Theorie als geheime Autobiographie
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-446-25010-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Einleitung
Der Einfall des Lebens: Mit diesem Titel treiben wir ein doppeltes Spiel. Einerseits stellen wir uns vor, dass das Leben der Theorie auflauert, in ihr Reich ›einfällt‹ und für Wirbel sorgt. Andererseits denken wir an Theoretiker, denen ihr Leben ›einfällt‹ wie eine zauberhafte Melodie oder eine fast vergessene Affäre. Der Einfall steht für Attacke und Impromptu. Man ist von ihm betroffen oder beschwingt, gestört oder hingerissen. Man wird vom Leben heimgesucht oder kostet es aus. Das Verhältnis zwischen Theorie und Leben ist eine Affäre mit Gefahren und Genüssen. Die meisten, die Theorie treiben, fassen das eigene Leben mit spitzen Fingern an und tun sich mit dem Reden und Schreiben darüber schwer. Viele Theoretiker reden gern über die Welt, wie sie ist, oder über das, was der Fall ist, aber ungern über sich. Sie sind wortgewaltig und wortkarg zugleich. Sie sehen ihre Aufgabe darin, Allgemeingültiges zu sagen und Persönliches auszublenden. Sie spannen ein engmaschiges Begriffsnetz und ziehen sich aus ihm zurück wie eine Spinne, die im Versteck auf Beute lauert. Sie wollen sich nicht selbst in der Sprache verfangen, die Beute, die ihnen ins Netz gehen soll, ist die Welt. Diese Zurückhaltung, diese Lauerstellung ist von vielen Theoretikern des 20. Jahrhunderts aufgegeben worden. Sie bringen in dramatischer, manchmal geradezu obsessiver Weise ihr eigenes Leben zur Sprache, hadern mit sich und mit dem »Ich«, machen die Autobiographie oder allgemein die Biographie zu einem großen Thema. In diesem Buch wollen wir die Wege abschreiten, die diese Theoretiker gebahnt haben, und zeigen, wie Möglichkeit und Unmöglichkeit der Theorie mit der autobiographischen Wendung der Theoretiker zusammenhängen. Es gibt zwei gängige Strategien, mit denen man dieses Verhältnisses zwischen Theorie und Autobiographie Herr zu werden sucht: die Strategien der Projektion und der Reduktion. Schlägt man sich auf die Seite der Projektion, dann sieht man in der Selbstinszenierung des Autors nichts als eine theoretische Fingerübung. Der Autor konstruiert sich selbst, er legt sich sein Leben zurecht, wie es seiner Theorie gefällt. Sein Ich ist ein Effekt, die Autobiographie wird zur Projektion der Theorie. Schlägt man sich dagegen auf die Seite der Reduktion, dann erscheint die Theorie, die ein Autor entwickelt, als Ausdruck privater Lebensnot oder -lust oder -kunst. Die Theorie wird auf Autobiographie reduziert. Eine Pointe dieses Buches liegt darin, dass wir die Strategien der Projektion und der Reduktion gleichermaßen zurückweisen. Wir halten ebenso wenig davon, das »Ich« zum Kunstprodukt theoretischer Arbeit zu erklären, wie davon, die Theorie zum Nebenprodukt einer persönlichen Agenda zu erklären. Weder erklären wir den Lebensentwurf der Theoretiker, denen wir uns in diesem Buch zuwenden, zur abhängigen Variable ihrer theoretischen Prämissen, noch werfen wir den Blick durchs Schlüsselloch, um von deren persönlichen Lebensumständen auf theoretische Präferenzen zu schließen. Wir wenden uns vielmehr der Nahtstelle zwischen Leben und Schreiben zu, wir analysieren die Schwellensituation, in der sich diejenigen befinden, die immer aufs Neue mit sich zurechtkommen wollen, die sich über sich und die Welt verständigen. Wir treffen auf diejenigen, die Mensch sind und Theoretiker werden, oder auf diejenigen, die in der Theorie zu Hause sind und dabei zugleich versuchen, sich selbst zur Sprache zu bringen. Uns interessiert die Frage, wie sich Theorie und Autobiographie wechselseitig erhellen: Wie spiegeln sich allgemeine theoretische Einsichten in Autobiographien – und umgekehrt? Und warum bringen die Theoretiker überhaupt sich selbst ins Spiel und brechen das Schweigen über das eigene Leben? Wenn sie dieses Schweigen brechen, so brechen sie auch mit dem Gesetz, das im Reich des Geistes über viele Jahrhunderte weithin gegolten hat: dass nämlich die Denker ihre Stimme erheben, jedoch nicht in eigener Sache sprechen, dass sie so tun sollten, als ginge es nicht um sie, als gäbe es sie eigentlich gar nicht. Als David Hume seine Essays »Vom Geld« und »Von der Vielehe und der Scheidung« veröffentlichte, erwartete niemand Auskünfte über dessen eigenes Vermögen und Paarungsverhalten. Als Johann Gottlieb Fichte vom »Ich« (und vom »Nicht-Ich«) sprach, trat er nicht als professoraler Egomane auf, sondern meinte das »Ich« in uns allen. Als Émile Durkheim den Selbstmord analysierte, redete er sich nicht um Kopf und Kragen. Als Max Weber in der berühmten »Zwischenbetrachtung« seiner religionssoziologischen Aufsätze den »erotischen Rausch« und die »Grenzenlosigkeit der Hingabe« beschwor, tat er dies in unerregter Sachlichkeit. Als Henri Bergson über das Lachen schrieb, ging es ihm nicht um seine gute Laune. Bevor das eherne Gesetz theoretischer Anonymität im 20. Jahrhundert massenhaft gebrochen wurde, gab es eine mehr oder minder friedliche Arbeitsteilung zwischen der akademischen Orthodoxie, die diesem Gesetz folgte, und einigen Einzelgängern und Außenseitern, die es sich doch nicht nehmen ließen, über das eigene Leben zu sprechen. Montaigne sagte: »Ich liebe Regen und Schlamm, wie die Enten.« Rousseau erzählte vom Zusammenprall mit einer »großen dänischen Dogge«. Kierkegaard ließ seine Leser wissen, er sei »auf wahnsinnige Weise erzogen« worden und habe sich »von Kindheit an […] in der Gewalt einer ungeheuerlichen Schwermut« befunden. Nietzsche teilte mit, dass er keine Zwischenmahlzeiten zu sich nehme und auf Kaffee verzichte, weil dieser »verdüstere«. Freud geriet bei der Traumdeutung tief in den eigenen Seelenhaushalt hinein: »Mit der Mitteilung meiner eigenen Träume […] erwies sich als untrennbar verbunden, dass ich von den Intimitäten meines psychischen Lebens mehr Einblicke eröffnete, als mir lieb sein konnte.«1 Von alldem wollten die akademischen Denker rein gar nichts wissen. Man könnte sagen: Die Beziehungskrise zwischen akademischen Denkern und Außenseitern gipfelt im Streit um die Schreibweise eines einzigen Buchstabens, nämlich darum, ob es »Ich« oder »ich« heißen soll. Wer für Kleinschreibung plädiert, benutzt das Personalpronomen »ich«, also auf gut Deutsch: ein Fürwort. Es steht für einen bestimmten, einzelnen Menschen. Wer »ich« schreibt, will und darf auch über sich reden. Anders sieht die Sache aus, wenn man aus dem Pronomen ein Nomen macht – oder aus dem Fürwort das, was früher im Deutschunterricht Hauptwort hieß. Dann lanciert man ein Substantiv – »das Ich« – und macht es zum Subjekt im Satz. Dieses »Ich« sträubt sich gegen Personalisierung, es hat keine Hautfarbe, keine Lieblingsspeise, keinen Liebeskummer. Als Hauptwort genügt es sich selbst, es signalisiert: Ich bin die Hauptsache. Nicht das kleingeschriebene »ich«, sondern das großgeschriebene, verselbständigte »Ich«, das aus den Niederungen des Lebens emporgestiegen ist, ist von den akademischen Denkern geduldet oder gar gefeiert worden. Wohlgemerkt: Auch unter diesen akademischen Denkern fanden sich solche, die den coup de force wagten, den Abbruch des Alten und den Anbruch des Neuen betrieben. Dass es auf sie ankam, dass sie auf sich allein gestellt waren, war ihnen akut bewusst. Wie sie dieses Bewusstsein zum Ausdruck brachten, das stand auf einem anderen Blatt – oder eben auf gar keinem Blatt, wenn ihre Theorie sich denn wortlos über das kleingeschriebene »ich« erhob. Zwischen akademischen Denkern und Außenseitern klaffte ein garstiger Graben. Hüben und drüben wurde jeweils anders geschrieben und gedacht. Die versteckte Gemeinsamkeit, das geteilte Bewusstsein ihrer besonderen Rolle führte dazu, dass der Graben, der sie trennte, tief war – und doch nur ganz schmal. So hatten Vertreter beider Seiten die Gelegenheit zum Austausch, gewissermaßen zu einem Händedruck mit Schwindelgefühl. Die berühmteste Begegnung dieser Art war wohl diejenige zwischen Rousseau und Kant. »Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich.« So schrieb Rousseau am Anfang seiner Bekenntnisse. »De nobis ipsis silemus«, »Von uns selbst schweigen wir« – diesen Satz Francis Bacons stellte Kant als Motto der Kritik der reinen Vernunft voran.2 Und doch reichte Kant, der große Schweiger, dem redseligen Franzosen die Hand zum Gruß und schrieb: »Rousseau hat mich zurecht gebracht.«3 Kants Lob galt Rousseaus Feier der Freiheit, doch dass für Rousseau zu dieser Freiheit gehörte, frei von sich zu sprechen und sich als Individuum zu entblößen, war aus Kants Sicht unnötig oder abwegig. So sind Akademiker und Außenseiter als fremde Freunde oder auch als fremde Feinde nebeneinander her durch die Zeiten gewandelt. Der akademische Denker thronte auf seinem Hochsitz und genoss die Aussicht auf die Welt. Er war reines Auge, reiner Geist. Der Außenseiter fühlte sich unwohl auf diesem Hochsitz, stieg herab vom Gerüst und fand es vielleicht morsch. Er wehrte sich gegen die Lebenslüge der Theorie, dagegen, dass das schreibende Individuum spurlos in der Schrift verschwand. Ende des 19. Jahrhunderts lancierte Wilhelm Dilthey einen einflussreichen Versuch, diese Spaltung zu überbrücken, also Theorie und Autobiographie zu versöhnen. Er behauptete, dass wir eigentlich immer das Gleiche tun, ob wir nun Theorie treiben oder eine Autobiographie schreiben. Auf der einen Seite haderte Dilthey mit der grauen Theorie des Rationalismus und verpflichtete die Philosophie auf die Aufgabe, die historische Totalität der Lebenszusammenhänge zu erschließen: »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches...