Book, Deutsch, 315 Seiten

ISBN: 978-3-95980-009-9
Verlag: Reese Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Claude Tillier schildert in dem humoristisch satirischen Sittenroman aus der französischen Provinz die Abenteuer des ewig verschuldeten Dorfarztes Benjamin Rathery. Das Buch steht angesichts seiner beißenden Ironie und seines glänzenden Stils in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts einzig da und ist ein großes Lesevergnügen. 'Anstatt mich selber an die Mächtigen zu verkaufen, habe ich lieber jene, die es taten, bekriegt. Das bereue ich durchaus nicht. Es ist, glaube ich, noch er beste Weg, in Ehren ins Grab zu steigen. Wenn man sich sagen kann 'Der Unterdrücker fürchtet mich und der Unterdrückte hofft auf mich', so ist das der schönste Reichtum, für den ich alle anderen Reichtümer hingeben würde.' (Claude Tillier)
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ERSTES KAPITEL Was mein Onkel war
  Wahrhaftig, ich weiß nicht, warum der Mensch so am Leben hängt. Was findet er eigentlich so Angenehmes an dieser schmacklosen Folge von Tag und Nacht, Sommer und Winter? Immer derselbe Himmel, dieselbe Sonne; immer dieselben grünen Wiesen und dieselben gelben Felder; immer dieselben Thronreden, dieselben Gauner und dieselben Gimpel. Wenn Gott es nicht besser gekonnt hat, so ist er ein trauriger Werkmeister, und der Maschinist der Großen Oper versteht mehr als er. ›Noch nicht genug der Anzüglichkeiten?‹ sagt ihr; ›jetzt kommt er gar mit Anzüglichkeiten gegen den lieben Gott.‹ Was wollt ihr! ist er doch recht eigentlich ein Beamter, und ein hoher Beamter dazu, nur daß seine Ämter keine Sinekure sind. Aber ich habe keine Angst, er werde hingehen und mich wegen des Schadens, den ich seiner Ehre beigebracht, auf Schadenersatz belangen, um von dem Geld eine Kirche bauen zu lassen. Ich weiß wohl, daß Staatsanwälte empfindlicher im Hinblick auf seine Reputation sind als er selbst; aber das gerade finde ich nicht in Ordnung. Kraft welchen Titels maßen sich diese schwarztalarigen Menschen das Recht an, Beleidigungen zu rächen, die ihn höchst persönlich angehen? Haben sie eine ›Jehova‹ gezeichnete Vollmacht, die sie dazu befugt? Glaubt ihr, daß er so zufrieden ist, wenn das Zuchtpolizeigericht seinen Donner in die Hand nimmt und damit brutal Unglückliche zerschmettert, um nichts als ein Delikt von ein paar Silben? Wer beweist denn übrigens diesen Herren, daß Gott beleidigt worden ist? Hier ist er, an sein Kreuz geheftet, während sie, ja, sie in ihren Richtersesseln sitzen: sollen sie ihn fragen! Wenn er es bestätigt, will ich unrecht haben. Wißt ihr, warum er die Dynastie der Kapetinger vom Thron gestoßen hat, diesen alten und erlauchten Königssalat, der mit so viel heiligem Öl angemacht war? Ich weiß es und will es euch sagen: weil sie das Gotteslästerungsgesetz gemacht hat. Aber das steht hier nicht in Frage. Was heißt leben! Aufstehen, sich schlafen legen, frühstücken, mittagessen und am andern Morgen von vorn anfangen. Wenn man das vierzig Jahre geübt hat, ist es am Ende recht fade geworden. Die Menschen gleichen Zuschauern bei einem Schauspiel, welche Abend für Abend, die einen auf Sammetpolstern, die andern auf nackten Bänken, die Mehrzahl aber auf Stehplätzen, dasselbe Stück ansehen; alle gähnen bis zum Kieferverrenken, alle sind sich einig, daß all das todlangweilig ist, daß sie viel besser in ihren Betten lägen, aber nichtsdestoweniger will niemand seinen Platz aufgeben. Leben – ist es die Mühe wert, auch nur die Augen zu öffnen? Alle unsere Unternehmungen sind nichts weiter als Anfänge; das Haus, das wir bauen, ist für unsere Erben; der Schlafrock, den wir uns mit Liebe auswattieren lassen als Hülle unseres Alters, wird als Wickeltücher für unsere Enkel seine Verwendung finden. Gerade sagen wir: ›Nun ist der Tag zu Ende‹; wir zünden unsere Lampe an; wir schüren unser Feuer; wir sind drauf und dran, einen wohligen und friedlichen Abend an unserm Kamin zu verbringen: pang! pang! klopft jemand an die Tür. Wer ist da? Der Tod: scheiden heißt es. Wenn wir alle Gelüste der Jugend haben und unser Blut voller Saus und Braus ist, besitzen wir keinen Taler; wenn wir keine Zähne mehr haben, keinen Magen, sind wir Millionäre. Wir haben kaum die Zeit, zu einer Frau zu sagen: ›Ich liebe dich!‹ Bei unserm zweiten Kuß ist sie eine alte Schachtel. Kaum sind die Reiche aufgerichtet, so stürzen sie wieder zusammen; sie gleichen jenen Ameisenhaufen, die arme Insekten mit großen Mühen in die Höhe führen; wenn nicht mehr als ein Strohhälmchen zu ihrer Vollendung fehlt, tritt sie ein Ochse mit seinem breiten Huf zusammen, oder ein Karrenrad fährt sie nieder. Das, was ihr die vegetabilische Hülle dieser Erdkugel nennt, sind tausend und aber tausend Leichentücher, die die Generationen übereinandergeschichtet haben. Alle die großen Namen, die im Munde der Menschen widerhallen, Namen von Hauptstädten, Monarchen, Feldherren, es sind nur tönende Scherben verfallener Reiche. Ihr tut keinen Schritt, ohne den Staub von tausend Dingen um euch aufzuwirbeln, die zerstört wurden, bevor sie vollendet waren. Ich bin vierzig Jahre und habe doch schon vier Berufe durchwandert: ich war Lehrgehilfe, Soldat, Schulmeister und bin nun Journalist. Ich habe auf dem festen Lande gelebt und auf dem Ozean, im Zelt und am Kamin, hinter Kerkergittern und im Freigebiete dieser Welt; ich habe gehorcht und befehligt; ich habe Augenblicke des Überflusses gehabt und Jahre des Elends. Man hat mich geliebt und gehaßt; man hat mir Beifall geklatscht und mir verächtlich den Rücken gekehrt. Ich bin Sohn gewesen und Vater, Liebhaber und Gatte; ich bin durch die Zeiten der Blumen gewandelt und durch die der Früchte, wie die Dichter es ausdrücken. In keinem dieser wechselnden Zustände habe ich gefunden, daß ich mich sonderlich zu beglückwünschen hätte, in der Haut eines Menschen zu stecken statt in der eines Wolfs oder Fuchses, statt in der Muschel einer Auster, in der Rinde eines Baumes oder in der Schale einer Kartoffel. Vielleicht wenn ich Rentier wäre, Rentier mit fünfzigtausend Francs besonders, würde ich anders denken. Einstweilen habe ich die Meinung, daß der Mensch eine Maschine ist, die ganz ausdrücklich für den Schmerz geschaffen wurde. Er hat nur fünf Sinne zur Wahrnehmung der Lust, während der Schmerz im ganzen Umkreis seiner Körperoberfläche ihm vermittelt wird: wo man ihn sticht, blutet er; wo man ihn brennt, zieht er Blasen. Die Lungen, die Leber, die Eingeweide können ihm nicht den geringsten Genuß bereiten: nichtsdestoweniger entzündet sich die Lunge und macht ihn husten; die Leber verstopft sich und macht ihm Fieber; die Eingeweide verlagern sich und machen ihm Kolik. Ihr habt keinen Nerv, keinen Muskel, keine Sehne im Leibe, die euch nicht vor Schmerz schreien machen könnten. Euer Organismus gerät alle Augenblicke in Unordnung wie eine schlechte Uhr. Ihr hebt eure Augen zum Himmel, um ihn anzuflehen: ein Schwalbendreck fällt hinein, der sie erblinden läßt. Ihr geht zu Balle: eine Fußverrenkung packt euch am Bein, und man muß euch auf einer Matratze nach Hause tragen. Heute seid ihr ein großer Schriftsteller, ein großer Philosoph, ein großer Dichter: ein Gehirnfäserchen reißt; man hat euch gut zur Ader lassen, euch Eis auf den Kopf legen, morgen seid ihr nur noch ein armer Narr. Der Schmerz lauert hinter allen euern Freuden; ihr seid Naschmäuse, die er mit etwas duftendem Speck für sich ködert. Ihr wandelt im Schatten eures Gartens und ruft aus: ›O die schöne Rose!‹ Die Rose aber sticht euch. ›O die schöne Frucht!‹ Es ist eine Wespe darin, und die Frucht verwundet euch. Ihr sagt: ›Gott hat uns geschaffen, ihm zu dienen und ihn zu lieben.‹ Das ist nicht wahr. Er hat euch geschaffen, zu leiden. Der Mensch, der nicht leidet, ist eine mißglückte Maschine, ein mißlungenes Geschöpf, ein moralischer Krüppel, eine Fehlgeburt der Natur. Der Tod ist nicht nur das Ende des Lebens, er ist auch das Heilmittel dagegen. Man ist nirgends so gut aufgehoben als in einem Sarg. Wenn ihr mir glauben wollt, so bestellt euch statt eines neuen Paletots einen Sarg. Es ist der einzige Rock, der euch nicht unbequem sitzt. Was ich euch da gesagt habe, mögt ihr für eine philosophische Idee oder ein Paradox halten, mir gilt es gleich. Nur als Vorrede wenigstens bitte ich euch es hinnehmen zu wollen; denn ich wüßte nicht, eine bessere und für diese traurige und wehmütige Geschichte passendere zu machen, die ich nun die Ehre habe euch zu erzählen. Ihr werdet mir erlauben, meine Geschichte zwei Generationen vor unserer Zeit beginnen zu lassen, wie die eines Fürsten oder Helden, dessen Leichenrede man hält. Ihr werdet dabei schwerlich etwas verlieren. Die Bräuche jener Zeit können sich recht wohl mit denen der unseren messen: das Volk trug Ketten; aber es tanzte darin und wußte ihrem Rasseln etwas von Kastagnettenklang zu geben. Denn – es ist schon wahr – der Frohsinn geht immer mit der Knechtschaft. Er ist ein Gut, das Gott, der große Ausgleicher, recht eigentlich für die geschaffen hat, die unter der Botmäßigkeit eines Herrn oder der harten und schweren Hand der Armut stehen. Dieses Gut, er hat es als Trost für ihr Elend geschaffen, wie er gewisse Kräuter geschaffen hat, um zwischen den Pflastersteinen zu blühen, die man mit Füßen tritt; oder gewisse Vögel, um auf allen Türmen zu singen; wie er das schöne Grün des Efeus geschaffen hat, um über grinsenden Ruinen zu lächeln. Der Frohsinn eilt, wie die Schwalbe, über die großen glänzenden Dächer hinweg. Aber in den Höfen der Schulen, am Tor der Kaserne, auf den verwitterten Steinplatten der Gefängnisse läßt er sich nieder. Wie ein schöner Schmetterling setzt er sich auf die Feder des Schülers, der seine Aufgabe kritzelt; er stößt in der Soldatenschenke mit den alten Grenadieren an; und nie singt er so laut – wenn man ihn überhaupt singen läßt – als zwischen den schwarzen Mauern, wo man Unglückliche einsperrt. Übrigens ist der Frohsinn des Armen eine Art Stolz. Ich bin arm gewesen unter den Ärmsten; nun wohl, ich fand ein Vergnügen darin, zum Schicksal zu sagen: ›Ich werde mich doch nicht beugen unter deiner Hand, ich werde mein hartes Brot ebenso stolz essen wie Fabricius, der Diktator, seine Rüben; ich werde mein Elend tragen wie Könige ihr Diadem; triff mich, sooft du willst, schlag nur zu: ich werde auf deine Schläge mit Spott antworten; ich werde wie ein Baum sein, der weiterblüht, wenn man mit der Axt an ihn geht; wie die Säule, deren bronzener Adler in der Sonne glänzt, während schon...


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