E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Theroux Der Fremde im Palazzo d'Oro
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-455-81347-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-455-81347-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paul Theroux, geboren 1941 in Medford, Massachusetts/USA, ist mit mehr als dreißig veröffentlichten Büchern einer der weltweit populärsten US-Gegenwartsautoren. Als Reiseschriftsteller erlangte er Weltruhm. Theroux ist seit 2013 Mitglied der American Academy of Science and Arts. Er lebt mit seiner Familie auf Hawaii und auf Cape Cod. Bei Hoffmann und Campe erschien zuletzt sein Sachbuch Auf dem Schlangenpfad. Als Grenzgänger in Mexiko (2019).
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Eine Schlange kroch an [...]
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Über Paul Theroux
Impressum
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Dies ist meine einzige Geschichte. Jetzt, mit sechzig, kann ich sie erzählen.
Vor Jahren, als Taormina noch ein Dorf war, das aufgrund der Hitze von den Touristen im Sommer gemieden wurde, zog es mich gerade wegen dieser Hitze an den Ort, wo D.H. Lawrence eines seiner besten Gedichte geschrieben hatte. Bei einem Spaziergang durch die steilen, von alten Steinhäusern und blühenden Sträuchern gesäumten Altstadtgassen blieb ich begeistert vor dem Palazzo d’Oro stehen – ich hatte nämlich ein Faible für schwelgerische, verheißungsvolle Namen. Hinter den vergoldeten Gesichtern im schmiedeeisernen, von scharfen Spitzen gekrönten Tor entdeckte ich auf der Terrasse eine goldblonde Frau und einen Mann mit einer eleganten Hakennase – ein hübsches Paar. Sie trugen weite weiße Kleidung und genossen ein ausgiebiges Mittagessen, wie es in Italien üblich ist. Ich stellte mir vor, wie es wäre, an ihrem Tisch zu sitzen, und dachte: Ich will euer Leben leben – ein neidischer Wunsch, von dem ich noch nicht wissen konnte, dass er meinen eigenen Untergang beschwor.
Ich hatte meine Launen immer mit meiner angeblichen Armut gerechtfertigt, die unweigerlich zu bestimmten Handlungen und Verhaltensweisen führe. In Wahrheit liebte ich das Risiko. Ich hätte mich schämen sollen, nicht, weil ich mich schlecht benommen hätte, sondern weil ich vieles für mich behielt und selten die Wahrheit sagte. Es machte mir Spaß, Geheimnisse zu hüten und Lügengeschichten zu erfinden. Zu meinen Lügen gehörte die Behauptung, ich sei arm.
Die Welt kennt mich und feiert mein Werk. Meine Gemälde, in denen mein gesamtes rastloses Leben festgehalten ist, sind wie gute Taten, sie kommen dem pharaonischen »Bekenntnis der Sündenlosigkeit« nahe – einer negativen Beichte: all die anstrengenden Reisen, die eigenen Entdeckungen, die immer wieder triumphale Heimkehr. Zu einer Zeit, als berühmte Maler zu Hause blieben, mit Farbe herumspritzten, mit dem Rechenschieber Proportionen bestimmten, Federn und Tonscherben auf Leinwände klebten, Streifen und Kreise malten oder gleich gigantische einfarbige Bilder, reiste ich in ferne Länder und porträtierte die Menschen, die ich dort antraf, in ihren ureigenen Landschaften – schlichte, freundliche Menschen, ausschließlich Eingeborene in den natürlichsten Posen. Ich musste für diese Bilder viel Kritik einstecken, besonders in der Presse, wo man mir die starke Linienführung vorhielt, die Klarheit der Figuren, die seitlichen, verschämten Blicke. Tatsächlich geht es darum, dass ich mit meiner Arbeit sehr gut verdient habe. Denn meine Förderer und Sammler sind immer wieder mit mir auf Reisen gegangen, ich habe sie – all meinen Kritikern zum Trotz – mit meinen Bildern in exotische Landschaften geführt; in den zahlreichen Serien von signierten Lithographien – die , , , die geschlossene Erzählungen sind, weit mehr als Sammlungen einzelner Drucke – haben sie mich begleitet.
Wenn man mir vorhält, meine Gemälde seien zu »eingängig«, sage ich immer, dass meine Stärke im Erzählen liege. Was ich aber noch nie jemandem gesagt habe, ist, dass die findigsten Erzähler diejenigen sind, die eine bestimmte Geschichte meiden – und zwar die einzige, die ihnen selbst gehört. Statt sie anzurühren, erzählen sie von anderen, aufregenderen Dingen. Die Quelle des phantastischen Erzählens ist oftmals dieses Geheimnis. Der Phantast verbirgt, um auf die Wahrheit zu deuten, er umspielt die eigentliche Geschichte und weicht ihr immer wieder aus. Manchmal ist es nicht das Abwegige, das verwirrt, sondern die unübersehbare Zahl der Möglichkeiten. Dies ist – wie gesagt – meine einzige Geschichte.
Für einen Reisenden, der ich immer gewesen bin, wäre es ein Leichtes gewesen, noch einmal nach Taormina zurückzukehren. Doch obwohl ich immer wieder in Sizilien war, habe ich es nie getan. Ich widerstand der Versuchung und wusste doch, dass der Zeitpunkt kommen würde, und zwar mit meinem eigenen sechzigsten Geburtstag. Kein Alter, dachte ich eigentlich, nur die anderen sahen es nicht so.
An meinem fünfzigsten Geburtstag hatte ich ein Selbstporträt angefertigt, das vom Publikum – dem wachsamen Gesicht und der feinen Andeutung eines ruhelosen Blicks zum Trotz – als sanftmütig gepriesen wurde. Zehn Jahre waren seither vergangen. Der Sechzigste eignete sich kaum als Anlass für ein solches Selbstporträt. Stattdessen drängte es mich, noch einmal auf Reisen zu gehen, und zwar in dem Geist von damals. Wenn ich unterwegs war, konnte ich ein anderer sein – in diesem Fall, im Monat meines Geburtstags, der junge Mann, der ich mit einundzwanzig gewesen war, als ich mich im heißen Sommer 1962 in Sizilien wiederfand und von einem Mädchen zurückgewiesen wurde, das ich sehr mochte, Fabiola, eine Principessa. »Das bedeutet hier gar nichts!«
Mir allerdings bedeutete der Titel durchaus etwas. Ich war ihr aus Falconara und Urbino – ich liebte diese Namen – bis Palermo gefolgt. Da sie aber Sizilianerin war, durfte sie nicht mit mir gesehen werden, es sei denn, wir wären – zumindest annähernd – verlobt. Ich musste sie zu meiner machen, ich musste ihr sagen, dass ich sie liebte. Ansonsten sei sie eine Schlampe, sagte sie. Vielleicht ahnte sie, dass ich es nicht sehr ernst meinte. Ich war ein etwas frecher, viel zu junger Amerikaner (Fabiola war dreiundzwanzig), der das Italien von Fellini und Antonioni suchte und hungrig war nach neuen Erfahrungen. Ich erklärte ihr, ich sei Existenzialist – ein beliebtes Wort im Italien des Jahres 1962 –, es war die einfachste Möglichkeit, jegliche Verantwortung von sich zu weisen. Ich war beharrlich und voller Ungeduld, immer auf der Hut vor Menschen, die mir die Freiheit nehmen wollten, eine Eigenschaft, die mich zum Einzelgänger gemacht hatte. Fabiola hatte Romantisches im Sinn, sie verlangte Hingabe. , bettelten ihre Augen, . Für mich aber war Liebe eine Niederlage, Liebe war Tod. Ich schwor, dass mir das Wort niemals über die Lippen kommen würde.
Und dann lebte ich mein Leben, vierzig weitere Jahre lang. Es waren die wichtigen Jahre, die Jahre der Familie, der großen Anstrengungen, der Liebe und der Anerkennung, und es fehlte nicht an Enttäuschungen und Verlusten, an Hinweisen, dass vor meinem näher rückenden Tod noch Schlimmeres zu erwarten war.
Ich war wieder in Sizilien, ein Sechzigjähriger, der noch einmal die alten Wege ging, der die guten Hotels mied und nach den Spuren seines früheren Selbst suchte. Palermo war viel amerikanischer als damals – und freizügiger. Frauen benutzten Handys, Männer trugen Jeans, und selbst die Nonnen in ihren unförmigen Ordenskleidern hatten etwas sehr Weltliches. Ich rief Fabiola an. Die einzige Nummer, die ich von ihr hatte, war ungültig, im Telefonbuch stand sie nicht. Ich streifte umher, suchte nach Vergangenem und entdeckte kaum etwas, das mit dem anspruchslosen Jungen, der einst so unbeschwert durch Sizilien gereist war, in Zusammenhang stand.
Ich nahm den Zug nach Messina, von dort den Express nach Catania. In Taormina-Giardini stieg ich aus, ging zu Fuß in die Oberstadt hinauf, wie ich es vor Jahren getan hatte. Ich nutzte die Gelegenheit, mein Gedächtnis zu prüfen. Ich fertigte in Gedanken kleine Skizzen an und redete leise mit mir selbst, wie es meine Angewohnheit ist, wenn ich einer Erinnerung nachspüre.
Hotels halten sich besser als Restaurants. Der Palazzo d’Oro an der Via Roma erlebte, obschon er von neueren und renovierten Häusern umgeben war, eine Art späte Blüte. Zufrieden stellte ich fest, dass es schön sein könnte, noch einmal dort abzusteigen, in den alten Erinnerungen zu schwelgen, mich ernsthaft dem Zeichnen zu widmen und meine Geschichte aufzuschreiben – wodurch der Aufenthalt eine besondere Bedeutung, sogar etwas Zeremonielles erhalten würde, ein Ritual des Gedenkens an all die Jahre, die seither vergangen waren.
Ich ging zum Pool, einem neuen Pool, und sah dort ein Mädchen mit kurzem, von der Sonne gebleichtem Schopf, das oben ohne ausgestreckt auf einer gestreiften Liege lag. Ihre Brüste waren klein und fest, sie war höchstens siebzehn Jahre alt. So lag sie da: mit geöffneten Schenkeln, die Hände hinter dem Kopf, eine aufblitzende Balthus-Phantasie, die endete, als sie ihr Knie umfasste und die Beine anzog. Sie wandte sich ab und zupfte wie ein elfisches, zwischen Unschuld und Verruchtheit schwankendes Wesen – oder ein gelangweilter Teenager – an ihrem goldenen Bikinihöschen. Der Anblick brachte mich beinahe um den Verstand. Ich starrte, sie hatte mich noch nicht entdeckt, ich konnte mich kaum losreißen von den kleinen Brüsten, den hellen Knospen, die ihr den Anschein von Unschuld verliehen.
Ein Hoteldiener kam, er trug ein langes Gewand und ein weißes Käppchen, der Araber, der des Palazzo d’Oro also, führte mich schließlich an ihr vorbei.
Das sonnenbadende Mädchen griff nach seinem Glas und trank eine pinkfarbene Flüssigkeit. Ich bewunderte die pulsierende Bewegung ihrer Nackenmuskeln, die schlanke Kehle, die sich mit jedem Schluck neu füllte. Ich stellte mir vor, dass sie mich über den Rand des Glases hinweg beobachtete.
1962 war ich von der Via Fontana Vecchia zurückgekehrt, wo Lawrence gewohnt hatte und, so vermutete ich, sein wunderschön trauriges Gedicht, eine Selbstanklage, geschrieben hatte, und war an...