Thomas Der achte Zwerg
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-89581-263-7
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ross-Thomas-Edition
ISBN: 978-3-89581-263-7
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Deutschland, 1946: zerstörte Gebäude, Besatzungsmächte, Schwarzmarkt, Entnazifizierung und untergetauchte Kriegsverbrecher. Minor Jackson hat gerade den Zweiten Weltkrieg überstanden, als ihm 'der Zwerg' Nicolae Ploscaru, kleinwüchsiger rumänischer Adeliger, Genie und gewohnheitsmäßiger Lügner, einen 'fast legalen' Job anbietet: er soll den verlorenen Sohn einer jüdischen Familie aufspüren. Doch was wie eine harmlose Familienzusammenführung klingt, wird zu einem Wettlauf quer durch die Besatzungszonen denn der verlorene Sohn entpuppt sich als professioneller Killer, an dem verschiendene Geheimdienste Interesse haben, Jackson und Ploscaru versuchen, die verschiedenen Gruppen gegeneinander auszuspielen aber kann Jackson dem Zwerg trauen?
Ross Thomas (1926-1995) war ein amerikanischer Autor und Journalist. In den fünfziger JAhren richtete er das deutsche AFN-Büro in Bonn ein und arbeitete als Journalist, Gewerkschaftssprecher und Public Relations- und Wahlkampfberater für Politiker in den USA. Seine vielfältigen Erfahrungen verarbeitete er in seinen Politthrillern, in denen er v.a. die Hintergründe des (amerikanischen) Politikbetriebs entlarvt und bloßstellt. Ihm wurde zweimal der Edgar Allen Poe Award und mehrmals der Deutsche Krimi Preis verliehen.
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1 Während des Krieges hatte Minor Jackson beim Office of Strategic Services1 gedient. Vor allem in Europa, aber vier Monate vor Kriegsende hatte man ihn noch nach Burma geflogen. Burma hatte ihm nicht sehr gefallen, die Dschungel auch nicht, und das, was er darin zu tun hatte, schon gar nicht, aber nun, seit der Krieg und das OSS Vergangenheit waren, hatte Jackson sich schon beinahe dazu entschieden, nach Europa zurückzukehren, denn er vermutete, daß sich dort auf die eine oder andere Weise Geld machen ließ. Vielleicht sogar viel Geld. Ob Jackson im Frühherbst 1946 nach Europa zurückkehren würde, hing zum Großteil davon ab, was der Zwerg hatte organisieren können. Jackson wartete nun in der Green Gables Cocktail Lounge auf La Cienega, gleich am Santa Monica Boulevard; und wie üblich kam der Zwerg zu spät. Jackson hatte mit seinen zweiunddreißig – tatsächlich fast dreiunddreißig – während des Krieges das Warten gelernt und war leicht überrascht gewesen, als er feststellte, daß der Krieg zu neunzig Prozent aus Warten bestand. Und obwohl der Zwerg fast fünfundvierzig Minuten zu spät war, saß Jackson geduldig da, ohne hibbelig zu werden, und fläzte sich fast in dem tiefen Sessel an dem niedrigen Tisch. Er hatte sein Bier langsam getrunken, damit es länger hielt, und sein Glas war noch immer halb voll. Zum Zeitvertreib konnte er einem erbitterten Streit am Nebentisch zuhören. Der Streit – in wütendem Flüsterton – dauerte nun beinahe schon so lang, wie Jackson wartete. Die Streitenden waren ein junges Pärchen, und zunächst war es um Geld gegangen – oder vielmehr um dessen Mangel – und um die nachlässige Art, mit der die junge Frau mit dem wenigen, was da war, umging. Aber nun hatte sie einen tückischen, vernichtend intimen Gegenangriff gestartet und als Waffe die sexuelle Unzulänglichkeit des Mannes gewählt. Da Jackson so neugierig wie jeder andere war, eigentlich sogar etwas neugieriger, drehte er sich etwas in seinem Sessel – eine beiläufige Bewegung, die ihm, wie er hoffte, einen kurzen, unbemerkten Blick auf das Opfer erlaubte. Der junge Mann saß mit gesenktem Kopf da, biß sich auf die Lippen und lauschte seiner Verdammung, die wegen des sanften Flüsterns, in dem sie vorgebracht wurde, noch schlimmer zu ertragen sein mußte. Er war auch recht blaß, allerdings war er bestimmt rosa oder sogar blutrot angelaufen, als die junge Frau ihren Angriff begann. Er sieht aus, als ob er leicht rot wird, dachte Jackson. Die junge Frau war etwa in seinem Alter, und obwohl sie viel weniger als schön war, war sie doch mehr als nur hübsch. Allerdings hatte Jackson nicht damit gerechnet, daß sie auch so eine gute Beobachtungsgabe hatte. Sie bemerkte seinen forschenden Blick beinahe sofort und brach ihre geflüsterte Anklage ab, um ihm einen wütenden Blick zuzuwerfen und zu fordern: »Was guckst du so, Opa?« Jackson zuckte mit den Schultern. »Ich wollte sehen, wo er blutet.« Wäre das »Opa« nicht gewesen, hätte er bei seiner Antwort vielleicht gelächelt oder gegrinst. Jacksons Haar war grau – eigentlich sogar fast weiß –, und obwohl er schon oft darüber nachgedacht hatte, hielt ihn eine Art von umgekehrtem Stolz oder Eitelkeit davon ab, es zu färben. Manchmal, wenn er darauf angesprochen wurde – meist von Frauen –, behauptete er, es sei während des Krieges über Nacht ergraut, als er mit einem romantisch geheimnisvollen Auftrag des OSS unterwegs war. In Wahrheit hatte er mit dreiundzwanzig begonnen, grau zu werden. Nach Jacksons Spruch stand der junge Mann abrupt auf. Dabei stieß er versehentlich sein Bier um, das den Tisch überschwemmte und sogar auf sein Club-Sandwich schwappte. Etwas Farbe war wieder in seine Wangen zurückgekehrt. Seine Lippen begannen zu arbeiten, wie er so dastand. Erst zitterten sie ein wenig, aber schließlich brachte er es heraus: »Du bist wirklich ein gemeines Miststück, was, Diane?« Da es sich eindeutig nicht um eine Frage handelte, wartete der junge Mann auch nicht auf eine Antwort. Statt dessen drehte er sich um und stürmte an den Tischen vorbei zu den drei mit Teppich ausgelegten Stufen, die nach unten ins Foyer der Cocktail Lounge führten. Die junge Frau starrte ihm ein oder zwei Sekunden hinterher, während sich nun ihre Lippen bewegten, als ob sie lautlos einige nicht gesagte Zeilen probte. Dann blickte sie auf den Tisch mit seinen zwei unverzehrten Sandwiches und dem verschütteten Bier. Sie schien sich das Chaos so sorgfältig einzuprägen, als ob sie es später aus der Erinnerung malen wollte. Schließlich schaute sie zu Jackson hoch. Er sah, daß ihr Zorn verflogen, vielleicht in einem Geheimversteck zur möglichen Wiederverwendung verstaut worden war. Sie trug einen neuen Gesichtsausdruck, eine Art leicht verwirrter Unehrlichkeit. »Und wer bezahlt den Mist hier?« fragte sie. Jackson wiegte den Kopf. »Gute Frage«, sagte er. Sie sprang auf und schoß geradezu durch die Tischreihe auf die Stufen zu. »He, Johnny, warte!« rief sie. Aber Johnny war schon lange weg. Sie stürzte eilig die Stufen hinunter, hielt Ausschau nach Johnny und achtete nicht im geringsten darauf, wohin sie lief. Auf der letzten Stufe rannte sie Nicolae Ploscaru um, den Zwerg. Der Zwerg hatte keinen weiten Weg zu Boden, trotzdem fiel er hart und landete unsanft auf seinem Hintern. Die Frau blickte auf ihn hinab, sagte »O Scheiße« als Entschuldigung und eilte hinter dem verschwundenen Johnny aus der Tür. Niemand erbot sich, dem Zwerg auf die Beine zu helfen. Er schien es auch nicht zu erwarten. Langsam, mit bemerkenswerter Würde, stand er auf und klopfte nachdenklich die Hände aneinander ab. Anschließend schüttelte er leicht angewidert den großen Kopf und machte sich wieder daran, die drei Stufen zu erklimmen, wobei er wegen seiner kurzen, leicht nach außen gebogenen Beine eine nach der anderen nahm. Ploscaru bahnte sich den Weg durch die Tischreihe bis zu Jacksons Platz. »Ich bin zu spät, ich weiß«, sagte er und hievte sich mit einer geübten Mischung aus Hüpfen und Drehen in den niedrigen Sessel. »Daran bin ich gewöhnt«, sagte Jackson. »Ich habe keinen Führerschein«, sagte der Zwerg, als enthülle er ein langgehegtes Geheimnis. »Wer in dieser Stadt nicht selbst fährt, kann sich darauf verlassen, zu spät zu kommen. In New York habe ich die U-Bahn genommen und war fast immer pünktlich. Ich frage mich, warum es hier keine U-Bahn gibt.« Der Zwerg hatte einen deutlichen rumänischen Akzent, vermutlich weil er sein Englisch erst recht spät im Leben gelernt hatte, lange nach dem Französischen, das er praktisch ohne jeden ausländischen Akzent sprach, und nach seinem ebenso perfekten Deutsch. Zu Beginn des Krieges, 1940 und ’41, hatte Ploscaru für den britischen Geheimdienst in Bukarest gearbeitet – oder vielmehr für zwei englische Spione, die sich als Korrespondenten von ein paar Londoner Tageszeitungen ausgaben. Einer der beiden, so hatte Ploscaru Jackson einmal erzählt, war ziemlich kompetent, aber der andere, der völlig aus dem Häuschen war, weil ein Theaterstück von ihm in London aufgeführt wurde, hatte sich als ziemliche Niete herausgestellt. Als die Deutschen im Frühjahr 1942 schließlich in Rumänien einfielen, war der Zwerg in die Türkei geflohen. Von dort aus hatte er sich nach Griechenland durchgeschlagen und von Griechenland irgendwie nach Kairo, wo er angeblich den Rest des Krieges verbrachte. Auch wenn Ploscaru es nie zugab, vermutete Jackson, das sich der Zwerg in die Vereinigten Staaten hatte schmuggeln lassen, vermutlich vom Army Air Corps. Zumindest sprach der Zwerg immer in den wärmsten Tönen vom Air Corps, trotz allem, was es Ploesti angetan hatte. »Willst du was trinken?« sagte Jackson. »Hast du gesehen, wie die mich umgerannt hat? Sie ist nicht mal stehengeblieben.« »Sie hat auch nicht für ihren Lunch bezahlt.« Der Zwerg nickte mürrisch, als ob er so etwas schon erwartet hatte. Der große Kopf, mit dem er nickte, war beinahe schön, wäre nicht etwas zuviel Kinn gewesen. »Einen Martini«, beantwortete er schließlich Jacksons inzwischen angegraute Frage, »ich glaube, ich nehme einen Martini.« »Noch immer ein Barbar.« »Ja«, sagte der Zwerg. »Genau.« Jackson winkte einen Kellner herbei, der herüberkam und mit den Händen auf den Hüften dastand, ein düsterer Ausdruck auf seinem Gesicht, als er den Lunch betrachtete, den das junge Pärchen weder gegessen noch bezahlt hatte. Der Kellner war jung, geschwätzig und etwas verweichlicht. Er warf Jackson einen wissenden Blick zu. »Na, mir war das gleich klar, als sie reingekommen sind. Ihnen nicht?« sagte er. »Nein«, sagte Jackson, »mir nicht.« »Na, mir schon. Ist Ihnen nicht aufgefallen, wie eng ihre Augen zusammenstehen? Das ist ein todsicheres Zeichen für einen Schnorrer – na ja, fast, zumindest. Möchten Sie noch ein Bier?« »Und einen Martini für meinen Freund hier.« »Extra trocken?« sagte...